Rheinische Straßen – Schauplatz, Lebensraum, Verkehrsweg
Rheinische Straßen
Schauplatz, Lebensraum, Verkehrsweg1)
Dr. Fritz Langensiepen
Straße – das ist Alltag. Wer den Wandlungen der Alltagskultur nachspüren, wer sie analysieren will, der kann sich dem Thema „Straße“ keinesfalls entziehen. Denn die alltägliche Straßenkultur ist Ausdruck unseres Gemeinschaftslebens und ein bestimmender Teil unserer Lebenswirklichkeit. Die Betrachtung der ganz alltäglichen Erscheinungen in ihrer historischen Entwicklung kann die heutige Situation des Lebens und Zusammenlebens verdeutlichen.
Was nun regionale Kultur in ihren alltäglichen Ausprägungen, in ihren Zusammenhängen und in ihren geschichtlichen Wandlungen ausmacht, dies aufzunehmen, festzuhalten und zu dokumentieren, ist die gesetzlich verankerte Aufgabe des Amtes für rheinische Landeskunde als einer Außendienststelle des Landschaftsver-bands Rheinland. Bei Fragen der regionalen Geschichte, Sprache und Volkskultur ist das Amt für rheinische Landeskunde für die rheinischen Städte, Gemeinden und Kreise da.2)
Rheinische Straßen mußten uns folglich bei unseren landeskundlichen Bestandsaufnahmen intensiv beschäftigen. Wir widmeten dem Thema eine große Sammlung historischer Fotografien, an der sich viele hundert Interessierte, Kenner und Forscher im ganzen Rheinland zwischen Nahe und Niederrhein beteiligten. Die Fotografie ist ja ein ganz wesentliches Zeugnis der Volkskultur geworden, denn die Erscheinungen des normalen, gewöhnlichen Alltags vor 80 oder vor 60 Jahren sind nicht unbedingt in schriftlichen Quellen festgehalten, Zeitzeugen, die uns anschaulich und authentisch darüber berichten können, werden weniger. Aber die damals fotografisch aufgenommenen Bilder können erzählen, können uns auf Dinge aufmerksam machen, die eigentlich unbekannt und unentdeckt sind, weil sie im Augenblick ihrer Gegenwart allzu selbstverständlich waren.
Über 4.000 Fotos zum Thema“Straße“ gingen in wenigen Wochen beim Amt für rheinische Landeskunde ein. Die große Zahl der uns zugesandten Fotodokumente darf eigentlich nicht verwundern. Denn einmal ließen die bescheidenen technischen Möglichkeiten der frühen Berufs-, Dort- und Freizeitfotografen nur Aufnahmen im Freien, und das hieß vor allem auf der Straße, zu, zum anderen war die Straße der wichtige Lebensraum des Arbeits- und Gemeinschaftslebens, der typische Ort der Öffentlichkeit. Literarische, mundartliche Quellen bestätigen immer wieder: Die alten rheinischen Straßen hatten die Funktion eines Szenariums, in dem die Leute sich zeigen und sich darstellen konnten.
Die Menschen nutzten die Gelegenheit gern. Mancherorts im Rheinland wurde wegen der Neigung, sich auf der Straße zeigen zu wollen, Spott laut. Geht es auch zu Hause reichlich schlicht zu, so heißt es, auf der Straße will man im schönsten Staat prunken: Op der Strooße fing un Juchhei, derheim statt Kaffee Zuckerei.3) (Zuckerei soll „Zichorie“ sein, der bescheidene Kaffeersatz).
Mundartautoren des 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts zeichnen in ihren Erzählungen, Gedichten und Romanen das Bild der aus mancherlei Gründen und Anlässen bevölkerten und belebten Straßen in rheinischen Dörfern und Städten. Anlässe, sich auf der Straße zu treffen oder gemeinsam auf der Straße zu feiern, gab es genug: Kirmes, Schützenfest, Karneval, Markttage, Maifeste, Umzüge und Prozessionen zu den verschiedensten Terminen.
