Die Seelenfuhre
Eifeler Allerseelenballade von Ernst Karl Plachner
Allen Seelen, jeder Seele
folgt das Gute, folgt die Fehle;
ohne Güte, ohne Fehle
ist auf Erden keine Seele.
Drüben läßt sich nichts verhehlen,
ohne Ämter, Reichtum, Würden
wandern sie als arme Seelen,
alle schleppen ihre Bürden.
Bei dem Bier, dem Schnaps, dem Weine
rätseln sie im Wirtshaus lange.
„Kurz und bündig, was ich meine:
Keiner macht mich damit bange!“
ruft da einer, kippt im Zuge
seinen fünften Schnaps hinunter.
Immer lauter wirds im Kruge,
in der Kasse klingt es munter.
„Dummes Zeug!“ beginnt er wieder,
„Tot ist tot, das andre Lügen,
Pfaffenschwindel, Kinderlieder, –
mich soll keiner noch betrügen!“
Heftig springt er auf, der „Pitter“,
zahlt und geht. Er ist ein Hitzkopf.
Fleißig, aber wie Gewitter.
Manchmal ist er auch ein Witztopf.
Alle kennen ihn und jeder
weiß, man muß ihn lassen, immer
wenn er trinkt, zieht er vom Leder.
Keiner mag ihn darum hassen.
Nur der alte Niklas schüttelt
seinen greisen Kopf in Sorgen:
Den hats nicht genug gerüttelt,
doch das kommt – vielleicht schon morgen!
*
Morgen . . . morgen . . . übermorgen . . .
Tag vor Allerseelen morgen,
Allerseelen übermorgen . . .
das macht Pitter keine Sorgen.
Geht zur Messe, Predigt, ackert,
werkt im Haus, nimmts Maul nur voll,
hat sich immer abgerackert,
schwätzt nur manchmal halb wie toll.
Doch der Herrgott schaut in Tiefen
durch den Oberflächenschaum,
ruft die Tiefen, die sonst schliefen,
merkt der Schläfer es auch kaum.
Morgen . . . morgen . . . übermorgen . . .
Tag vor Allerseelen morgen,
Allerseelen übermorgen . . .
das macht Pitter keine Sorgen.
Holt die alte Kutsche raus,
und sein Schimmel muß sie ziehn.
Will mal wieder aus dem Haus
in die nahe Kreisstadt hin.
„Hot!“ Den Pferderücken streift er,
und die Peitsche knallt verwegen.
Übermütig singt und pfeift er, –
hat wohl einer was dagegen?
Niklas blickt just aus dem Fenster
hinterdrein und murmelt: „Toll!
Den, den fressen die Gespenster,
ist er nüchtern oder voll!“
Morgen . . . morgen . . . übermorgen . . .
Tag vor Allerseelen morgen,
Allerseelen übermorgen . . .
Das macht Pitter keine Sorgen.
*
Wacker trabt der Max, sein Schimmel.
Bis zur Stadt ists noch ein Stück,
und schon lischt der Farbenhimmel –
Pitter dreht sich, lauscht zurück.
Klangs ihm nicht in beiden Ohren:
„Nimm mich mit! He! Halt doch, Pitt!“
ja, er hätte drauf geschworen,
einer wollte gerne mit.
Lustig, wie die Hufe hämmern!
Noch ein neues Liedlein drauf.
Aber aus dem grauen Dämmern
schallt es neu zu ihm herauf:
„Nimm mich mit! He! Nimm mich mit!“
Mehr jetzt. Viele. Laut und leise.
„Nimm uns mit! He! Halt doch, Pitt!“
Pitter schimpft: „Wat für ne Reise!“
Peitschenknall. Der treue Max
geht ihm jetzt zu langsam. Zieh!
Hat die Karre einen Knax, –
was ist mit dem Pferdevieh?
Mit gestrafften Muskeln nur,
langsam, Schweiß auf seinem Felle,
zieht das Tier des Weges Spur
und kommt kaum noch von der Stelle.
