Begegnungen mit Pitt Kreuzberg
VON ERNST KARL PLACHNER
Die erste Begegnung mit ihm war sozusagen eine überpersönliche, einfach bedingt durch unsere Geburt in derselben Stadt: Ahrweiler. Natürlich begegnet man dann vielen Menschen, die zur gleichen Zeit mit einem oder etwas früher oder später geboren sind. Aber hier ist noch etwas anderes zu beachten. Die Erinnerung an den einen prägt sich mehr ein als die an den anderen.
Pitt Kreuzberg
Zu denen, deren Bild ich besonders tief von früher Jugend an behalten habe, gehört Pitt Kreuzberg. Es haben sich auch Angehörige des Kaufmannsstandes, des Bauerntums, der Wissenschaft in mich eingeprägt — aber hier meine ich künstlerisch tätige Persönlichkeiten. Dazu gehört z. B. Johannes Müller, der Ahrweiler Kirchenmusiker, dessen Antlitz und Gestalt sehr früh stark auf mich wirkten. So auch der junge Pitt Kreuzberg. Er war für uns Ahrweiler Gymnasiasten „der Pitt“ oder der „Pitt Kreuzberg“.
Er entstammte, wie man damals zu sagen pflegte, einer führenden Familie der Stadt. Sein Vater war eine Renaissance-Gestalt, sicher und imponierend. Die „Familie Leopold“ oder „Leopolds“, wie man den großen Familienkreis in der Kleinstadt unter sich vertraulich nannte, führte ein großes Haus in der Wilhelmstraße, schräg gegenüber der Kreissparkasse, neben dem Haus von Groote, gewissermaßen überdurchschnittlich. Das ist nicht nur geldlich gemeint, sondern auch geistig. Die bedeutendste deutsche Musikzeitschrift, und das hieß damals sehr, sehr viel, kam hierhin. Sie allein schon bezeugt ein Kulturinteresse überdurchschnittlicher Art. Für den früh sein künstlerisches Streben bezeugenden Pitt war darum der Schritt aus dem kleinen Ahrweiler in die Malerstadt Düsseldorf tieferen Sinnes selbstverständlich. Nach dem Besuch der heimatlichen Bürgerschule im „Weißen Turm“, den Gymnasien m Brühl und Münstereifel sagte der Vater nach dem „Einjährigen“ (so nannte man damals die Mittlere Reife, weil sie zum einjährig-freiwilligen Militärdienst berechtigte) zum Wunsch seines Ältesten, ein Maler zu werden, „Ja!“ Aber Düsseldorf hielt ihn nicht lange, er ging nach München. Ich sehe ihn noch vor mir. Damals war in seinem Schreiten schon etwas vom Schritt des Eifelers. Sicher und weit war sein Schreiten. Ein wenig bayerische Gebirglertracht war in seiner Kleidung. Die Rechte führte einen festen Bergstock. „Da ist der Pitt wieder!“ hieß es, wenn er dann und wann vom beginnenden Malerweg ins Elternhaus kam.
Der Pitt, man konnte ihn nicht übersehen. Nein, man konnte ihn nicht übersehen. Es war etwas um ihn, über ihm, nichts Äußerliches, etwas Seelisches, Geistiges. Berufung nennt man es.
Das war auch um Johannes Müller.
Pitt Kreuzbergs Angesicht (man mußte dieses Gesicht ansehen wie ein Bild besonderer Art, es war wirklich ein An-gesicht) war im späteren Leben von ernsten Linien und strengen Farben gebildet. Lebenszucht und -meisterung sprachen daraus. Und noch etwas: tiefe Weisheit! Ein großer französischer Denker schrieb: „Weisheit ist kristallisierter Schmerz!“ Das, das war das innerste Geheimnis von Pitt Kreuzbergs Angesicht! Es gibt ein Selbstporträt von ihm, darin die zeichnerischen Linien und farbigen Führungen vollkommen ausgeglichen das Wort des französischen Denkers bestätigen. Es enthält wie eine künstlerische Geheimschrift den innersten Pitt Kreuzberg. Die „Runen“, die „Glypten“ dieses Selbstbildnisses verschweigen und erzählen das Innerste und Letzte seiner Seele. Dem ehrfurchtsvoll Schauenden („Schauen“ ist hier mehr „Sehen“) beginnen sie zu sprechen, sein Wesen zu enthüllen. Sie enthüllen Mensch und Künstler und bekunden die bewunderungswürdige Einheit, die sie schließlich geworden sind. Sie zeigen seinen Weg, einen Weg voller Wandlungen, einen Weg, der immer entschiedener vom Nur-Äußeren zum Seelenhaft-Innersten führte. Der ist leicht auszusprechen, aber nur schwer zu gehen. Pitt Kreuzberg ist diesen Weg gegangen.
