Prag, einst Mittelpunkt deutschen Geisteslebens
VON HEINRICH O. OLBRICH
Prag ist ein Kronjuwel unter den Hauptstädten Europas. In einem weiten Talkessel gelegen, unter meist wundersamem Gespinst von Nebel und Sonne, im Schatten eines Burgbergesund Domes, um den die Natur und Kunst in gleich hoher Leidenschaft geworben, liegt es, stolz ausgebreitet, an dem Elbenebenfluß Moldau. Doch, bevor wir uns seiner näheren Betrachtung und seiner kraftvollen Ausstrahlung deutschen Geistes in Wissenschaft und Kunst der Vergangenheit zuwenden, müssen wir zunächst kurz in seiner Geschichte Rückschau halten. Aus dem tiefen Dunkel, das sich mit der Völkerwanderung auf die germanische Vorzeit Böhmens gesenkt hat, aus den Jahrhunderten der slawischen Fürstenzeit steigt im Hochmittelalter deutsches Volkstum in Böhmen zu seiner ersten Blüte empor. Die deutschen Siedler folgten der Einladung der böhmischen Herzöge, überschritten den Böhmerwald, das Erzgebirge und die Sudeten, rodeten die weiten Wälder, schufen fruchtbares Ackerland und bauten Klöster, Städte und Dörfer. Die im Mittelalter hier wohnenden Tschechen wurden gleichzeitig christianisiert und kultiviert.
Der tschechische Chronist Cosmas von Prag schreibt: „Als der erste Bischof Böhmens, Dietmar der Sachse, irn Jahre 973 in Prag einzog, grüßten ihn die Großen des Landes mit deutschem Gesang: Christe kinado, kyrie eleyson undc die Halliegen alle helfuent unse.“
In der Urkunde des Böhmenherzogs Sobieslaus, 1173 bis 1178, heißt es: „Ich, Sobieslaus, Herzog von Böhmen, tue kund allen Gegenwärtigen und Zukünftigen, daß ich in meine Gnade und in meinen Schutz aufnehme alle die Deutschen, die im Prager Suburbion (Vorstadt) leben, und ich will, daß diese Deutschen, wie sie als Nation verschieden sind von den Böhmen, auch von ihnen geschieden seien, durch ihr Gesetz und ihre Gewohnheit. Ich gewähre daher diesen Deutschen zu leben nach dem Gesetz und der Gerechtigkeit der Deutschen, die seit den Zeiten meines Großvaters, des Königs Wratislaus, 1061 bis 1092, innegehabt haben. “ Die volle .Entfaltung der deutschen Volksgruppe in die Tiefe und Breite setzte um 1200 ein. Die deutschen Gemahlinnen der böhmischen Könige entstammten meist den deutschen Herrscherhäusern, so Kunigunde von Staufen, Margarete von Babenberg, Gutta von Habsburg und andere. Auch die alteingesessenen Adelsgeschlechter wurden von der ritterlichen Kultur des Westens erfaßt; sie zogen aus ihren alten Wasserburgen auf neue Bergschlösser, und manches altböhmische Geschlecht übernahm den deutschen Namen seiner neuerbauten Burg.
Ein völlig neues Element brachten die Deutschen mit dem Städtewesen ins Land. Ein immer dichter und weiter ausgespanntes Netz von neuen Stadtsiedlungen zog sich weithin in den Osten des Landes und gab dadurch der bäuerlichen Landschaft Gliederung und Mittelpunkte für Handwerk und Handel.
Kaiser Otto III. (983—1002) verleiht dem hl. Adalbert von Prag den Bischofsstab für seine Missionsarbeit bei den Preußen (Ostpreußen). Das ob. dargestellte Bronzerelief befindet sich im Hauptportal des Domes in Gnesen und stammt, als deutsches Kunstwerk, aus dem 12. Jahrhundert.
Den deutschen Kaisertöchtern auf dem böhmischen Thron folgte in Johann von Luxemburg ein deutscher Kaisersohn als böhmischer König, und iti seinem Sohne Karl IV. vollzog sich die Vereinigung der deutschen und der böhmischen Krone auf seinem Haupte, Sein Bestreben war, Prag zum politischen und kulturellen Mittelpunkt der luxemburgischen Hausmacht und des Deutschen Reiches und zu einem geistigen und wirtschaftlichen Umschlagplatz für ganz Mitteleuropa zu machen. Wie planmäßig er vorging, zeigt eine Auswahl der Persönlichkeiten, die er selber nach Prag berief: den schwäbischen Baumeister Peter Parier, den Hofmaler Nikolaus Würmser aus Straßburg, Johannes Dambach an die Universität und viele ändere. Ihnen folgten bedeutende Männer von Rang und Namen, die sich auf diesem Neuland voll entfalten konnten.