Zu solchen Gelegenheiten schmücken sich nicht nur die Menschen selbst und ziehen ihr Pooschenbästes an, sondern sie geben auch ihren Straßen ein üppiges und leuchtendbuntes Gepränge. Das Dort, die Nachbarschaft, das Viertel wirkt gemeinsam in tagelangen Vorbereitungen, um die Straße festlich herauszuputzen. Bunte Fahnen, Blumengirlanden, Wimpelbänder, Ehrenporten, Triumphbögen, Bildteppiche aus farbigem Sägemehl oder aus Blumen, Maien und Tannengrün am Straßenrand, mit sinnreicher Kunstfertigkeit errichtete Straßenaltäre:
Die Dorfstraße seit eh und je ländlicher Lebensraum (Gönnersdorf um 1920)
Viele unserer Fotodokumente schildern plastisch, wie den Straßen mit großem Aufwand ihr sehr vergängliches Festtagsgewand angelegt wird, das sie zum würdigen Schauplatz öffentlicher Auftritte macht.
Auch an den Werktagen war Leben auf der Straße. Sie war der Spielplatz, auf dem die Kinder sich am liebsten trafen und sich auch ohne Gefahr treffen konnten. Im Laufe der Zeit hat sich eine ganze Reihe von typischen Straßenspielen herausgebildet, die wir eigentlich nurnoch aus der Erinnerung kennen: Ballprobe, Hüpfkästchen, Reifschlagen, Seilspringen, Klikker, Kreiselspiel. Ja selbst den Drachen ließen die Kinder steigen, wenn der Wind ordentlich durch die Straßen ging. Die Straße bot Raum für „ungeniertes Spielen“.
Sag. weiß do noch, wie meer met Ömmer spillten
Un ob dem Domhoff schmeckten unsen Dopp ?… Weiß do och noch, wie meer ob Platz un Stroße Ganz unschineet gespillt han Platsch un Roß Un han der Pattevugel obgeloße?4)
Natürlich tummeln sich auch heute noch Kinder auf der Straße. Aber die Welt ist riskant geworden für die jungen Skateboard- oder Rollerskate-Fahrer, die ihre Kunst zwischen vorbeischießenden und parkenden Autos probieren müssen.
Am Feierabend bot die Straße Platz zur Unterhaltung und zu jener schlichten Entspannung, vor dem Haus zu sitzen, zu erzählen und dem Treiben der Nachbarschaft zuzuschauen. Solche Feierabendszenen von rheinischen Straßen gibt es in vielen mundartlichen Schilderungen. Sie müssen einen tiefen Eindruck bei denen hinterlassen haben, die sie miterlebten. Auch heutige Mundartsprecher kommen ganz spontan, nach Erinnerungen befragt, immer wieder auf das Bild der Straße am Ende eines arbeitsreichen Tages. Das Bild ist auch immer wieder aus ganz ähnlichen oder den gleichen Bestandteilen zusammengesetzt, die eine angenehme, entspannte, gemütlich-zufriedene Stimmung hervorrufen, deren Charme man sich nicht leicht entziehen kann. Der Vater sitzt, seine Pfeife rauchend, auf dem Dörpel, die Mutter läßt die Stricknadeln klappern, die Nachbarn lehnen auf dem Gartenmäuerchen, freundliche Worte wechselnd. Schwalben und Mauersegler schwirren durch den abendlichen Himmel.
Die Gäßcher su eng un su klein Wo ovends die Nohbere soßen, Un babbelten jet met einein!5)
Man kommt von dem Gefühl nicht los, in ein kleines, wohlsortiertes Paradies hineinzublikken und -zuhören, in dem alles noch seinen richtigen Platz hat – literarisch gesehen ein Idylle, die leicht verklärende Züge enthält.
Und heute: Es wäre wirklich falsch zu behaupten, daß unsere Straßen diese Formen der Begegnung nicht mehr zuließen und uns die Luft zum Atmen abschnürten. Natürlich treffen sich die Mädchen und Jungen heute nicht mehr am Platz bei dem Brunnen oder bei der Pumpe, wie unsere Großeltern dies in ihrer Jugend taten. Aber die heutigen Teens haben auch noch ihre Treffpunkte an der Straße, z.B. an den dafür beliebten Bushaltestellen. Der Plausch am Gartenzaun ist noch nicht ausgestorben, aber dennoch: Das Bild von der alten Straße kann sich verklären, weil es von den aktuellen Verhältnissen weit entfernt ist. Auf unseren Straßen heute dominiert eine ungute Atmosphäre: begegnungsfeindlich, menschenfeindlich, die Umwelt störend oder zerstörend.
