Von der Judenmission zu einem neuen Verhältnis zwischen Juden und Christen
Von der Judenmission zu einem neuen Verhältnis zwischen Juden und Christen
Hans Warnecke
Im Archiv der Evangelischen Kirchengemeinde Bad Neuenahr befindet sich ein bemerkenswertes Dokument, das eindringlich widerspiegelt, wie vor 130 Jahren hier im Ahrtal lebende evangelische Christen von ihrer Kirchenleitung zu einer ganz bestimmten Sicht gegenüber jüdischen Mitbürgern angehalten wurden.
In einer Kollektenempfehlung vom 30. November 1863 wurde dem Presbyterium in Ahrweiler vom Präses der rheinischen Provinzialsynode mitgeteilt, im Jahre 1864 am 10. Sonntag nach Trinitatis „eine Sammlung für die Ausbreitung des Evangelii unter Israel zu veranstalten“.
Dieser Empfehlung vorangestellt war als Information und Begründung für das Presbyterium eine dreiseitige Ausarbeitung der „Direction des Rheinisch-Westphälischen Vereins für Israel“, die wegen ihrer theologischen Grundhaltung hier kommentierend dargestellt werden soll.
Dieser Rheinisch-Westfälische Verein zur Missionierung der in diesem Gebiet lebenden Juden weist in seiner Bitte an die im Rheinland arbeitenden Presbyterien gleich zu Anfang darauf hin, „daß die in diesem Gebiet lebenden 52.000 Juden meist in äußerlichem Wohlstand, doch in der Verkommenheit des Unglaubens, der talmudischen Menschensatzungen und des Mammonsdienstes dahinleben.“ Aus Mitleid mit diesem schuldbeladenen jüdischen Volk sei es vor 20 Jahren zur Bildung des Vereins zur Judenmission gekommen, „um das Evangelium unter den Juden zu befördern“.
Bereits in diesen wenigen Worten wird etwas von der Grundhaltung deutlich, die mit dieser Kollektenempfehlung an die evangelischen Christen weitergegeben werden soll, nämlich die Gewißheit, aus biblischen Gründen aktiv bei den Juden missionieren zu sollen, damit sie endlich erkennen, daß auch ihr Heil nur in der Annahme des Glaubens an Jesus als den Messias zu finden ist.
Hinter dieser so deutlich vorgetragenen Meinung des Rheinisch-Westfälischen Vereins steht eine lange Tradition, die auf evangelischer Seite bis zu Martin Luther zurückreicht, und in der katholischen Kirche ihren schärfsten Ausdruck in den Kreuzzügen des Mittelalters gefunden hat. Überraschend an dieser Verlautbarung des Vereins zur Judenmission aus der Mitte des vorigen Jahrhunderts aber ist, daß trotz der geschichtlichen Ereignisse der Französischen Revolution und der Auswirkungen eines neuen Toleranzgedankens durch die geistesgeschichtliche Bewegung der Aufklärung hier so selbstverständlich und selbstbewußtdie eigene christliche Position ohne jede Rücksicht auf jüdische Entwicklungen vorgetragen wird. Denn in der Zeit der Abfassung dieser Kollektenempfehlung wußte man auch im Rheinland, was unter der Judenemanzipation zu verstehen sei, und in dieser preußischen Provinz nahmen auch evangelische Christen zur Kenntnis, daß überall jüdische Gemeinden sich neu konstituierten, weil es von der Regierung in Berlin dazu die notwendigen Gesetze gab, ja sogar die ausdrückliche Aufforderung, so zu verfahren. Aber auch aus der eigenen Kirche formierten sich kritische Anfragen, ob denn derartige Judenmission noch angebracht sei.
