Onkel Alois und seine Sprüche
Franz Koll
Was mir auf Anhieb an Onkel Alois imponierte, war sein schallend-wieherndes Lachen und, am anderen Ende seiner reichen Gemütsskala, sein berstendes Fluchen.
Damals, kurz nach dem Krieg, als wir bei ihm in Staffel wohnten, war er Anfang 40. Er war nicht groß, eher untersetzt und stämmig, Junggeselle. Das dichte schwarze Haar ließ er regelmäßig scheren bis auf einen kleinen eigenwilligen Schöpf über der faltigen Stirn, den sonntags, frisch gekämmt, ein etwa fünf Zentimeter langer Mittelscheitel teilte.
Onkel Alois war Land- und Gastwirt und als solcher ziemlich respektlos allen Amts- und Würdenträgern gegenüber. Hochgestochengekünstelter Lebensstil war ihm durch und durch zuwider. Sich selbst wußte er dagegen durchaus selbstbewußt ins rechte Licht zu rükken, was mitunter ein wenig aufschneiderisch, nie aber ohne eine gewisse herbe Liebenswürdigkeit geschah. Vieles habe ich damals mit ihm erlebt, manches ist ins Vergessen gesunken, einiges aber ist so frisch in Erinnerung, als sei’s gestern gewesen.
Einmal waren wir an einem naßkalten Herbsttag in aller Herrgottsfrühe mit dem Fuhrwerk aufgebrochen; Saatgut sollte beschafft werden. Und in dieser Beziehung war Onkel Alois eigen: Nur Maria Laach kam da in Frage, wo er, wie vier seiner Brüder, seinerzeit gelernt hatte. Gegen Mittag trafen wir ein, und nachdem Sorten und Mengen in Säcke abgefüllt worden waren, wurden wir gebeten, zum Mittagessen zu bleiben. Da blitzte es aus Onkel Alois‘ lustigen Äuglein, als wollte er mir sagen: „Eine solche Ehre widerfährt dir nur in meiner Gesellschaft.“ Zu ungewohnter Größe gereckt an meiner Seite sitzend, genoß er die zuvorkommende Bedienung im herbstlich ausgekühlten und so die mönchische Askese fördernden Refektorium. Die Patres, die ihn fast alle noch kannten, waren rührend besorgt um uns. Als einer hinter ihn trat und angesichts des beinahe leer gegessenen Tellers freundlich fragte:
»Alois, soll ich noch nachlegen?«, rieb ersieh fröstelnd die Hände und erwiderte: »Ja, ja, doht noch en Stomp Holz op et Feuer, et wierd kalt!« Funk, so hieß Onkel Alois‘ brauner, knochiger Wallach, hatte inzwischen draußen reichlich aus dem umgehängten Hafersack gefressen. Einer der Klosterbrüder half mir, die schweren Getreidesäcke auf die Schnappkarre zu laden. Ich spannte an, setzte mich obenauf und ließ schon, zur Abfahrt bereit, die Leine ungeduldig durch die Finger gleiten. Da endlich kam Onkel Alois mit Pater Willigis durch die Pforte. Beim Anblick der hochbeladenen Karre und des ziemlich ausgemergelten Funk schüttelte der Pater den Kopf und meinte: »Alois, Alois, das geht nicht gut. Wie soll das arme Tier damit den steilen Anstieg am ‚Breite!‘ hinaufkommen?« Onkel Alois waren solche Bedenken völlig fremd, denn er sagte: »Wenn em dat ze vill es, hart‘ e solle Pater were«.
Der gute Funk ließ uns indessen wider des Paters Erwarten keineswegs im Stich. Wir gelangten über Engeln und Hannebach bei hereinbrechender Dunkelheit zum »Amerikaner«. Während Onkel Alois eine abenteuerliche Theorie bezüglich des Ursprungs dieses für die Eitel ganz und gar untypischen Wirtshausnamens entwickelte, spannte ich Funk aus, band ihn an und hängte ihm nochmals den Hafersack um. Wir kehrten ein und erfuhren, daß wir seit Tagen die ersten Gäste seien. Onkel Alois‘ kontaktfreudiges Wesen schien demnach hochwillkommen. So kam es, daß man nach einigen deftigen Schnäpsen schon bald vertieft war in regen Gedankenaustauch über Gott und die Welt. Als schließlich die Rede kam auf die jeweilige Milchleistung der beiden gerade frischmelkenden Kühe, war dies ein Anlaß für Onkel Alois, eine Probe seines wohl verblüffendsten Talents zu geben. Pure Literangaben taten es längst nicht mehr im Redewettbewerb. Er schaute sich vielmehr um in der Wirtsstube, die eine etwas zu groß geratene Küche war, und sprach in getragenem Crescendo, indem er mit ausgestrecktem Arm auf das wies, was ihm endlich zum Vergleich angemessen schien: »Meng Ella hätt en Ogge wie . . ., wie … der Herd do!«
Auf dem abschüssigen Weg hinunter zum Hundswinkel und weiter nach Oberheckenbach hin konnte Onkel Alois nicht an sich halten über die gelungene Darstellung seiner Wunderkuh. Mehrfach noch hallte der Wald im engen Tal wider von seinem wiehernden Lachen.
Als wir uns allerdings am späten Abend Staffel näherten, versank er in tiefes Schweigen. Kurz vor Zuhause bat er mich in ziemlich ernstem Ton: »Verzell net alles osem Maria!« Tante Maria war seine ältere Schwester und einer der wenigen Menschen, vor denen er einen gewissen Respekt hatte.
Ich habe selbstverständlich seinem Wunsch entsprochen. Nun aber ist er lange tot, und Erzählungen wie diese bewirken womöglich, daß man in Staffel bisweilen an ihn denkt.