Der Girlitz, ein Einwanderer des Ahrtales

VON JAKOB RAUSCH

Foto:
Kreisbildstelle Ahrweiler

Noch vor hundert Jahren war dieser schmucke, immer muntere Finkenvogel in Deutschland unbekannt. Als Kind der wärmeren Mittelmeergebiete hat er sich jetzt fast ganz Deutschland erobert, doch meidet er höhere Gebirgslagen. Seinen Namen trägt-dieser gefiederte Emigrant von seinem wie girlitzi, girlitzi. . . klingenden Lockruf. Unser Kanarienvogel stammt von einer grünlich gelben Girlitzart ab. Die deutsche Girlitzart stellt in Größe und Farbe ein Mittelding zwischen Kanarienvogel und Sperling dar. Im Jahre 1910 traf ich den Vogel als Neuling im Nahetal, das als Ausläufer des Mainzer Beckens eine reiche Vogelwelt hat. Am Mittelrhein, zumal im Neuwieder Becken, war er 1930 noch nicht vertreten.

Wie staunte ich deshalb, als ich im Jahre 1932 auf jedem der vierzehn kugelförmig geschnittenen Rotdornbäume vor dem Landratsamt in Ahrweiler ein Girlitznest fand! Ich schrieb diese Erfahrung an die Redaktion des „Naturfreundes“ nach Düsseldorf. Darauf schickte mir der Verlag eine Nummer des „Naturfreundes“ auf dem Jahre 1906 zu, worin das Rätsel gelöst wurde.

Nach 1900 wurde ein „königlich=preußischer, großherzoglich=hessischer Bahnmeister“ aus Mainz nach Ahrweiler versetzt. Als Vogelfreund vermißte er im Ahrtal den Girlitz. Da fing er sich in Mainz ein Vogelpaar und brachte dieses mit Nest und halbflüggen Jungen nach Ahrweiler, wo sie sich bald heimisch fühlten. Die Hoffnung, daß diese Einwanderer im nächsten Jahre als Zugvögel nach Ahrweiler zurückkehren würden, erfüllten sich ganz. Bis 1906 war die Girlitz in der Gegend des Bahnhofes und in der Wilhelmstraße allenthalben anzutreffen. Sein liebster Nistplatz wurden nachher die Rotdornbäume vor dem Landratsamt, so daß dort 1932 vierzehn Nester standen. Heute ist aber durchweg nur ein Girlitznest dort zu finden. Das hat wohl zwei Gründe: Unter und neben den Bäumen parken täglich viele Autos, so daß der Platz zu unruhig wurde. Zudem hat der Girlitz sich im Ahrtal verbreitet und findet in Hecken und Sträuchern günstigere Nistplätze.

Auf Drähten, Baumästen und Weinbergspfählen sitzend, ruft er fleißig während der Frühlings= und Sommerzeit sein „girlitzi. . .“

Der Winzer verwechselt ihn häufig mit dem gelben Stockfink (Erlenzeisig) und seltener mit dem roten Stockfink (Hänfling). Obgleich diese drei Finkenarten Körnerfresser sind, was ihr kurzer, kräftiger Schnabel verrät, füttern sie doch ihre Jungen mit Raupen; und da sie ihre erste Brut zur Zeit des Heuwurmes und die zweite zur Zeit des Sauerwurmes haben, so sind gerade diese Vogelarten wie alle Singvögel nützliche Freunde des Winzers und noch größere des Obstbaumzüchters!