Die Straße als „Kinderspielplatz“ (Heimersheim in den 1920er Jahren)
Die Straße war früher, wie viele Bilder unserer Fotosammlung bestätigen, belebt und bevölkert. Das ist in einigen Fällen von den Fotografen gewollt, inszeniert und stilisiert worden. Das entsprach aber auch der Realität. Auf der Straße wurde gearbeitet, gehandelt, gefeiert, gespielt. Und wenn sie auch eng, krumm und holprig war, die Straße, so war doch Platz für Leben. Für die Gemeinschaft bedeutete das viel. Uns ist das heute weitgehend abhanden gekommen. Denn die Motorisierung mit den unbestritten großen Möglichkeiten der Massenmobilität, die Individualisierung des Personen-und Lastverkehrs, die uns enorme Reichweite und Bewegungsfreiheit bescherte, führten andererseits zum Verlust vieler Funktionen der Straße, zur Standardisierung und Regulierung des Straßenbildes. Rheinische Straßen sind heute zunächst und zumeist Verkehrswege. Man muß sich vergegenwärtigen: Im Rheinland herrscht die größte Verkehrsdichte ganz Europas.
Verkehrswege waren die rheinischen Straßen naturgemäß auch früher. Aber der Charakter und Stellenwert dieser einen Funktion unter mehreren unterschiedlichen Funktionen sahen anders aus. Langsame Fahrzeuge und ein geringes Fahrzeugaufkommen kennzeichneten den Verkehr auf den Eifeler Straßen nach dem Ersten Weltkrieg. Die Straßenverhältnisse waren übersichtlich, die Geschwindigkeit der Fahrzeuge eher gemächlich, wie eine landeskundliche Analyse aus den 20er Jahren nachweist. „Langsame Ochsenkarren, aber auch leistungsfähigere Pferdegespanne im Dienst von Landwirtschaft und Frachtverkehr, Holz- und Steinfuhren, dann und wann ein sich schon von weitem durch seinen Lärm verratendes Personen- oder Lieferauto städtischer Geschäfte, das sind alltags das belebende Element der zumeist stillen Straßen unseres Gebiets.“6)
Doch kommt eine andere Untersuchung über die Verkehrsverhältnisse am Nordrand der Eifel in den 20er Jahren zu dem Ergebnis, daß „der lokale Verkehr und der Verkehr zwischen den einzelnen Städten … sich mittels des Autos wieder mehr auf den Straßen“ abspiele und weniger auf der Schiene.7) „Im Aachener Bezirk“, so heißt es, „hat der Kraftwagenverkehr gewaltige Formen angenommen.“8) Gewaltige Formen – wie relativ sind solche Einschätzungen! Voll ungläubigen Staunens wird der Verkehrsexperte konkreter: „So wurden in einem Zeiträume von acht Tagen auf der Straße von Aachen über Düren nach Köln 12.575 Wagen, Last- und Personenautomobile gezählt. Die Zahl von 1600 pro Tag spricht unbedingt dafür, welche Belastung dieser rege Verkehr für unsere Straße bedeutet.9) „Aus heutiger Sicht sind das geradezu lächerliche Zahlen. Zweifellos aber macht die Statistik die einsetzende Motorisierung und damit die unaufhaltsame Wandlung der Straße zum Verkehrsweg deutlich. Eine neue Epoche beginnt. Die Entwicklung nimmt aber im Laufe der Zeit bedrohliche Züge an. Auf eben der Strecke Aachen – Köln, also der heutigen A 4, betrug nach der letzten Zählung im Jahre 1990 der durchschnittliche Verkehr im langjährigen Mittel an die 70.000 Kraftfahrzeuge pro 24 Stunden.
