Verjeben und verjessen
Von Dr. Carl Müller (Jugenderlebnis)
Wir hatten einen Professor für Französisch, einen Mitschüler namens Sievers und einen Accent circonflexe für die Schikane. Der Sievers war lustig, der Professor streng, und der Zirkumflex war greulich. Immer rutschte er aufs falsche e, aufs falsche a. Der Sievers nannte ihn deshalb den Akzent Zirkushex. Was ihm eine Stunde Karzer eintrug. „Wejen Verächtlichmachung orthographischer Lautzeichen“, sagte der Professor.
„Du, Müller, paß auf“, flüsterte Sievers in der ersten französischen Klassenarbeit zu mir herüber: „nous donnames, g’hört einer nauf oder net?“ Der Sievers hatte eine Flüsterstimme, die man im übernächsten Schulhof hören konnte. Daher stürzte der Professor, bevor ich was erwidern konnte, schon vom Pult: „Sievers, du hast betrojen!“
Das war in der Untertertia. In der Obertertia kriegten wir ihn wieder, den Grammatikhengst. Er verlas die Schülerlisten: „Sievers?“, sagte er, „richtig, ich kenne Dich, Du hast mich zwar einmal schändlich belojen und betrojen, aber das soll verjeben und verjessen sein.“
Sievers‘ Vater wurde versetzt, und Sievers‘ Sohn kam in eine Schule am anderen Ende des Reiches. Das war in der Untersekunda. In der Obersekunda starb Sievers‘ Vater. Sievers‘ Sohn kam wieder zu uns. „Ein Neuer?“, sagte der Französisch-Professor, „Sievers heißen Sie? Jaja, ich weiß, Sie haben mich zwar einmal schändlich belojen und betrojen, aber das soll verjeben und verjessen sein.“
Im Kriege traf ich den längst pensionierten Professor wieder. Ich erzählte ihm von Sievers. Er schlage sich draußen wie ein Löwe. Sein Name ging durch alle Blätter. „jaja“,sagte der alte Herr nachdenklich, „der Sievers – ich weiß, er hat mich zwar einmal schändlich belojen und betrojen, aber das soll verjeben und verjessen sein.“
Nach dem Krieg war der Professor ein teilnahmsloses, verhutzeltes Männchen geworden. Sein Vermögen war im Markzusammenbruch zerronnen. Die karge Pension schützte ihn nicht vor Hunger. Er pilgerte mit einer Bittschrift aufs Versorgungsamt. „Solche Fälle entscheidet der neue Oberbürgermeister selber“, sagte der Beamte.
Er stand vor dem Gewaltigen. Der legte dem alten Männchen lächelnd die Hand auf die Schulter: „Ist bewilligt“, sagte er, „sogar in doppelter Höhe, wenn es Ihnen recht ist – kennen Sie mich nicht mehr, Herr Professor?“
Der Gewaltige von einst schaute hilflos: „Sind Sie – sind Sie der – der Sievers, der sich einmal . . .
Er schluckte.
. . der Sie einmal schändlich belojen und betrojen hat, Herr Professor, mit dem Akzent Zirkushex von nous donnames, wenn ich nicht irre. Aber geben Sie mir die Hand, mein lieber Herr Professor. Es soll verjeben und verjessen sein.“