Rotkehlchen gründet eine Familie
Von Julius Eigner
Rotkehlchen unser Hausfreund Foto: Julius Eigner
Am Morgen in aller Frühe, als ich die Haustür öffnete, kam mir Schnick, unser Rotkehlchen, entgegen. Ich hatte ihn seit Tagen nicht mehr gesehen und war glücklich, daß er sich unserer noch erinnerte. Er kam in den Flur und fraß Weißbrot und Mehlwürmer. Und als von draußen ein Rotkehlchenlied erklang, antwortete er, obwohl er in dem Augenblick gerade einen Mehlwurm im Schnabel hatte. Das Lied aber war für ihn nicht etwa schöner Gesang, sondern eine Kampfaufforderung, und so blieb er nicht länger bei mir, sondern flog eilig dem Sänger entgegen. Schon seit Anfang März, als das Wetter warm wurde, war er nicht mehr so regelmäßig zu uns gekommen wie im Winter. Wir wußten, daß er Frühlingsgedanken im Kopf hatte, und das bedeutete: viel Singen, alle Eindringlinge aus dem Revier hinauswerfen und seine Frau jagen. Erst als eine Kältewelle einsetzte, kehrte er zurück, und von da an kam er regelmäßig, und nun erlebten wir, eigentlich zum erstenmal, das Heranwachsen seiner Familie. Es begann damit, daß er eines Morgens am Fenster einen Mehlwurm entgegennahm, ihn aber nicht fraß, sondern sich verbeugte und dabei mehrmals mit dem Schnabel auf die Fensterbank klopfte. Wir wußten nicht sogleich, was er meinte, er wiederholte also die Zeremonie und sprach auch zu uns, bis wir ihm schließlich noch einen Mehlwurm reichten. Den nahm er hastig und mit beiden im Schnabel flog er davon. Nun war uns sein Verhalten klar: sein Weibchen saß auf den Eiern und er mußte sie füttern. Wir waren gerührt, daß Schnicks Vertrauen soweit ging, daß er uns das Ereignis in seiner Art mitteilte. Ein paarmal sahen wir auch, wie ihm seine hungrige Frau entgegenflog und sich auf dem Holunderbusch, unmittelbar am Fenster, von ihm füttern ließ. Schnick ist ein kluges Vögelchen. Nachdem er festgestellt hatte, daß er von uns alles bekam, was er zu fressen wünschte, verließ er sich ganz auf uns. Wir befürchteten, daß wir ihn dadurch demoralisierten, fuhren aber dennoch in unserm Tun fort, denn sonst wären uns viele reizende Beobachtungen entgangen. Die weiteren Erlebnisse zeigten überdies, daß diese Befürchtungen unnötig waren, denn so leicht lassen sich Tiere ihrem eigenen Wesen nicht entfremden. Schnick entpuppte sich bald als ein echter Kavalier. Wenn er zur Morgendämmerung ins Zimmer kam und seine Würmer abholte, dann fraß er sie keineswegs selbst. Er fütterte zunächst seine Frau, und erst nachdem er ein halbes Dutzend Flüge zu ihr hinter sich hatte, blieb er und fraß sich vor unseren Augen satt. Nur einmal erlebte ich, daß er einen Wurm, den er seiner Frau bringen wollte, selbst fraß, wahrscheinlich hatte er solchen Heißhunger, daß er ihm nur aus Versehen in die Kehle gerutscht war. Als wolle er das Versehen wieder gutmachen, nahm er sogleich mehrfach drei Mehlwürmer in den Schnabel und brachte sie ihr.
Für eine Weile gewöhnte er es sich an, seine Morgentoilette auf dem Tisch neben meinem Bett zu machen. Er saß auf der Tischdecke, oft kaum eine handbreit von meinem Kopf entfernt, und putzte sich die Federn, streckte Flügel und Beine lang aus, gähnte, oder was immer diese Bewegung bedeutete, und trank aus meinem Wasserglas, sehr anmutig und zierlich. Ich bin sicher, daß ich es lange Zeit gar nicht bemerkte, denn er war ganz leise. Außerdem erschien er wahrscheinlich schon, als es noch dunkel war, denn das Rotkehlchen, als Dämmerungstier, gehört zu den allerersten Aufstehern.