Die Monofunktion der Straße als Verkehrsweg für Kraftwagen kann nicht anders als frustrierende Folgen haben. Wen wundert es, wenn der an den Rand gedrängte Straßenpassant seinem Unmut über die Vorherrschaft des Autos Luft macht: De Autos flutschen durch der Dreck un huppe: paßt doch op. Von hinger un von vor bekleck steiht mer un schängk mer drop.10) Es kann bei solchen Beobachtungen nicht darum gehen, nun im Gegenzug das große Loblied auf die Vergangenheit und die Epoche vor der Motorisierung des Straßenverkehrs zu singen. So dolle waren die früheren Zeiten wirklich nicht! Und die Zeitgenossen, die über die alten Straßenfotos spazieren oder kutschieren oder ihre Schüreskaa schieben oder die Kühe treiben oder das Brot ausfahren, werden die Straße nicht nur als Ort der Glückseligkeit gepriesen haben.
„Straße“ war eben auch der Begriff für Herumtreiberei und Schnorrantentum und für unordentliches Leben und Verwahrlosung. „Straße“ galt als Ort des Lasters. „Straße“ war ein Synonym für Gewalt, für nutzlose Zerstörung, Willkür. Wohlmeinende und Leute, die sich auf ihre Lebenserfahrung etwas zugute hielten, warnten vor den Gefahren der Straße.
In der Tat: Unsicher und gefährlich konnten die Straßen im Rheinland sein. Um 1800, also während der Franzosenzeit, hatten sich Räuberbanden breitgemacht. Viele undurchschaubare, unangenehm dreinschauende Gestalten und Gruppen des „nichtseßhaften Lumpenproletariats“ waren unterwegs auf rheinischen Straßen. Es entwickelten sich aber auch „typische Vagantenberufe“ wie Scherenschleifer, Korbflechter oder Wannenflicker, die ein Umherziehen erforderlich machten, da ihr Markt stark beschränkt war. Wer in seinem Beruf als Kolporteur oder Löffelschnitzer nicht genug Auskommen fand, mußte versuchen, seinen Lohn durch Betteln aufzubessern…11) Diese Leute auf der Straße waren anfällig für einen Wechsel in die Gruppe der Banditen. Vaganten, Briganten, Vagabunden, erratici, Landstörzer, Gardebrüder, Landfahrer oder wie immer diese umschwei-figen, unsteten Leute hießen, machten also die Straßen unsicher und das Reisen unbequem. Die seßhaften Bürgers- und Bauersleute begegneten ihnen oft mit einer seltsamen Mischung aus Furcht, Mißtrauen und heimlicher Bewunderung. So definiert ein Beobachter mit erschauderndem Unterton schon weit vor dem 19. Jahrhundert: Vagierer – „das sind betler oder abenteurer, die die gern garn antragen und aus frau Venusberg kommen und die schwarze kunst können“.12) Die bunte, aber allerlei Risiken bergende Straße kontra gefestigte, nüchterne, arbeitsame Bürgerexistenz – unsere Dokumente aus der Frühzeit der Fotografie deuten auch noch ein wenig auf diesen Gegensatz hin.
„Klappern“ während der Kartage (Ramersbach 1993)
Transportweg Straße: Abtransport von Weiberner Tuff um 1900
Wenn manche mit einem geregelten Dasein Ernst machten, dann hieß es etwa im westlichen Rheinland, also in der Aachener Kante:
Dar es gor, dat die va Jen Stroß komme.13‚) Straßendreck ist ein Wort, das uns immer wieder begegnet bis hin in formelhafte Redensarten: Der es frech wie Stroßedreck. 14) Bei den älteren mundartlichen Belegen zu „Straße“ herrschte keineswegs die positive Bewertung vor.
Die Straßenverhältnisse in den Eifeler Dörfern machten vor 150 oder 160 Jahren einen beklagenswerten Eindruck. Bei Regen und Schneeschmelze, so beschwert sich der Bürgermeister von Hetzerath, sei die Straße mit fußhohem Wasser überzogen, daher „die Kommunikation, des Schul- und Kirchenbesuches verhindert werde“.15) Die Einwohner von Biewer weigern sich, „die ausgefahrenen und kotigen Straßen auch über die Couloirs hinaus zu reinigen ..,“16‚ Von Schlamm und Staub, von Glatteis und Schneemassen, von tierischem Dünger und von „vegetabilischen Niederfällen“ auf der Fahr-bahn ist in Beschwerden und amtlichen Verordnungen die Rede.