Im Jahre 1348 errichtete Kaiser Karl IV. (1346 bis 1378) in Prag die erste deutsche Universität.
Schon in Kürze fanden sich Studierende des ganzen Abendlandes in Prag ein, zumal Karl IV. eine päpstliche Bulle erwirkt hatte, die der ganzen Christenheit empfahl, ihre jungen Ordensleute ans Prager Generalstudium zu entsenden. Studierende aus aller Herren Länder, aus allen Lebensaltern und Lebenslagen, Geistliche, Adel- und Bürgersöhne fanden sich hier in der Metropole des Geistes zusammen. Lange Zeit blieb die Universität in Prag das besuchteste General-Studium des Abendlandes. Karls IV. Bestreben war es auch, dadurch die vorhandenen noch schlummernden nationalen Spannungen zwischen Deutschen und Tschechen zu entschärfen. Erst unter der lässigen Hand Wenzels IV. flammte der tschechische Fanatismus 1415 hell auf und kam im Hussitcnsturm völlig zum Durchbruch, zumal die damalige Krisis des Abendlandes — der Zeit der 3 Päpste und der 3 Kaiser — die Gemüter allenthalben verwirrt hatte. Die Wucht des hussitischen Schlages traf das Deutschtum gleichermaßen wie die Kirche. Nur die Randgebiete Böhmens, die schon damals ein geschlossenes deutsches Gebiet bildeten, konnten sich dieses Ansturms erwehren, denn sie fanden Anlehnung bei den benachbarten Reichsgebieten. Als der Hussitensturm sich gelegt hatte und deutsche Studenten und Professoren wieder nach Prag zurückkehrten, erlangte die Universität erneut ihre Blüte.
Auch der Dreißigjährige Krieg riß die Böhmen in seinen Bann, begann doch der Krieg 1618 nach dem Fenstersturz in Prag. Deutsche wie tschechische Prager Studenten und Lehrer verteidigten später gemeinsam heldenmütig die Karlsbrücke gegen die anstürmenden Schweden. Deutsche akademische Bürger der alten Universitätsstadt waren es, die sich dann unter dem Einfluß der Ideen Herders und Schlözers (Geschichtsforscher) „unvergängliche Verdienste“ um das Entstehen einer neuen tschechischen Führungsschicht und um die Geburt der neutschechischen Schriftsprache erworben haben. Der Erfolg dieser Aufmunterung blieb nicht aus; denn schon wenige Jahre später wurde von den Böhmen eine eigene tschechische Universität gefordert. Tatsächlich wurde die Karlsuniversität 1882 geteilt in eine deutsche und tschechische Universität, und 27 Jahre später wurde die einstige berühmte deutsche Karlsunivcrsität gänzlich liquidiert, nachdem sie 600 Jahre strahlend bestanden hatte. Damit verbrach auch ein Großteil des Kulturerbes, denn die Hände, die nach ihm griffen, waren nicht befähigt genug, das Erbe weiter zu tragen.
Inmitten dieses nur angedeuteten Geschehens lag, oft sturmumwittert, aber auch besinnlich strahlend, die Hauptstadt Böhmens, „das goldene Prag“.