Einmal gingen uns die Mehlwürmer aus. Wir waren verzweifelt und gaben recht viel Fahrgeld aus, aber nirgendwo gab es welche zu kaufen. Da kam Schnick mehrfach mit einem selbstgefangenen Insekt ans Fenster, knickste und wartete solange, bis wir ihm ein Stückchen Kuchen gaben, und mit Kuchen und Insekt eilte er weg und fütterte seine Frau. Reichten wir ihm ein Kuchenkrümel und er hatte gerade Lust auf Käse, dann rührte er den Kuchen nicht an, sondern wartete voller Ruhe, bis wir ihm Käse gaben. Als ich um diese Zeit im Garten nach Regenwürmern für unsere junge Amsel suchte, kam Schnick heran, langsam und überlegend, und dann, anstatt sich selbst einen Wurm aus der Erde zu holen, flog er auf den Topf, ich den ich die Würmer tat, und angelte sich einen heraus. Offenbar ist er für Arbeitsteilung; wenn andere sammeln, dann braucht er es nicht zu tun. Schließlich kam ein Tag, der wieder etwas Neues brachte. Schnick kam ins Zimmer und blieb bei mir über eine Stunde. Er flog umher, setzte sich auf die Stehlampe, auf den Kopf der Echnaton=Büste, auf den Kleinen Brockhaus und kam mir auf die Hand, wenn er hungrig war. Er fraß viel, aber er fraß es vor meinen Augen, und wenn er hinausflog, nahm er nichts mit. Wir erschraken und befürchteten, daß dem Nest oder seiner Frau etwas zugestoßen sei, aber als wir am Tagebuch nachsahen, erfuhren wir, daß nun die Zeit gekommen war, wo die Jungen ausgeschlüpft sein mußten. Das bedeutete auch, daß die Frau nun wieder für sich selbst sorgte. Wir hatten das Gefühl, daß sich Schnick dieser Freiheit freute, denn er blieb fast den ganzen Tag bei uns im Zimmer. Und da ich zu dieser Zeit krank im Bett lag, war mir seine Gegenwart doppelt lieb. Am Abend hörte ich ihn nach langer Zeit wieder singen. Die ersten Tage der Kinder, in denen die Eltern mit dem Füttern sehr vorsichtig sind, gingen jedoch vorüber, und bald flog Schnick Mehlwürmer und Kuchen, die er bei uns in großen Mengen bekam, ab und verbesserte damit die Insektenkost der Mutter. Wenn wir jemals befürchtet hatten, daß Schnick durch den Umgang mit Menschen veranlaßt werden könnte, seine Vaterpflichten oberflächlich zu nehmen, dann wurden wir jetzt eines besseren belehrt. Schnick war ein guter Vater, und es rührte uns immer wieder, mit welchem Ernst er seine Pflichten gegenüber Weib und Kindern erfüllte. Wenn er einmal entschlossen war, seine hungrigen Kinder zu sättigen, dann kostete uns das viel Zeit. Einmal zählten wir achtzehn Flüge von meiner Hand zum Nest hintereinander. Wir wußten, wo er sein Nest hatte, aber wir hielten uns mit Absicht davon fern, denn wir wollten die Tiere nicht erschrecken. Aber eines Tages näherte ich mich doch der alten Mauer und sah Schnick durch einen Spalt zwischen zwei Steinen ein= und ausfliegen. Als ich näher an das Nest heranging, entdeckte er mich und flog weg. Ich sah noch, wie er am Küchenfenster bei meiner Frau Käse holte, auf einen dürren Ast in der Nähe der Mauer flog und von dort um sich schaute, ehe er das Nest anfliegen wollte. Und dabei entdeckte er mich. Er entfernte sich immer mehr vom Nest, von Ast zu Ast hüpfend, und war schließlich meinen Augen entschwunden. Dann kam der Tag, da flog Schnick, wenn er sich bei uns einen Schnabel voll Würmern geholt hatte, nicht mehr zu der Mauer, sondern