Vinca minor, das Sin- oder Immergrün unserer Wälder
VON PETER HERBER
Unvergeßlich eingeprägt seit meiner frü-hesten Jugend gehört ein Name zu dem gewiß noch dürftigen Wortschatz eines Buben aus dem Hunsrückdorf um das Jahr 1910: Berfink.
Berfink? Da mußten zu Fronleichnam Girlanden gebunden werden, Meter um Meter, für die Altäre und die vielen Bögen in Dorf und umgebender Flur; da sollte zu Allerheiligen der Friedhof, mitten im Dorf gelegen, noch einmal prangen im frischen Grün der selbstgewundenen Kränze, mit grellbunten Papierrosen geziert, oder wenn es galt, durch ebensolche Kränze dem verstorbenen Dörfler einen letzten Gruß zu widmen am offenen Grab: dann zogen wir Buben und die Mädchen mit „Mannen“, Säcken und „Kiezen“1) in den nicht weit entfernten Bopparder Wald. Da stand Berfink in unerschöpflicher Menge, den Waldboden deckend mit geschlossenen Beständen. Den galt es zu pflücken, Sträußchen um Sträußchen, bis unsere Sammelgeräte hochgefüllt und mit Schwüngen Gerten versprießt waren. Wenn aber auf den Wiesen die Schlüsselblumen dufteten, wenn die Aurorafalter nektartrunken am Schaumkraut schaukelten, wenn alle Welt erfüllt war von der Freude der Vögel und vom Summen und Sirren des vielen Kleingetiers, dann leuchtete der Waldboden himmelblau von ungezählten Blütensternen: der Berfink blühte!
Berfink, auch Berwinc, ist das Immergrün, das Singrün, die Judenmyrte, das Franzosenkraut, die Totenblume/die Vinca minor unserer Wälder. Singrün, ahd. singruone, enthält das Wort sin = allgemein, immer. Somit ist der Name einleuchtend. Vinca ist abzuleiten vom lateinischen vincere = ranken, kriechen, sich winden. Vinca minor = die kleine Kriechende. Die Ableitung von Vinca-winc-fink ist leicht verständlich. Schwieriger ist es schon, den Ursprung zu finden für Ber.
Prof. Nießen nennt in seiner Rheinischen Volksbotanik, Band z, Seite 106, das Singrün mit dem frühmittelalterlichen Namen: uinca pereuinca. Wir haben in der Botanik den Begriff: perennierende Pflanzen = mehrere Jahre ausdauernde Pflanzen, gebildet aus dem lat. perennare = ausdauernd. Vinca ist tatsächlich eine mehrjährige ausdauernde Pflanze. Es wird wohl nicht abwegig sein, aus pereuinca – Berwinc – Berfink abzuleiten. Demnach ist Berfink: die ausdauernd Rankende, die ausdauernd Kriechende. Das Immergrün gehört zur großen Familie der Hundsgiftgewächse (Apocynaceae), die mit oft merkwürdigen Vertretern in allen Erdteilen, besonders in den orientalischen Ländern, anzutreffen ist. Ein großer Teil ist Kautschuklieferant von zweifelhafter bis vorzüglicher Qualität. Andere Arten liefern gefährliche Giftstoffe für Pfeilgifte der Eingeborenen; daneben bringt ein Baum ihrer Sippe die schmackhaftesten Früchte des Landes. Strophantus gratus und andere Arten bereichern mit Strophantin unsere Herzmedikamente. Neben dem Oleander, jener herrlichen, aber in allen ihren Teilen äußerst giftigen Kübelpflanze unserer Höfe und Bal-kone, weist die Wildflora im nördlichen Mitteleuropa nur einen einzigen Vertreter auf: eben unser Vinca minor, Immergrün. Es ist eine knapp 20 cm hohe Staude mit kreuzgegenständigen, lederigen, immergrünen Blättern und immer einzeln stehenden himmelblauen Blüten/ die oft noch spät im Herbst zu finden sind. Die Blüten sind auf Insektenbestäubung angewiesen. Um diese auch absolut zu erreichen, befindet sich oberhalb der empfängnisfähigen Stelle an der Narbe eine Zone zum Klebrigmachen des Rüssels der Besucher und ein Ring mit Borstenhaaren zum Abstreifen der Pollen. Ihre Standorte: Wälder, Hecken, Gebüsch überzieht sie mit bis zu 60 cm langen Ranken.