Diese Fragen waren natürlich den Mitgliedern des Vereins nicht unbekannt. Denn in dem in den Gottesdiensten zu verlesenden Text heißt es: „Ohne uns auf die einzelnen Einwendungen, die gegen unser Werk erhoben werden, hier einzulassen, fragen wir nur: Dienen wir denn nicht der evangelischen Kirche, indem wir die Ehre des hochgelobten Heilandes und die Wahrheit des evangelischen Bekenntnisses vor dem abtrünnigen, alten Bundesvolk vertreten und mit der durch die Reformation geöffneten Bibel verteidigen? Erfüllen wir denn nicht mit unserer Tätigkeit eine Pflicht, ja sogar eine große Schuld, welche die ganze evangelische Christenheit gegen das Volk der Bibel, gegen das Volk des Heils (Joh. 4,22), gegen das Brudervolk Jesu Christi hat. Freilich hat die evangelische Kirche nie und nirgends wie das katholische Mittelalter die Juden grausam verfolgt, die gerade bei uns am Rhein unter dem Fanatismus am längsten und schwersten gelitten haben, – aber uns brennt eine nicht minder schwere Schuld auf unserm Gewissen, daß wir so lange Zeit dem Jammer Israels stumm und kalt zusahen, durch unser weltförmiges Leben ihnen Ärgernis bereiteten. ja gar durch unsere ungläubige Aufklärung ihnen selbst Waffen gegen das Evangelium in die Hand gaben“.
Landessynode in Bad Neuenahr: Am Pult Präses Karl Immer
Hier wurde ganz eindeutig gegen bestimmte Einstellungen polemisiert. Dabei aber fällt es wohltuend auf, daß die eigene Aufgabe der Judenmission mit dem Rückgriff auf biblische Aussagen begründet wird und nicht mit Diffamierungen jüdischer Kultur. Auch war es im Jahre 1863 unbekannt, in der Diskussion den Begriff der Rasse zu gebrauchen, um so den Unterschied zwischen Juden und Christen herauszustellen. Dieses Denkschema entwickelte sich erst am Ende des Jahrhunderts, um dann -auch in der evangelischen Kirche – während der Zeit des Nationalsozialismus zu seiner furchtbaren Auswirkung zu kommen. Dennoch ist diese Kollektenempfehlung ein typisches Beispiel, wie damals gerade überzeugte Christen meinten, eine Verpflichtung zur Judenmission übernehmen zu müssen, um so dem Missionsbefehl Jesu, „in alle Welt hinauszugehen und allen Menschen das Evangelium zu bringen“, auch gegenüber der jüdischen Minderheit im eigenen Lande zu erfüllen.
Man würde diesen Text aus der evangelischen Gemeinde Bad Neuenahr falsch interpretieren. wenn man von ihm eine direkte Linie zum Antisemitismus des ausgehenden 19. Jahrhunderts oder gar zum Holocaust während der nationalsozialistischen Zeit ziehen wollte. Hier geht es nicht um Judenverachtung oder Judenvernichtung, sondern um Judenbekehrung. Weil man trotz der gemeinsamen Wurzeln des Glaubens den jüdischen Weg als verkehrt ansah, deshalb konnte sich dieserchristliche Missionseifer gegenüber jüdischen Mitbürgern entwikkeln. Aber gerade wenn man versucht, dieses historische Dokument aus seinerzeit heraus zu verstehen,wird man nicht verschweigen dürfen, daß solche gut gemeinten Aufrufe zur Judenmission das allgemeine Bild von der Überlegenheit des christlichen Glaubens und damit eben auch die Überlegenheit der Christen gegenüber den Juden vervollständigt haben.
Es bedurfte dann nur noch der neuen Begriffe von der Überlegenheit der deutschen Rasse gegenüber der minderwertigen jüdischen, um konsequent in der Propaganda des Nationalsozialismus zu landen. Die Geschichte der Evangelischen Kirche in Deutschland vom Beginn des 20. Jahrhunderts bis zur nationalsozialistischen Zeit zeigt leider erschreckend deutlich, daß bei vielen Christen eine wirkliche Einsicht in die Zusammenhänge zwischen jüdischem und christlichem Glauben nicht vorhanden war, sondern sich oftmals nur ein platter Antisemitismus unter christlichem Gewand versteckte. Es bedurfte eines langen und schmerzvollen Weges, bis es zu einem neuen Verhältnis zwischen Juden und Christen kam, in dem alte Vorurteile überwunden wurden und ein neues Verständnis füreinander wachsen konnte.
Die Landessynode von 1880
Zu diesem Weg aber gehört Bad Neuenahr unlösbar hinzu. Denn hier tagte im Januar 1980 die Landessynode der Evangelischen Kirche im Rheinland, die im großen Kurhaussaal eine Stellungnahme zum Thema „Christen und Juden“ beschloß, die nicht nur bei den Kirchen in Europa große Beachtung fand.