In majestätischer Gelassenheit und Würde wird Prag von der zackigen Krone des Veitsdomes überragt. Als Kaiser Karl IV., der größte Bauherr seiner Zeit, über den Heiligtümern Böhmens, den Gräbern Wenzels und Adalberts, auf den Grundmauern des 1060 erbauten romanischen Przemysliden Domes den gotischen Dom von St. Veit zu errichten begann, berief er den 23jährigen Peter Parier aus Schwäbisch-Gmünd an seinen Hof. Dieser entfaltete beim neuen Dombau eine solche geniale Begabung, daß er ihm auch die Errichtung der Karlsbrücke, der Brückentürme und der 30 Heiligenstandbilder, darunter der hl. Nepomuk, und den Bau der Karlsstein, der Hüterin der Reichskleinodien, übertrug. (Karlsstein ist eine Burg in Böhmen an der Beraun. In ihr residierten die Könige von Böhmen öfters.) Die Plastiker dieser Zeit schufen die großartigen Königsgräber und die herrlichen Konsolenbüsten von St. Veit. Es sind dies Könige und Fürsten, Erzbischöfe und Äbte, Stifter, Gelehrte und Meister, die alte deutsche Kunst über die Jahrhunderte hinaus bis in die Jetztzeit künden. Alle die Dargestellten sind in Stein gebliebene Deutsche, von deutscher Hand über den Wandel der Zeit erhoben; sie sind bleibende Wächter eines alten Erbes, von dem die Grundfesten des Domes immerwährend laut genug reden. Sie sind Vermächtnis einer großen und daher verpflichtenden Vergangenheit. Vom Burgberg aus erspäht man die glänzenden Türme von Strahow, wo Mozart als Organist gewirkt hat, das Waldsteinpakis, umloht vom Dreißigjährigen Krieg und die Teyükirche, in deren Glockenstube einst Kepler gestanden hat, versunken in den Anblick des gestirnten Himmels. Und unten liegt das dunkle Bild der Karlsbrücke über dem Silberlauf der Moldau. Die auffallende Musikbegabung der Böhmerdeutschen war bekannt. Die in Böhmens Nachbarländern allgemein bekannten Erzgebirgsmusikanten und Instrumentenbauer, die Fiedler und Bläser in den Gassen von Prag waren Erben einer uralten deutschen Überlieferung. Die deutschen Orden schufen in ihren Kollegien eine in der Musikgeschichte nicht zu übersehende Grundlage für das Musikleben, und Fürsten und Grafen pflegten auf den heimatlichen Stammschlössern das Musizieren und unterhielten oft kostspielige Kapellen. Das Jahr 1723 brachte für Prag durch die Königskrönung Karls VI. einen erneuten kulturellen Höhepunkt. Die berühmtesten deutschen Musiker und einige Italiener wirkten bei den Festaufführungen mit. Ein Jahr später kam Gluck nach Prag. Johann Sebastian Bach weilte mit seinem Köthencr Herzog hier und in Karlsbad. Josef Haydn schrieb auf dem Schloß Lukawetz bei Pilsen seine erste Sinfonie. Handels Mutter stammte aus Böhmen, und wenn Mozart genannt wird, dann denken wir neben Salzburg und Wien auch an Prag und Böhmen, wo er wiederholt begeistert empfangen wurde. Der „Fidelio“ wurde den Pragern durch Karl Maria von „Weber vermittelt, der am Ständetheater mehrere Spielzeiten hindurch die Oper leitete. Richard Wagner war als Knabe von Dresden nach Prag gewandert. Er ging diesen Weg noch
Die Teynkirche
in der Altstadt von Prag, war das Gotteshaus der deutschen Kaufleufe, denen schon Herzog Vratislav (f 1092) die Sonderrechte als freie Deutsche bestätigt hat. Die Kirche wird erstmals 1135 erwähnt. Unter Peter Parier, dem bedeutenden Baumeister Karls IV., erhielt sie den heutigen Stil. Vor der Kirche liegt der Aftstädtcr Ring mit alten deutschen Bürgerhäusern.
einmal im Geiste, als er die „Pilgerfahrt zu Beethoven“ schrieb. Groß war die Zahl bedeutender Orchestermusiker und Dirigenten, Instrumentalisten und Sänger, die den Mittelpunkt der deutschen Musikpflege in Prag bildeten. Ebenso hat das Böhmerland mit seiner Metropole nicht geringen Anteil an der Geschichte der deutschen Dichtung. Der bedeutendste Dichter Böhmens im Ausgang des 13. Jahrhunderts war Heinrich von Freiburg, der hier Gottfried von Straßburg’s Tristan vollendete und der mit Wolfram von Eschenbach, Konrad von Würzburg und Walther von der Vogelweide in enger Beziehung stand.
Als der Humanismus auch das Abendland erfaßte, war der Prager Hof die bedeutsame Pflegestätte des neuen Geistes in deutschen Landen.