Immer entschiedener. Auf diesem Weg — und nur da ist es möglich — hat er die Weisheit gefunden.
Einige Jahre vor dem ersten Weltkrieg, während seiner Münchner Zeit, verlor er durch einen tragischen Tod plötzlich seinen Vater, Nicht nur das, auch das große väterliche Vermögen ging verloren. Pitt Kreuzberg zog in die Eifel. Sein Weg begann. Die junge Frau, die er gefunden hatte, ging mit. Immer. Bis ihre sterbliche Leiblichkeit aus dem Malerhaus am Schalkenmehrener Maar hoch droben in der vulkanischen Eifel der Friedhof am Weinfelder Maar aufnahm …
Der so plötzlich und hart in seine allereigensten Entscheidungen geworfene junge Künstler wohnte jahrelang im Ort Schalkenmehren. Hier hatte er in einem Bauernhof auch sein Atelier.
Hier baute er sein Leben. Stein um Stein. Fuge um Fuge. Fachwerk um Fachwerk. Er hat sich nicht gescheut, den Bauern auch die Giebel zu streichen. Damals zogen wir als „Wandervögel“ mit unserem geliebten Wanderführer Oberlehrer Federle mehrere Tage durch die Eifel. Schliefen beim Bauer im Stroh. Kochten uns Maggisuppe und Würstchen. In Schalkenmehren hieß es: „Da wohnt der Pitt Kreuzberg!“
Den Ahrweiler Jungen, die mit Rucksack, Gitarre und Mandoline zu ihm kamen, zeigte er sein Atelier.
Pitt Kreuzberg wurde „Eifelmaler“. Und mehr.
Ich meine es so: er malte zwar auch die Eifel und malte sie so, wie kein anderer sie vor ihm gemalt hat. Doch malte er auch anderes. Er war Maler im umfassenderen Sinne. Seine Umfassung und Wesensschürfung prägte auch sein Eifelwerk zur unverwechselbaren Einmaligkeit. Sein großer Ernst, seine Strenge und Zucht führten ihm zunehmend die malende Hand. Sein Charakter mischte schließlich die Farben mit. Das alles machte sein Werk schwer. Es war von Anbeginn nicht leicht. Er hat nie Zugeständnisse an diesen oder jenen Geschmack gemacht. Er hat nie für die gute Stube oder den Salon gemalt. Die Berufung, die so früh um ihn, über ihm zu fühlen war, hat er erfüllt. Mit dieser Haltung, mit dieser Treue sind keine Vermögen zu verdienen. Auch das wußte der Ahrweiler Meister am Schalkenmehrener Maar. Als ich ihm, auf eines seiner Werke zeigend, sagte: „Dieses Bild kostet nach Ihrem Tode wenigstens 4000 bis 5000 Mark!“, antwortete er: „Lieber Herr Plachner, was hilft mir das? Jetzt, jetzt müßte das sein!“ Nein, er hat seine Muse (das ist ja der Ausdruck für den Engel der Kunst in der Menschenseele) nie verraten. Diese Treue hat er, wie andere, teuer bezahlt.
Wir, meine Frau und ich, besuchten ihn damals in seinem Haus am Maar, das er nach dem ersten Weltkrieg bauen konnte. Er führte uns schließlich auf den Speicher. Bilder, Bilder, Bilder! Eine ganze Schöpfung. Er schob sie wie Kulissen einer Zauberbühne vor unsere immer staunender sich öffnenden Augen. Unter ihnen ein sogenannter „Tryptichon“, ein großes dreiteiliges Gemälde. Welche Tiefe, welche Gewalt künstlerisch-religiöser Gestaltung, kühn und modern! Neu und voller Zucht bei aller apokalyptischen (d. h. hohe und tiefe, furchtbare und trostreiche Geheimnisse von Welt und Mensch enthüllend, das bedeutet ja apokalyptisch) Grundhaltung.
Hier trat uns eine farbenflutende Genialität entgegen. In der Tat, Pitt Kreuzbergs Farbenskala steht der seines Malerkameraden Emil Nolde, des namhaften deutschen Expressionisten, der ein Jahrzehnt vor ihm gestorben ist, nicht nach. Nicht nach Ausdruckswille und Ausdrucksmacht.
