NAPOLEONS RABE
Eifeler Heimatballade aus der Franzosenzeit 1812/13
VON ERNST KARL PLACHNER
Als der große Korse nach Rußland zog,
ein krächzender Rabe mit ihm flog.
Sie sahen ihn nicht, sie hörten ihn nicht,
sie waren besessen von Zuversicht.
Aus halb Europa das riesige Heer
brach wie ein Sturm über Rußland her.
Doch wo einer ging und ritt oder stritt,
der schwarze Rabe flog krächzend mit.
Napoleon saß im fürstlichen Zelt,
verteilte im Geist schon die ganze Welt.
Der Herbstwind über die Steppe saust,
da sagt es einer: „Majestät, mir graust!
Ich hör jede Nacht jetzt das scheußliche Krächzen!“
Er lacht souverän: „Des Herbststurms Ächzen!“
Und er siegt und siegt. Ja, das ist sein Heer!
Doch der krächzende Rabeßog hinter ihm her.
Über Moskau lagert’s wie Todesschweigen.
Nun, er wird es dem Kaiser der Russen schon zeigen!
Napoleon lacht: „Einfürstlich Quartier!
Meine Herren, hier überwintern wir!
Und im nächsten Frühjahr, ein Tanz und ein Fest,
dann holen wir uns des Reiches Rest!“
Mit Trommeln und Pfeifen, mit Pauken, Trompeten
hat er das heilige Moskau betreten.
Wie? Keiner begrüßt ihn? Alles ist still.
O, das ist nicht, was ein Sieger will!
Die Stadt liegt da wie in stummem Sterben.
Da sagt es einer: „Mir träumte Verderben!
Verderben werden wir mitten im Sieg,
und ein Rabe krächzte: ,Lustiger Krieg!‘ „
Der Kaiser blickt zornig von seinem Pferde —
kalt hallt unterm Huftritt die Russenerdc.
Da flammt es vor seinen Augen auf,
dort, hier — hier, dort! Wer hemmt noch den Lauf
der Flammengirlanden an Dächern und Türmen! J
etzt springt ein Wind auf, beginnt es zu stürmen!
Zeichnungen:
Franz Steinborn
Befehle rasen, Soldaten jagen —
was hilft’s, in der Hölle ncch Wasser zu tragen!
Die Russen verbrennen selbst ihre Stadt,
daß Soldat und Kaiser kein Strohlager hat. •
Sie plündern zwischen den flammenden Mauern,
doch diesem und jenem beginnt es zu schauern.
Da sagt es einer: „Was ich auch habe,
mir ist, es krächzt über mir ein Rabe!“
Sie schleppen, ivas sie nur können, von hinnen.
„Was sollen wir mit dem Zeug nur beginnen?
Wie krächzt über uns der verdammte Rabe —
mir ist, wir graben am Massengrabe!“
stöhnt ein anderer, trunken in Flammen und Nacht,
und es krächzt ihm zu Häupten, hohnlacht und lacht.
Denn draußen, da warten schon Steppe und Eis,
die russische Erde weit, tödlich weiß.
Doch der „Unbesiegbare“ will nicht zurück.
Und kommt es freiwillig nicht, zwing t er das Glück.
Dann sieht auch er das schaurige Tier,
und er sagt nicht mehr: „Wir überwintern hier!‘4
Den Rückzug beßehlt er. Wohin nur? Wohin?
Ihm jagt schon ein neuer Plan durch den Sinn.
Er muß nach Paris! Laß sie durch sich schlagen!
Er denkt in Monden, in Jahren — nicht Tagen.
Er hat keine Zeit für das große Verderben,
er muß nach Parts, neue Truppen zu werben.
Da verläßt der Kaiser sein verlorenes Heer,
aber hinter dem Schlitten fliegt der Rabe her.
Und er sieht ihn und hört sein schaurig Gekrächze,
und er meint nicht mehr, daß der Herbststurm nur ächze.
Und der Rabe, der Rabe vielhundertfach,
krächzt über dem Heer ohne Herd und Dach.
Krächzt Schncesturm, Kosaken und Wölfe herbei
und hohnlacht, daß reiche Mahlzeit hier sei.
Verhungert, erfroren, von Lanzen durchstochen,
noch sterbend von Wolfsherden aufgebrochen,
in Höllenjammer, unsagbarem Weh
verwest des Großen große Armee ...
Sie schleppen sich truppweis durchs weite Land,
mit hölzernen Beinen, mit schlechtem Verband.
Es sind nur wenige übriggeblieben.
Da schleppen sich westwärts ihrer sechs, sieben.
Sie wollen ins Hohe Venn, die Ardennen.
Ob sie um zu Hause auch wohl noch erkennen?
Nach Trier will einer, nach Nürburg ein anderer,
nach Frankreich der siebte. Sind seltsame Wanderer.
Und die Straße ist lang. Und die Eifel ist arm.
Da hebt sich vom Felde ein Rabenschwarm.
Und sie fluchen: „Was will das verdammte Getier!
Wem gilt das Gekrächze? Dir oder mir?“
Die Raben kreisen über den sieben.
Vier sind auf der Straße liegengeblieben.
O Straße, hoch auf den Eifelbergen,
oft zogen auf dir schon des Schicksals Schergen!
Schon Kelten und Römer, germanische Streiter,
fromm-mutige Mönche — und hunnische Reiter,
Ragt mancher Kreuzrest am Straßenrand,
liegt mancher vergessen und unbekannt.
Drei kommen nach Haus von den armen sieben
drei sind von den sieben übriggeblieben.
Und von dem letzten Soldatengrabe
krächzt hinterdrein Napoleons Rabe.