Karl IV. (1346 bis 1378) war ein eifriger Förderer humanistischer Bestrebungen und stand mit Petrarca in enger Verbindung, Es ist bekannt, wie sehr Goethe das Böhmerland und seine Landschaft, seine Geschichte und Kultur geliebt hat. Siebzehnmal weilte er in diesem Land und in Prag, Karlsbad, Teplitz und Marienbad. Hier traf er mit Beethoven, mit der österreichischen Kaiserin Maria Ludowica, mit Naturforschern und Künstlern zusammen. Wie lebendig und ausgreifend der deutsche Geist sich auswirkte, bezeugt Thomas G. Masaryk, der Schöpfer der ersten tschechischen Republik, wenn er sagt: „Unsere Denker schöpften aus der deutschen Literatur . . . unsere Erwecker fanden ihre philosophische Grundlage in der deutschen Philosophie . . . trotz allem Enthusiasmus für die Russen und alle Slawen, trotz allen Widerstreits gegen die Deutschen, bleiben die Deutschen dennoch unsere tatsächlichen Lehrer.“ In Prag sprudelte lebendig der Quell zur Wirkungsweise der neuhochdeutschen Schriftsprache; das Prager Deutsch rühmte sich in dieser Zeit das reinste Deutsch gewesen zu sein. Nach den Befreiungskriegen kamen die bedeutendsten Stimmführer der Romantik nach Prag und Böhmen: Ludwig Tieck und die Brüder Schlegel, Heinrich von Kleist, Josef von Eichendorff, Clemens von Brentano und Franz Grillparzer.
Die magische Stadt Prag wurde noch einmal Herzpunkt deutscher und europäischer Dichtung durch Rainer Maria Rilke (1875 bis 1926) einem Erben vieler geistiger Ahnenschaft, In seiner Lyrik spielen sich die wechselvollen Bilder und Gestalten immer wieder in der Moldaustadt. Die breiteste und tiefste Wirkung von allen sudetendeutschen Dichtern hat wohl Adalbert Stifter (1815 bis 1868) hinterlassen, der sich zu einer geistesgeschichtlichen Gestalt von europäischem Ausmaß entfaltet hat. Stifter ist Erzieher gewesen im Menschlichen wie Künstlerischen. Mit der fraulichen Güte ihres mütterlichen Herzens, das den Erniedrigten und Enterbten des Lebens schlägt, steht Maria von Ebner-Eschenbach (1830 bis 1916) vor unserem geistigen Auge, deren Wiege in Mähren stand. Immer neue dichterische Gestalten mit der bilderreichen Sprache eines Hans Watzlik (1879 bis 1948) treten in unser geistiges Blickfeld, die leider mit Rücksicht auf den Umfang unserer Rückschau ungenannt bleiben müssen. In seinem „Vermächtnis an seine Landleute“ sagt Watzlik: „Wir hatten dieses Land niemandem weggenommen, wir hatten niemanden daraus verdrängt. Wir haben es in tausendjähriger härtester und entsagungsvoller Mühsal aus Fels und Dorn und Sumpf zur bewohnbaren, fruchtbaren Landschaft umgeschaffen, die wir aus öder, feindseliger Wildnis herausgehackt haben… in dumpfer, niemals berechtigter Rachsucht hat man uns verjagt.“
Aber ich kann meine Darstellung nicht abschließen, ohne aus der Fülle der lieblichen deutschen Städte des Bohmerlandes einer Stadt besonders zu gedenken, die so oft auch heute von uns genannt wird, ohne ein besonderes Beziehen als Deutsche zu ihr bewußt zu empfinden; es ist Pilsen, einst die Hauptstadt Westböhmens und eine Gründung des Deutschen Ritterordens, einstmals sogar Residenz Kaiser Rudolfs II. Die deutschen Gegenwartsmenschen verbinden zwei Begriffe mit Pilsen: Emil Skoda und Pilsener Bier. Emil Skoda, Sohn eines kaiserlichen Stadtphysikus von Pilsen, begründete Anfang des vorigen Jahrhunderts seine Werkstätte, aus der sich lawinenartig die Weltfirma der Skodawerke entwickelte.
Die Geschichte des Pilsener Bieres berichtet uns, daß einst dieses Bräu sehr schlecht war und oft den Verdruß und Ärger des Rates der Stadt hervorgerufen hat. Als die Pilsener Bürger im Jahre 1845 Wandel schaffen mußten, verpflichteten sie aus dem benachbarten Bayern, aus Pilshofen, den Oberbräuer Peter Groll, der das Pilsener Bier auf bayrische Art zu brauen begann und es zu dem weltbekannten „Pilsner Urquell“ entwickelt hat.