in das Unterholz neben der alten Eiche, und so erfuhren wir, daß seine Kinder das Nest verlassen hatten. Als sie ausflogen, war es kalt und regnerisch, so daß alle unsere Vogelfreunde den ganzen Tag über zu mir ans Fenster kamen und dort fraßen. Ich gab ihnen alles, was sie wollten. Gegen Abend setzte heftiger Regen ein, und noch einmal gab es ein großes Gedränge auf der Fensterbank. Zur Dämmerzeit, als die Meisen schon Feierabend machten, kam Schnick nochmals. Er war ganz naß und sah jämmerlich aus, dünn und erschöpft. Er nahm drei Würmer und flog weg, war sogleich zurück und nahm abermals drei. Er flog elfmal hintereinander hin und her, und nicht ein einziges Mal sah ich, daß er selbst etwas fraß. Während dieser Zeit war ich sehr mit meiner Arbeit beschäftigt, aber ich fütterte ihn jedesmal, wenn er kam. Ich muß ihn aber doch ein paarmal übersehen haben, denn plötzlich sang er mich von draußen laut an, eine sehr liebenswürdige Art zu sagen, daß er ungeduldig sei. Ehe es ganz dunkel wurde, sah ich noch, daß er nun seine Kinder nicht mehr dicht am Boden, sondern schon im Gebüsch suchte, ein Zeichen, daß sie sich langsam höher gearbeitet und somit größere Sicherheit für die Nacht gefunden hatten. Dann hörten wir Schnick noch ein paarmal singen, und dann brach die Nacht herein. Die besonderen Anstrengungen, die er an diesem naßkalten Abend machte, waren leicht genug zu verstehen: die Kinder, die nun nicht mehr die Wärme des Nestes hatten, mußten mit Nahrung bis obenhin vollgestopft werden, damit sie die Nacht überleben konnten. So schnell wie die Kälte kam, verging sie auch wieder. Am nächsten Morgen erhob sich eine goldene Sonne über den dampfenden Wiesen, und wir atmeten auf, weil es nun so warm wurde, wie es die kleinen Vögel brauchten. Den Kleinen aber ging es gut. Das erfuhren wir wiederum von Schnick selbst, der den ganzen Tag über zu uns kam und ununterbrochen Futter holte. Er war wieder unsere ganze Freude: er kam auf den Tisch, auf meinen Schuh, schließlich auch auf mein Knie, und blieb dort sitzen, bis er drei Würmer gefaßt hatte, mit denen er im Gebüsch verschwand. Von nun an brauchte er sich um seine Kinder nicht mehr zu ängstigen, das Wetter war schön, und zu fressen gab es für alle genug. Ab und zu sahen wir eines von ihnen im Gebüsch, aber immer nur für kurze Zeit, denn die Eltern sahen darauf, daß die Kleinen immer in Deckung blieben. Nach gut zwei Wochen, abermals in der Frühe, sahen wir Schnick auf dem Rasen unseres Gartens und unter der japanischen Quitte drei junge Rotkehlchen. Sie sahen entzückend aus. Gern hätten wir gewußt, ob er nicht noch mehr Kinder hatte, aber das erfuhren wir nicht. Die Kinder waren jetzt schon recht selbständig geworden, sie suchten ihre Nahrung zum Teil selbst, denn nur selten sahen wir, daß sie ihren Vater noch anbettelten. So mußte es wohl auch sein, denn nun hörten wir Schnick wieder abends und morgens singen, sahen, wie er emsig sein Revier umflog, und ab und zu erblickten wir auch seine Frau. Noch ehe die erste Brut ganz selbständig geworden war, begann er erneut um seine Frau zu werben. Ein paarmal beobachteten wir, wie er ihr zärtlich einen Mehlwurm in den Schnabel steckte, und dann, als die Zeit der zweiten Brut kam, spielte sich alles noch einmal fast genau so ab.