Vögel auf weltweiten Reisen
VOM GEHEIMNIS DES VOGELZUGES
VON DR. HERMANN JOSEF BAUER
Alljährlich erleben wir zweimal den Zug der Vögel. Warum wagen sie diese Flüge? Wir kennen die Ursachen nicht. Sind es „Erinnerungen“ an frühere Erdzeitalter, als in der südlichen Heimat das Futter knapp wurde und sie neue Futterplätze im Norden suchten? Oder liegt ihre Heimat im Norden, und sie weichen durch ihren weiten Flug nach dem Süden der Winterkälte und dem Futtermangel aus? Warum aber bleiben sie dann nicht auch im Sommer dort? Und warum ziehen unsere Störche zum Beispiel nicht nach Nordafrika, sondern überqueren den ganzen Kontinent bis zur Südspitze? Warum überqueren andere Vögel den Ozean? Ist auch das vielleicht eine Erinnerung an eine Zeit, als die Kontinente noch näher beieinander lagen und nicht durch Meere getrennt waren? Dieses einzigartige Schauspiel des Vogelzu-geg gibt uns zahlreiche Fragen auf. Auf welchen Zugstraßen fliegen sie? Wie halten sie den richtigen Kurs, vor allem nachts? Woher nehmen sie die Kraft zum weiten Flug? Wie finden sie beim ersten Flug den Weg nach Süden? Jungvögel fliegen oft einzeln ins Winterquartier und erreichen das Ziel. Viele Vögel kehren im folgenden Jahr zum gleichen Ort, zum gleichen Nest zurück. Kleine Vögel, wie die Strandläufer, überqueren im Nonstop-Flug den Pazifischen Ozean nach Alaska und Hawaii. Große Entfernungen werden zurückgelegt.
Die Störche sind zwar nicht derartige Ozeanflieger, aber auf ihrem zweimaligen Flug im Jahr bewältigen sie 20 ooo km. Die gleiche Flugleistung vollbringen die Schwalben, die ebenfalls bis Südafrika in ihre Winterquartiere fliegen. Der Rekordflieger unter den Vögeln ist die Küstenseeschwalbe. Sie fliegt von der Arktis an der Ostküste Amerikas entlang, überquert den Atlantischen Ozean, zieht an der Westküste Afrikas weiter bis zur Antarktis. Wenn sie im Frühjahr nach Nordgrönland zurückkehrt, hat sie mit 30 ooo km fast den gesamten Erdball umflogen.
Erstaunlich hoch ist oft die Geschwindigkeit, die bis zu 90 km in der Stunde betragen kann. Sehr verschieden ist die Flughöhe. Manche Vögel bevorzugen die Erdnähe, während andere bis zu 3000 m aufsteigen.
Nicht immer haben die Vögel Kraft genug, um gegen Stürme anzukämpfen, denen sie auf ihren weiten Reisen begegnen. Sie können in Wüsten abgedrängt werden, geraten in Sandstürme oder fallen einer Hitzewelle zum Opfer. Die Küstenflieger werden häufig von Stürmen aufs Meer hinausgetragen. So brachte man uns vor einigen Jahren einen verletzten Vogel, den wir noch nie gesehen hatten und dessen Bild sich auch in keinem Buche finden ließ. Wir fütterten ihn einige Tage, bis er an einer Verletzung und vor Erschöpfung starb. Wir ließen ihn ausstopfen, und schließlich erfuhr ich im Königsmuseum Bonn — wo er heute ausgestellt ist —, daß es der erste Fund des amerikanischen Schwarzschnabelkuckucks in Deutschland war. Was war ihm zugestoßen? Beim Studium der Wetterkarten der voraufgegangenen Tage erkannten wir, daß eine Kette schwerer Stürme ihn über Grönland, Island und England bis hierher verschlagen hatte. Wenn sein Flug von mehr als 6000 km schon erstaunlich ist, um wieviel mehr dann die Leistung der oft noch kleineren Vögel, die jährlich zweimal wandern. Wie finden sie ihren Weg sogar bei Nacht? Orientieren sie sich nach den Sternen? Von Tagfliegern war bekannt, daß sie ihren Kurs nach dem Sonnenstand bestimmen. Es sind Versuche gemacht worden, um die Annahme einer nächtlichen Himmelsnavigation zu beweisen. Und tatsächlich flogen die Vögel bei einem künstlichen Sternenhimmel in einer großen Halle nach dem Sternbild. Das klingt kaum glaubhaft, und es müssen noch viele Experimente folgen. Schon manches Rätsel des Vogelzuges ist — vor allem durch die Beringung — gelöst worden. Von einem Erlebnis ganz besonderer Art sei noch berichtet. Man hatte uns an einem Herbstabend mitgeteilt, daß draußen im Moor Kraniche zur Nacht eingefallen seien. Auf ihrem Zug nach Süden übernachteten sie dort. In der Dunkelheit des nächsten Morgens pirschten wir uns an den Schlafplatz der Kraniche heran. Da standen nun wie gespenstige Schatten etwa 100 dieser riesigen fremdartigen Vögel dicht beisammen und schliefen. Mit zunehmender Dämmerung erwachten immer mehr und begannen, ihr Gefieder zu putzen und sich für den Weiterflug zu rüsten. Da aber verharrten wir in stummem Erstaunen: Aus dem dämmrigen Nebel kamen zwei Kraniche zu der großen Gruppe zurück. Und dort kamen wiederum zwei aus einer anderen Richtung, dann wieder zwei und noch einmal! Sternförmig liefen ihre Wege zurück zur Hauptgruppe: Die Wachtposten der Nacht, die sich in einem Kreis aufgestellt hatten, wurden eingezogen. Als es hell war, erhoben sich die Vögel und strebten mit weitem Flügelschlag dem Süden zu.
Ob wir jemals mit unseren Gedanken ihrem Flug folgen können und alle Fragen beantworten? Der Vogelzug bleibt noch eines der tiefsten und aufregendsten Geheimnisse der Natur.