Vom Leben der angeblich toten Dinge
Gedanken zum achtzigsten Geburtstag
Egon H. Rakette
Lange Zeit war das Datum‘ in weite Feme gerückt. Bis dahin gab es zuviele Aurträge, die zu erfüllen waren. Dieser Tag galt als Endpunkt einer aktiv genutzten Zelt. Es blieb nicht aus, daß man die Pflöcke seines Arbeitsfeldes dem Alter anpaßte. Doch das Erreichen eines neuen Lebensjahrzehnts war nicht mit dem Ablauf automatischer Entwicklung gleichzusetzen. Dem eigenen Willen war die Gnade des Allmächtigen übergeordnet.
Man zählte die Jahre nach, als könnte sich das Schicksal verrechnet haben. Die Gespräche bargen Anerkennung wie Verlegenheit. Freunde klopften uns auf die Schulter und deuteten an, den Festtag gebührend zu begehen. Ein wenig erschrocken wehrte man ab. Sollte man verblaßte Sehnsüchte feiern und vergangene Ängste bejubeln? Man hatte viel Gutes und genügend Schweres erlebt. Gehörte dieser Tag nicht mir allein?
Dieses Jahrhundert hatte seinen Tribut von uns gefordert. Man ließ die Zeiten Revue passieren. Manche Bilder hatten sich bereits verwischt. Orte der schlesischen Heimat entwichen in den Nebel der Dämmerungen. Mit wiedergefundenen Schulfreunden skandierte man die Sentenz aus den Gesta Romanorum, den Leitspruch unseres Handelns: Quidquid agis, prudenter agas et respice finem, — was du auch tust, handele klug und denke an das Ende. Ich blätterte versonnen in alten Briefen und bedachte die Jahre.
Man ordnete seine Habe. Man verweilte bei jedem Gegenstand. Man holte aus dem Schreibtisch die alte Petschaft mit der Gravur der Besitzerinitialen und der Umschrift „Erb-scholtisei Duchen«. Im Scheine des Windlichts auf der abendlichen Terrasse las ich die mit steiler Schrift auf die freien Seiten der alten Bibel von 1733 notierte fromme Danksagung eines meiner Vorfahren anläßlich der wundersamen Errettung seines schon dem Tode verfallenen Kindes. Psalm einhundertsieben: „Die zum Herrn riefen in ihrer Not, und er half ihnen aus ihren Ängsten«.
Schloß Marienfels bei Remagen. Bild aus der Mitte des 19. Jahrhunderts.
Nachdenklich geworden nahm ich die geretteten Bücher aus den Regalen. Die abgegriffenen Bände der Hermann Stehr, Wilhelm von Scholz und Hermann Hesse mit ihren Widmungen an den jungen Dichter ließen verklungene Worte wiedererstehen. Lebten nicht ihre Werke in unseren Herzen? Die fast zweitausend Jahre alten Römerkrüge aus den Sandgruben des Rheins, die russischen Ikonen aus Saratowka und Orel, die Gemälde aus dem Glatzer Glasegrund und das lebensnahe Bildnis der noch in den letzten Kriegstagen im Dresdner Feuersturm umgekommenen Patentante unserer Tochter Anne Bärbel erzählten ihre Geschichte. Jäh spürte ich, wieviel Leben in den angeblich toten Dingen bewahrt blieb. Die ledernen Schatullen wiesen mit halb vergilbten Fotos ihre Kostbarkeiten vor, Bilder der längst Verstorbenen, des Kommerzienrats Frings, seines Neffen Scherbius und des verehrten Hofrats Dr. Maximilian Rakette, der seine Treue zu seinem Patenonkel Maximilian Scherbius und dem alten Schloß Marienfels bis zu seinem Tode im Herzen trug.
Reich geschnitzte Spiegelkommode, die früher auf Schloß Marienfels stand.
Meta Rakette, seine Witwe, hatte, in dem Wunsch der fürsorglichen Bewahrung alter Kostbarkeiten, einige Möbel des Schlosses, darunter die alte reich geschnitzte Mahagoni-Spiegelkommode und den Kirchenstuhl mit Wappendekor unserem Haus in Oberwinter zugedacht. Nun würden sie mit uns leben. Solches Erbe war eben mehr als nur die Verlagerung eines Besitzes von einer Hand in die andere. Es ging um mehr als nur um museale Registrierung. Die Geschichte verlangte ihr Recht. Die angeblich leblosen Dinge bewiesen plötzlich ihre Zugehörigkeit zur Gegenwart und bezeugten das Verbundensein der ehemaligen Besitzer. Die bleiverglasten Wappen der Scherbius und Rakette an dem großen Fenster unseres Hauses haben einen wärmeren Glanz bekommen.
Der Krefelder Fabrikbesitzer Eduard Frings hatte das Mitte des vergangenen Jahrhunderts an den Hängen der Rheinuferberge errichtete Schloß Marienfels, erbaut von Dombaumeister Zwirner in dem damals beliebten neuenglischen Stil, bis zur Jahrhundertwende bewohnt und beim 1903 erfolgten Tode seiner fünfundachtzigjährigen Frau Maria aufgegeben. Zwirner, der seinen Anteil am Ausbau des Kölner Doms hat, war auch am Bau der Remagener Apollinariskirche beteiligt. Heute ist Marienfels, das einen herrlichen Blick auf den Rhein zwischen Oberwinter und Remagen bietet, durch wiederholte Bergabbrüche in Gefahr geraten.
Wie seit je liegen Westerwald und Siebengebirge jenseits des Stromes in der steigenden Dämmerung. Die Lichter der stromauf und stromab fahrenden Schiffe wetteifern mit den periodisch aufleuchtenden Positionszeichen der Lastkähne. Auf der Bundesstraße zu unseren Füßen zieht sich ununterbrochen die Kette der Autos zurück ins nahe Bonn. Das Windlicht auf unserem Tische ist heruntergebrannt. In unserem Rücken fällt Mondlicht auf das kleine Porzellanbild des alten Schlosses. Wir sitzen versonnen und geben den Träumen Raum. Allmählich wird es Zeit zum Nachtgebet.
Anmerkung
Der Schriftsteller Egon H, Rakette wurde am 10. Mai 1909 in Ratibor geboren. Seit Jahrzehnten lebt der gebürtige Schlesier, der seit Jahren zu den Autoren unseres Heimatjahrbuchs zählt, auf der Rheinhöhe in Oberwinter.
Zahlreiche Ehrungen wurden dem Jubilar für seine vielfältige literarische und kulturpolitische Arbeit zuteil. So erhielt er u. a. such das Verdienstkreuz Erster Klasse des Verdienstordens der Bundesrepublik Deutschland und die goldene Medaille Pro Humamte des West-Ost-Kulturwerkes
Leben und Werk von Egon H. Raxette wurden anlaßlich seines 75. Geburtstages im Heimatjahrbuch Kreis Ahrweiler 1984 gewürdigt (D. Red.)