Unn in die Flesser an de Stroße
Honn Leit die Mistpuhl laafe looße,
klagt um 1850 ein Hunsrücker Bürgermeister in Bildern aus seinem leidgeplagten Leben.17)
Noch zu Anfang des 20. Jahrhunderts war keine wesentliche Änderung der dörflichen Straßenverhältnisse in der Eifel eingetreten, wie eine Bonner Dissertation zur rheinischen Agrarge-schichte von 1922 festhält und manche alte Fotografie bestätigen kann: „Und auch die Straßen zeigten unverkennbar die Spuren der Landwirtschaft, weil sie täglich vom Vieh auf dem Weg zur gemeinsamen Dorftränke benutzt werden, aber auch, weil auf die Pflege der Düngerstätten mitunter noch so wenig Wert gelegt wird, daß die flüssigen Bestandteile besonders bei Regenwetter oft genug über die Straße oder die Dortgasse hinunterspülen.“18) Der Straßenzustand damals war in einer Weise von den wechselnden Witterungsbedingungen abhängig, wie wir das heute uns nicht mehr vorstellen können. Es gibt kaum einen besseren Indikator für den radikalen Wandel auf den rheinischen Straßen als die Straßengeräusche. Das unangenehme und unheilvolle Getöse modernen Straßenlärms, über den wir trotz Flüsterasphalt und singendem Beton noch nicht Herr geworden sind, dröhnt uns in den Ohren. „Lärm auf den Straßen“ wird nach einer dpa-Meldung als die Hauptquelle allerGeräuschbelästigung angesehen.19) Dies ergab jedenfalls eine bundesweite Untersuchung. Mehr als die Hälfte der Bundesbürger fühlt sich durch den Lärm empfindlich gestört. Jeder fünfte berichtet von negativen gesundheitlichen Auswirkungen, jeder zehnte hat nicht einmal bei geschlossenem Fenster Ruhe und bleibt hoffnungslos dem Krach auf der Straße ausgesetzt.
Verkehrsweg Straße: Personen- und Gepäckkutschen im oberen Ahrtal 1907
Es läßt sich kaum mehr vorstellen, wie es früher war, als der einsame ferne Ruf eines Fuhrmanns durch die Gasse hallte oder der abendliche Gesang einer Amsel im Vorgarten eines Stadthauses die ganze Straße erfüllte. Wer sich alte Straßenbilder anschaut oder alte Mundartschilderungen liest, der ahnt noch einmal diese völlig andere Klangwelt früherer Straßen und Gassen. Die vielfältig differenzierten Klänge drücken auch die Vielfalt der Funktionen aus, die die alte Straße hatte. Da klappern Pferdehufe, da knallt eine Peitsche, da knarren Eisenreifen. Der Ausrufer läßt seine Schelle ertönen, der Scherenschleifer sein Rad surren, ein Korbhändler bietet laut rufend seine Waren feil. Vor der Schmiede klirrt der Hammer, die Kinder singen ihre Reime, wenn sie das Springseil drehen. Die Glocken hallen durch die Straße, als sich der Hochzeitszug mit der schwarzgekleideten Braut in Bewegung setzt. Hühner gakkern erschreckt, Kühe brüllen auf dem Weg zur Gemeindeweide, beim Kirmeszug wird heftig auf die „Trumm“ geschlagen.