In gewisser Weise erinnert Pitt Kreuzbergs Werk an das expressionistische Stilprinzip, doch genügt diese Zuordnung nicht. Wir Deutschen lieben zwar das Einordnen, Rubrizieren, Etikettieren sehr, in der Kunst z. B. romantisch, klassisch usw. Man kommt aber nicht weit genug damit. Das ist auch bei Pitt Kreuzberg so; denn trotz gewisser Bezogenheiten kann man ihn keinesfalls zu den Expressionisten rechnen. In diese Entwicklungslinie des so tief und auch mit großem Gedankenernst schürfenden Malers gehören auch seine visionären Bilder, in denen oft mit erschreckender Heftigkeit des inneren Schauens Bedrohungen, Zerfalls- und Fäulnismöglichkeiten unserer Zeit künstlerisch gebannt sind. Hier offenbart sich etwas von dem, was wir kunstwissenschaftlich als „dantesk“ bezeichnen.
Nämlich im Hinblick auf das von dem großen mittelalterlichen Dichter Italiens, Dante Alighieri, in seinem Himmel, Erde und Hölle umfassenden Riesenwerk „Göttliche Komödie“ angewandte Stilprinzip eines streng gezügelten inneren Schauens. Dantes Lebenswerk ist voll davon.
Pitt Kreuzberg ist in seiner Weise als Maler an solches herangekommen. Auch das gehört zu dem Persönlich-Bedeutenden dieses Meisters.
Gehört freilich auch zu dem, was ihn „schwer“ macht. Doch: Alles Große ist schwer!
Auch in ganz andersartigen Werken bekundet sich Kreuzbergs eigene Art und Bedeutung. Da ist z. B. etwa ein Feld, ein Uferrand vom Maar usw.
Seltsam, wie beim gesammelten Hinschauen alles auf neue Weise lebendig wird! Wo Dutzende Eifelmaler stehen geblieben sind, ist bei ihm noch „etwas anderes“. Die Natur „west“, „grunelt“ sagte Goethe in einer neuen Wortbildung. Ja, es webt, es west, es grunelt in vielen Eifelbildern Meisters Pitts auf seine besondere Art. Dieser Mann hatte ein Gefühl dafür, er erlebte, nein, er wußte es: die Natur ist Sinneseindruck und mehr. Das malte er. Nicht Symbol, nicht Allegorie! Nein, so nicht. Er wußte: in, zwischen, hinter den Formen der Natur sind nicht nur Elektronen usw. Auch der große Seelenwissenschaftler C. G. Jung hat diese Frage nach dem Mehr gestellt. Die hl. Hildegard von Bingen, im Maße ihrer Zeit als Naturwissenschaftlerin tätig, hat um dieses Mehr auch gewußt. Das bezeugen ihre Schriften. Und dieses Mehr scheint ein ganzes Reich zu sein, eine geheime Welt in der uns zunächst offenbaren Welt. Goethe nannte es das „Reich der Mütter“, C. G. Jung die „Matrix“, worin ja das lateinische Wort Mater = Mutter steckt. Verborgen schaffende mütterliche Kräfte des Weltalls in der Natur, viel, viel mehr als Atome, Elektronen, lebendig wesende Schöpferkräfte göttlicher Herkunft — an sie ist der Maler Pitt Kreuzberg herangekommen. Es gibt Gemälde von ihm, aus denen sie einen geradezu anblicken. Hier hat er einen Weg gefunden, der die Maler noch sehr weit führen wird. Denn es ist nicht wahr, daß die Kunst immer sich wiederholt. Es müssen sich nur die Künstlerpersönlichkeiten weiterentwickeln, dann werden sie auch Neues zu sagen haben im Sinne der geradezu mathematischen Formulierung Chr. Morgensterns :
Der Kunst Geheimnis hast du bald am Kragen:
Hab was zu sagen und du wirst es sagen!
Pitt Kreuzberg ist am 21. Februar 1965 gestorben. Am 25. Februar wurde seine Hülle im Schalkenmehrener Friedhof am Totenmaar der Erde übergeben. Er gehört zu denen, die über den Tod hinaus etwas zu sagen haben. Wie sehr brauchen wir solche Persönlichkeiten! Hoffentlich erkennt man es nicht zu spät. . . !