Pitter dreht sich um: im Wagen
sitzen Männer, Weiber. Grau.
Nichts weiß er jetzt mehr zu sagen
vor der Allerseelenschau.
Wie aus Mondendunst gesponnen,
Nebeldunst im Eifelginster
sind die Leiber, ohne Sonnen,
farbenlos und manche finster.
Ja, wahrhaftig, den dort kennt er:
Jupp! .Der Kerl warf alle neune
– und noch manchen andern nennt er –
fiel sich tot vom Dach der Scheune.
Auch die Lies! Vor einem Jahre
hat man sie hinaus getragen.
Lag so still auf ihrer Bahre,
und nun hockt sie hier im Wagen!
Mehr noch! Mehr noch! Nein, nicht nennen,
kann er alle, die ihm Gäste.
Heiß beginnt es ihn zu brennen,
knochig rasseln dürre Äste.
Mehr und mehr und immer mehr
drängts vom Wegrand, geistern Rufe
aus dem Allerseelen-Meer –
kaum hebt noch der Gaul die Hufe.
„Nimm uns mit! Pitt, nimm uns mit!“
braust der Chor der Seelenleute,
„Nimm uns mit! Pitt, nimm uns mit,
frei ist dieser Tag uns heute!“
„Pitt, wir sehnen uns noch immer
nach den irdischen Genüssen,
nach der Wirtshauslampe Schimmer,
Kirmestanz und heißen Küssen!“
O, ihn packt das große Bangen,
Donnern hört er, Sausen, Zischen,
längst ist ihm sein Lied vergangen:
wär er tot, er säß dazwischen!
Helf mir Gott! Mir armen Seele,
die in Fleisch und Blut noch wandelt!
O, verzeih mir Schuld und Fehle, –
oft schon hab ich schlechtgehandelt!
Zieh, Max, zieh! Wir müssen weiter!
Bist doch eine treue Mähre, –
nein, die Fahrt ist gar nicht heiter, –
wenn sie bloß zu Ende wäre!
Da, ein Friedhof ! In der Mitte
hoch das Kreuz des Weltenherrn.
Weit ringsher nach Christensitte
Licht um Licht wie Stern bei Stern.
Auf den nebelfeuchten Straßen
in der Toten Gräberstatt,
stumm auf kummervollen Gassen
drängen sie sich scheu und matt.
Hoffend-hoffnungslos vertrauend,
der Verstorbnen Hinterbliebne,
auf das Wort der Bibel. bauend,
vom Erinnrungsschmerz Getriebne . . .
Aber in die Leidensgluten
wehen sternenlichte Geister.
Hoch aus Himmelslichtes-Fluten
dienen sie dem Weltenmeister.
Alle Schmerzen, alle Tränen
sammeln sie in goldner Schale,
alles qualzerrissne Wähnen
opfern sie beim heilgen Mahle.
Da erstrahlt am Holz der Schande
CHRISTI Leib als hehrste Gabe,
tönend, bis zum Totenlande
strömt sein Blut als höchste Labe.
Unerlöste und Erlöste
drängen sich zur Seelenfeier,
da Gott selber uns entböste, –
hymnisch braust die Sternenleier.
Jeder Nebel, jede Wolke
weicht vor dem erwachten Auge:
Heilung wird dem Erdenvolke,
daß es neu den Himmeln tauge . . .
Pitter fuhr nicht mehr zur Kreisstadt,
lag sie auch nicht mehr entfernt;
denn die Grabstatt ward im Weisstadt:
Weisheit hat er hier gelernt.
Und die wahre Weisheit kommt nur
aus dem Leid und von den Toten,
und uns Nächtewandrern frommt nur
hohes Wort der hohen Boten.
Fragt ihn einer, sagt er leise:
„Jeder Allerseelenwandrer
– Gott bekenn ich es zum Preise –
wird nach solcher Nacht ein andrer!“