An den Höhepunkten des rheinischen Festkalenders konnte das überbordende Lärmen auf der Straße kaum mehr zu bändigen sein: Laute Stimmen, Radauinstrumente, Trommeln, Trompeten erfüllen an Karneval die Gassen der Kölner Altstadt: Un et ging loß. Et Getrööts un Getüüts, et Gebumms un Gebrasseis rooste wie weld För üüver die Strooß …20)
An Werktagen bestimmt ein eher gedämpftes Klangmilieu die städtischen Straßen. Da lassen sich für denjenigen, der genau hinhört, noch feinste Nuancen einzelner Klänge und Laute ausmachen, selbst das zarte Schnurren des Seilerrädchens ist in der schläfrig-mittäglichen Ruhe der alten Kölner Brunostraße zu hören. Die ganze Straßenzene strahlt eine so friedliche heiter-gelassene, ja stille Atmosphäre aus, als wenn man von ihr auf direktem Weg zum Paradies gelangte. Laurenz Kiesgen, der Kölner Mundartautor, läßt mit leichter Ironie und ein wenig mit der Wehmut des Zurückschauenden aus vereinzelten, ganz alltäglichen Klangelementen noch einmal die friedliche Stimmung einer der großstädtischen Realität noch fernen Straße entstehen. Er zeichnet die Brunostraße als einen geschlossenen Lebensraum: De a/, eng Brunostroß woren stel, avgeläge Stroß, die gäge de Stadtmoor jappte, gäge de mannshuhe Wall, worop Gras un Botterblome wahßen däte. Die Seilspennerging drüvverun leetsie Rädche en die verschlofe Gaß schnorre. Dat hoot sich an, als wann einer deefun leckerem Meddagsschlöfche schnorxen dät, un op eimol hoot mer enen Hahn kriehe en die schwöl Looch, oder e Firke dät wuzzele, oder en Koh brölle, un mer kunnt faktisch meine, mer wör meddsen en der Eitel.21‚ Diese Klangeindrücke gehören natürlich noch in eine Welt, bevor dem Auto rücksichtslos Priorität eingeräumt wurde.Selbst der Verkehrslärm um die Jahrhundertwende, der schon aufdringlicher und schriller klingt, ist noch weit entfernt von dem Krach moderner städtischer Straßen, dem die Menschen heutzutage kaum entrinnen können und unter dem sie leiden. …un wann ha sich dann obreechte, för besser zu hööre, dann kom vom Maat erob et Geduusch un Karegerappeis, Hungsspektakel un Pädsbahngebimmels …22) Aber der Wandel in der Klangwelt ist da. Die Straße entwickelt sich mehr und mehr zum Verkehrsweg.
Der öffentliche Straßenraum auch heute noch Ort des Feierns (Heimatfest Adenau 1992)
Vor 120 Jahren sind die Menschen, was die Alltagsklänge auf der Straße angeht, vielleicht sogar empfindlicher gewesen als wir heutzutage. Peitschenknall, so wird öfters berichtet, war tatsächlich ruhestörender Lärm. En Fohrmann bleibt am Weerthshaus halle, heißt es in einer alten Reimschilderung vom Hunsrück, geht fürt unn strängt die Geil nitt loß. unn steert die Ruh mit Geischelknalle.23) Gut, das ist der Lärm eines geschäftigen Straßenlebens, aber er ist humaner als das unisone, monotone Gedröhne der modernen Schnellstraßen.
Die Betrachtung alter Straßenfotografien, die Durchsicht historischer Quellen oder literarischerÄußerungen machen nachdenklich. Denn aller technischen Revolution und dem bemerkenswert hohen Niveau des Straßenbaus im Rheinland zum Trotz sind unsere Straßen heute alles andere als paradiesische Orte.
Nevativvokabeln wie: steigende Verkehrsdichte, Straßenlärm, Umweltbelastung, Landschaftszerstörung durch Straßenbau, von breiten Verkehrsadern zerschnittene Stadtteile deuten auf ernste und ungelöste Probleme. Aber der Blick auf die Kultur- und Sozialgeschichte der Straße zeigt, daß sie mehr Funktionen haben kann und vor allem haben muß, als nur Verkehrsweg und Parkplatz für den ruhenden Verkehr zu sein. Es gibt gewiß Ansätze und Überlegungen, wie die Straßen in Dörfern und Städten wieder Lebensraum für die Menschen werden können. Autofreie Zonen, Tempo 30, Lärmschutz, Verkehrsberuhigung, Verlagerung eines Teils der Verkehrs auf die Schiene werden als Lösungsvorschläge diskutiert. Bei der Diskussion um menschengerechte Straßen ist es gut, zu den Wurzeln zurückzugehen, um das der eigenen Zeit Angemessene zu tun. Auch Landeskundlern, Heimatforschern und Heimatverbänden kommen bei solchen Fragestellungen wichtige Aufgaben zu.
