Weiden im Denntal
Johannes Fr. Luxem
Leben
Immer, wenn der Wind von Westen her das steinige Ufer des Baches erreicht, beginnen die alten Weidenbäume lebendig zu werden für Auge und Ohr. In seltsamem Rhythmus bewegen sich unzählige lanzettförmige Silberblättchen, drehen sich wie Kreisel, berühren einander, erzeugen im Wind Töne von unwahrscheinlicher Zartheit.
Vollkommen aber wird die Stille bei abflauendem Wind; die Monotonie der Melodie fließt hinüber zu den Hängen und Felsen des Tales bis in die Einsamkeit der Eifelwälder.
Es ist wahr: unüberwindlich sind die alten Weiden, Lieblingsbäume des großen Pan. Nicht Stürme, Dürre, Wasserfluten, Wildverbiß, Wunden vermögen sie zur zerstören. In tausenfachen Verästelungen krallt sich ihr Wurzelwerk tief in den Schiefergebirgsboden, unterspült vom Bach, verletzt vom Gestein, verstümmelt von Beil und Messer – aber die Weiden leben weiter, wachsen dem Frühjahr entgegen mit ungebrochener Lebenskraft; sie werden Blüten und Blätter treiben in Hülle und Fülle und in überwältigendem Lebenswillen.
Sturm
Durch Jahrtausende eingeschliffen sind alle Formen der Besitzwahrung von Ästen, Zweigen, Sprossen und Stamm in den Äquinoktialstürmen, die wild durch das Tal rasen.
Seit Urzeiten lebensrettende Nachgiebigkeit von Stamm, Geäst und Blattwerk, in den Sturmböen anzuschauen wie riesige, grüne, aufgeplusterte Vögel, die sich verzweifelt mühen, den Standort zu verlassen, silbergrüne Schwingen schlagend, endlich sich zu erheben, sich loszulösen aus tausendfältigen Verwurzelungen in Ufergeröll und Schieferspalten.
Welche Täuschung – Wurzelenden klammern sich fest an angestammte Stelle, nur Federn verlieren die alten Bäume, zerstreut liegen sie in den Wiesen, der Dennbach trägt sie fort, schwemmt sie an den Kolkrändern an, rauscht und gurgelt durch die Sturmnacht, hüllt im kühlen, gläsernen, Gewand Forellen, Frösche, Krebse und Ringelnattern ein.
Haben die standhaften Grünvögel ihr Gefieder verloren, wenn die langen, geheimnisvollen Dezembernächte gekommen sind, zerren Winterstürme an den langen Schwingen, peitschen Zweigenden wild den gefrorenen Boden, reißen Striemen in die Schneeflächen am Bachufer, lassen weißen Staub wie kleine Wolken hinauf zu den Berghängen verwehen.
Bienen
Im Frühling, wenn die Sonne stärker zu werden beginnt kommen die großen Stunden der Weiden; wenn Kerbtiere und Insekten geweckt werden aus der Erstarrung, Igel und Siebenschläfer sich regen und wenn man erstmals das unaufhörliche Gesumm der Bienen vernimmt, die erste Tracht suchen in den Blütendickichten der Weiden.
Aus Höhlen, Verstecken, Gängen taumeln sie wie geblendet in das strahlende Licht der Frühlingstage, folgen geheimnisvollen Signalen der Kundschafter.
Sie überfliegen Waldstücke, Gebüsche, Wiesen und Bach bis hin zum Eldorado, zum Land, wo Milch und Honig fließt, zur gelb überpuderten Weide und es beginnt ein seltsames Summen, stete Melodie wie schwebend und mit kaum wahrnehmbaren Kadenzen. Die Oberfläche der alten Weide beginnt sich zu verändern, es scheint, als wachse der Baum aus seinem Volumen heraus in eine andere Formgebung, seine Haut vibriert, gleichsam gehoben von bewegter Luft und Abermillionen durchsichtiger Flügel.
Zeichnungen: Deisel
Bewegung und Melodie werden in der Stunde Pans eins; es fehlt, daß der alte Baum sich erhöbe, Stück um Stück fortgetragen von den Bienenschwärmen hinweg über Bach und Felsgrat nach Osten, zum Rheinstrom, fort in das mildere Klima der Ebene.
Winter
Warum die Weiden die Lieblingsbäume der Raben sind – niemand weiß es. »De soaßen at ömmer do drob onn do drenn« sagen die alten Bauern, sie, die in ihrer Jugend noch Weidenruten schnitten, sie geschmeidig machten und in langen, verdüsterten Wintertagen Körbe daraus flochten neben dem blakenden offenen Feuer, über dem Gerstenkaffee geröstet und gekocht wurde. Weiden im Winter: wie Oktopusarme in ununterbrochener Bewegung, getrieben vom Westwind peitschen sie Rinnen in den Schnee. Festgefroren in die Eisdecke des Dennbaches bilden sie bizarre elliptische Bögen von der Höhe der Äste bis hinunter in die kristalline Fläche erstarrten Gewässers, festgehalten vom Eis, bis das Tauwetter im März sie loslöst. Wie zersprungene Saiten einer archaischen Lyra bewegen sie sich dann nach langem Gefesseltsein wieder im Winde. . .