Nach einer intensiven Vorarbeit in den vorhergehenden Jahren zu diesem Thema in allen Gemeinden der Landeskirche und nach ausführlicher Debatte in den Ausschüssen der Landessynode kam es am 11. Januar 1980 zu diesem denkwürdigen Beschluß. Denn hier wurde zum ersten Mal in der Geschichte des Protestantismus öffentlich gesagt:
„Wir bekennen betroffen die Mitverantwortung und Schuld der Christenheit in Deutschland am Holocaust. …Wir bekennen uns zu Jesus Christus, dem Juden, der als Messias Israels der Retter der Welt ist und die Völker der Welt mit dem Volk Gottes verbindet. … Wir glauben die bleibende Erwählung des jüdischen Volkes als Gottes Volk und erkennen, daß die Kirche durch Jesus Christus in den Bund Gottes mit seinem Volk hineingenommen ist. .. Wir glauben, daß Juden und Christen je in ihrer Berufung Zeugen Gottes vor der Welt und voreinander sind; darum sind wir überzeugt, daß die Kirche ihr Zeugnis dem jüdischen Volk gegenüber nicht wie ihre Mission an die Völkerwelt wahrnehmen kann“.
Mit diesem letzten Satz war eine eindeutige und öffentliche Absage an jede Form der Judenmission formuliert. Aber gerade diese Aussage hatte bis in die Schlußabstimmung hinein den heftigsten Widerstand verursacht, weil verschiedene Synodale meinten, daß die christliche Kirche auf die Judenmission nicht verzichten dürfe.
Die Abstimmung in der Plenarsitzung im Kurhaussaal in Bad Neuenahr unterstrich dann ganz eindeutig, daß dieses Leitungsgremium der Rheinischen Landeskirche bereit war, in ein neues Verhältnis zwischen Juden und Christen einzutreten: Bei 3 Nein-Stimmen, 6 Enthaltungen und 237 Ja-Stimmen wurde dieses Dokument angenommen. Präses Lic. Karl Immer dankte danach bewegt für die Annahme der Vorlage und bat anschließend Landesrabbiner Dr. Nathan Levinson, der als Gast an der Synodaltagung teilgenommen hatte, um eine Stellungnahme. Zum ersten Mal in der Geschichte der Protestanten im Rheinland sprach ein Jude zu den Vertretern aus den 46 rheinischen Kirchenkreisen. In seinen Worten kam er auch auf das Thema Judenmission zu sprechen. Er sagte dazu:
„Ich sehe nicht, weshalb einige von Ihnen die Notwendigkeit der Judenmission gerade in diesem Lande sehen und nichts Besseres zu tun haben, als die wenigen Juden, die noch hier sind, aus ihrem Glauben herauszuholen. Ich bin darüber immer wieder erschüttert, und es sind andere Juden auch, und ich möchte nicht, daß auch in Zukunft unser Gespräch daran scheitern soll. Man kann auch Menschen zu Tode lieben, und ich glaube, daß wir verstehen sollten, daß, wenn es auch einen Missionsbefehl gibt, der gerichtet ist an die ‚Völker‘ (..gehet hin und machet zu Jüngern alle Völker. .Matth. 28,19) – wenn man das ins Hebräische rückübersetzt, so sind das die ,Gojim‘, das sind nicht die Juden, die sind nicht in diesem Missionsbefehl, auch theologisch nicht, miteinbezogen.“
In der Tat war es ein sehr, sehr langer Weg bis zu diesen Worten eines Rabbiners vor einer christlichen Synode. Doch sie wurden gehört und wirken nach und haben auf ihre Art mit dazu beigetragen, daß damals im Jahre 1980 nicht nur ein „Papier“ in Bad Neuenahr verabschiedet wurde, sondern es in vielen Gemeinden und bei vielen Christen zu einem neuen Verständnis jüdischen und christlichen Glaubens kam. Das aber ist eine bleibende Aufgabe, damit sich nicht eines Tages wieder ein neuer Antisemitismus aufbaut und Christen ihm wie in der Vergangenheit entweder hilflos ausgeliefert sind oder gar ihn mit christlichen Argumenten gut heißen.