Früher, im 18. und 19. Jahrhundert, hießen manche Straßen „Kommunikationswege“. Ein Kommunikationsweg führte z.B. von Bitburg nach Echternach. Gemeint waren mit der Bezeichnung Straßen von eher bescheidener Ausdehnung und Bedeutung, die Verbindungen zwischen benachbarten Orten herstellten. Unsere Straßen müssen in einem erweiterten Sinn wieder Kommunikationswege werden: Raum, wo alte Menschen sich gefahrlos treffen und Kinder ohne Angst spielen können, Platz für menschliche Begegnung: Vorfahrt für Menschen!Anmerkungen:
- Der Beitrag ist ei ne überarbeitete Fassung des Aufsatzes: F. Langensiepen, Rheinische Straßen. Schauplatz, Verkehrsweg, Lebensraum. • In: Eifeljahrbuch 1990, S. 16-27.
- Vgl. dazu F. Langensiepen. Landeskunde als Prinzip.-In: Volkskultur an Rhein und Maas. 1/1993, S. 5-17.
- Sprichwörter und Redensarten in Kölnischer Mundart. Gesammelt und herausgegeben von Fritz Honig. Unveränderter Neudruck der Ausgabe von 1895. Vaduz 1988, S. 142.
- Edmund Stell, Jugenderinnerungen zweier Kölner. – In: Wilhelm-Schneider-Clauss, Kölnisches Vortragsbuch, Hrsg. von Heribert A. Hilgers. Köln 1989 (= Gesamtausgabe der Werke in Kölnischer-Mundart. Bd. Vl|, S, 67.
- Ann Richarz, We et froher wor. • In: Kölsche Fraulöcks verzäll.Ein Auswahlband kölscher Mundartdichtung. Köln 1976 (= Beiträge zur kölnischen Geschichte, Sprache, Eigenart, Bd. 57), S. 62
- Wilhelm Nehm, die östliche Hocheifel. Ein Beitrag zur Landeskunde der Rheinlande. Phil, Diss. Bonn 1929, S. 47,
- Peter Laufts, Die Aachener Verkehrsverhältnisse seit Ende der reichsstädtischen Zeit 1794 Phil Diss Giessen 1927, S. 87
- Ebda. S.88.
- Ebda.
- Laurenz Kiesgen, Winterovend -In: Ders .Vumale Kölle‘. Lebensweg und Lebenswerk. Gedeechte un Verzällche, Unter den Domtürmen – Erinnerungen. Köln 1970 (= Beiträge zur kölnischen Geschichte, Sprache. Eigenart. Hrsg. vom Heimatverein Alt-Köln e.V.. Bd. 52), S. 49.
- Norbert Finzsch, Räuber und Gendarme im Rheinland: Das Bandenwesen in den vier rheinischen Departements vor und während der französischen Verwaltung (1794 – 1814). – In: Francia: Forschungen zur westeuropäischen Geschichte, Bd. 15(1987), S 435 -471, S. 435.
- S. Deutsches Wörterbuch, Bd. 25, Sp. 6(.
- S. Rheinisches Wörterbuch, Bd 8, Berlin 1958-1964, Sp. 792.
- Ebda.
- ZIt. nach Conrad von Hugo, Verkehrspolitik und. Straßenbau im Regierungsbezirk Trier von 1815 bis 1875. Phil. Diss. Bonn 1962. S. 75.
- Zit, nach von Hugo. Verkehrspolitik. S. 80.
- P[eter] J[osef] Rottmann, Gedichte in Hunsrücker Mundart. 9. Aufl. Trier 1907, S. 315.
- Franz Steinbach, Beiträge zur Bergischen Agrargeschich-te Vererbung und Mobilisierung des ländlichen Grundbesitzes im Bergischen Hügeltand • In: Collectanea Franz Steinbach, Hrsg. von Franz Petri und Georg Droege. Bonn 1967, S 355-393, S 356.
- Kölner Stadtanzeiger, 10/11. Juni 1989 – Nr 133/48: Jeder zweite klagt über zuviel Lärm
- Wilhelm Schneider-Clauss, Allaaf Kölle En Scheiderei us grosser Zick Hrsg. von Heribert A. Hilgers, Köln 1980 (= Gesamtausgabe der Werke in Kölnischer Mundart. Bd. V). S. 223.
- Laurenz Kiesgen, Et lecker Radiesge. – In: ,Vum ale Kölle (wie Anm 10). S. 148
- W. Schneider-Clauss, Alaaf Kölle. S. 219.
- Rottmann. Gedichte. S. 316.