Einige verwandte Zierformen, darunter solche mit gelb- und weißgescheckten Blättern., werden vereinzelt in Gärten kultiviert. Immergrün eignet sich ausgezeichnet zum Bepflanzen schattiger Orte in Anlagen und auf Rabatten und ist besonders auf Friedhöfen beliebt. Auf den Gräbern wachsend, versinnbildet es das unvergängliche Leben und ist Symbol der Hoffnung, der Treue und Beständigkeit. Schon seit dem frühesten Mittelalter zählt das Singrün zu den typischen Blumen des Bauerngartens neben Pfingstrose, Sturmhut, Maßliebchen u. a. Im Gebrauch als Heilkraut stand Immergrün nie besonders hoch im Wert beim Volk; bei Wunden, Zahn- und Halsweh kam es gelegentlich zur Anwendung. Um so größer aber war sein Ansehen als Zauber- und Orakelpflanze. Hier darf ich wieder die „Rheinische Volksbotanik“ des unvergeßlichen Prof. Nießen als Beleg zitieren. Er schreibt: „-1585 erschien in Mainz der Gart der Gesundheit‘, . . . ein Kräuterbuch, das den ganzen damaligen Arzneischatz behandelt und grundlegend für die Ansichten über die Heilkräfte mancher Pflanzen ist:
Berwinca, syngrün. „Welcher diß krut by yme draget vber den haft der tüfel kein gewolt. Vber welcher hußdorn diß krut hanget der imme mag keyn zauberey können kompt sye aber in das huß so wenet sye darin verraden syn und wychet balde darvß.“
Und Seite 246 der „Rheinischen Volksbotanik“ heißt es: „Im Oberbergischen flochten Mädchen in der Matthiasnacht (23. Februar) einen Kranz von Singrün oder Immergrün (Vinca minor) und einen von Stroh und nahmen eine Handvoll Asche. Damit gingen sie um Mitternacht schweigend an eine Wasserquelle, wo sie die drei Sachen schwimmen ließen; mit verbundenen Augen tanzte eines nach dem anderen ums Wasser und griff dann hinein. Griff es ein Immergrün, so bedeutete das den Brautkranz, griff es Stroh = Unglück, griff es Asche = Tod.“
Mit unserer Vinca hat es aber noch eine andere Bewandtnis. Seit etwa 1956 schlossen sich einige gleichgesinnte Männer aus Ahrweiler, unter ihnen auch der Schreiber dieses Beitrages, zu dem Arbeitskreis „Vinca“ zusammen. Das gesteckte Ziel sollte sein: systematisches Ausfindigmachen und bestimmte Feststellung römischer Siedlungen im näheren Heimatgebiet sowie über die Grenzen des Kreises hinaus. Das konnte uns einen Erfolg versprechen durch Arbeit mit Spaten und Hacke. An ungezählten Stellen führten wir Schürfungen aus, die immer wieder positive Beweise ergaben. Unser letztes in Angriff genommenes Großprojekt sind die heutigen „Ausgrabungen“ im jagen 2-1, am Maar im Ahrweiler Stadtwald. Ein gütiges Geschick hat es gewollt, daß die von der „Vinca“ begonnenen Grabungen in die Hände der dafür zuständigen Stellen und Facharchäologen gekommen sind. Bekanntlich führt Herr Prof. Dr. Kleemann vom Institut für Vor- und Frühgeschichte der Uni Bonn mit einer Gemeinschaft internationaler Studenten alljährlich im Sommer die Ausgrabungen weiter.
Bei Besuchern unserer Arbeiten und bei Führungen stand immer wieder die eine Frage im Vordergrund: wie seid ihr auf diese Stelle gestoßen, woraus konntet ihr auf Reste römischer Siedlungen schließen? Und wir hatten immer nur die eine Antwort: „Hier wächst die Vinca l“ So sonderbar es klingen mag: Den ersten Hinweis für beginnende Schürfungen gab uns das Immergrün. Ob in der Umgebung von Ahrweiler, ob weiter darüber hinaus, ob in der Eifel oder auf dem Hunsrück: wo Vinca wächst, sind in nicht allzuweiter Entfernung Reste römischer Niederlassungen, Straßen, Wasserleitungen usw. zu finden. Wir sind bis jetzt noch in keinem Falle enttäuscht worden. Da drängt sich uns die Frage auf nach dem Warum. An anderer Stelle wurde schon erwähnt, daß das Immergrün heute noch zu den bevorzugten Friedhofspflanzen gehört. Entsprechend seinem Charakter muß es in die immergrüne Mittelmeerflora eingruppiert werden. Da nun die Römer bekanntlich einen ausgeprägt hochstehenden Totenkult pflegten, darf mit
aller Wahrscheinlichkeit angenommen werden, daß sie neben vielen anderen Pflanzen (Weinrebe, Ilex) auch die Vinca in unsere Breiten eingeführt haben. Auch ihnen galt die Totenblume als Sinnbild der immerwährenden Treue und des unvergänglichen Lebens. Die Tatsache, daß die Vinca nur als einzige wildwachsende Art ihrer vielzähligen Sippe in unseren Breiten, die sich mit dem Siedlungsraum der römischen Herrschaft in etwa decken, vorkommt, darf die eben erwähnte Annahme bekräftigen. Als Flüchter hat sie sich bis heute nicht allzuweit von ihren Standorten entfernt. Ein Verpflanzen mißglückt sehr selten.
Berfink – Singrün – Immergrün – Vinca minor l.
Bescheiden und genügsam mit Boden und Licht fristet sie ihr immerwährendes Leben im Schatten unserer Wälder. Ihre himmelblauen Sterne begeisterten immer wieder die Dichter für ihre Lieder: die blaue Blume der Romantik schlechthin.
„Doch wer die blaue Blume finden will, der muß…
1) Kiezen waren aus geschälten Haselnußstöcken gebastelte Traggeräte für alt und jung.