Marga Plachner — Künstlerin und Musikpädagogin
Ein Gedenkblatt
Ernst Karl Plachner
Die am 29. Dezember 1976 verstorbene Künstlerin und „Musikpädagogin Marga Plachner kam 1909 im zehnten Lebensjahr mit ihren aus Westfalen stammenden Eltern und ihrer Schwester Ferdinande von Fritzlar nach Ahrweiler. Der Vater, Caspar Nuckel, leitete als Rentmeister die „Königliche Kreiskasse“.
Sie hatte schon als Kind mit der Schwester ersten Klavierunterricht in der Fritzlarer Ursulinenschule. Es war selbstverständlich, daß die Schwestern in Ahrweiler die Klosterschule des Kalvarienbergs besuchten. Marga Plachner fand hier in der dankbarst verehrten und geliebten Mutter Ethelberte eine Musikpädagogin von hohem Rang. Sie komponierte selbst, spielte Orgel und Klavier und verfügte über ein tiefgehendes Fachwissen. Ihre Liebe zu Johann Sebastian Bachs unerschöpflichem Lebenswerk berührte in der jungen Schülerin die tiefste Seele. „Bach“ wurde für Marga Plachner der Inbegriff musikalischer Ewigkeitswerte. Aber nicht nur die Wegführung zu Bach verdankte sie der Klosterschule. Sie fand in Mutter Deodata eine Mallehrerin, die ihre Liebe zur Malerei so zu fördern vermochte, daß zunächst außer der Musik auch die Malerei beruflich in Frage zu kommen schien. Die Eltern ermöglichten ihr fünf Jahre privaten Malunterricht, zumal sie in den üblichen Unterrichtsfächern keinerlei Schwierigkeiten hatte, sondern sogar ein Jahr aussetzen durfte, was ihr wegen Blutarmut ärztlicherseits empfohlen worden war. Sie war eine gute Zeichnerin, aber ihre ganze Liebe gehörte der Aquarellmalerei. Sie hat noch in späteren Jahren gemalt, aber es siegte die Musik.
Als junges Mädchen besuchte sie zunächst die „Königlich bayerische Akademie der Tonkunst“ in München. Ihr erster Gesanglehrer war der einst namhafte Wagnersänger Prof. von Milde. Er sagte von ihr, sie sei „Musik vom Scheitel bis zur Sohle“. Sie besaß das sogenannte „absolute Gehör“, sie konnte bei einem erklingenden Ton nur dem Hören nach angeben, welcher Ton es war. Ihre edle Begabung zeigte sich, ganz abgesehen von den mannigfachen Aufführungen in der Klosterschule, auch in ihrer neuen Heimatstadt Ahrweiler. Hier brachte einer meiner besten Jugendfreunde, der spätere Musikdirektor Josef Keip, in den Jahren 1917 und 1918 zwei Singspiele, „Die vier Jahreszeiten“ und „Die Blumenkönigin“, zur Aufführung. Die Aufführung fanden im Saale des kath. Gesellenvereins statt und waren für verwundete Soldaten gedacht. „Fräulein Nuckel“ sang die Titelrolle.
Nach der Münchener Zeit studierte sie an der „Westfälischen Hochschule für Musik“ in Münster unter Dir. Prof. Fritz Vollbach, dem Beethovenforscher und Generalmusikdirektor der Stadt Münster, mit dem sie auch in nähere Beziehungen treten konnte.
Entscheidend für ihre, weitere Ausbildung wurde aber die Opernsängerin Lili Hungar im badischen Freiburg. Die aus Leipzig stammende hochbegabte Frau hatte sich früh von der Bühne zurückgezogen und eine Gesangschule gegründet. Marga Plachner wurde eine Meisterschülerin Lili Hungars, die sie zu ihrer Assistentin machen wollte. Unentwegt hat sie die Arbeitsart Lili Hungars studiert, sich restlos zu eigen gemacht und später weiter entwickelt. Ihre außerordentliche musikalische Feinhörigkeit, verbunden mit klarer Gedankenarbeit und ständig sich erweiternden Fachkenntnissen, ihre Erfahrungen als Konzertsängerin (außer Qratorien-Partien) und Arien umfaßte ihr Repertoir rund 400 Lieder!) befähigten sie schließlich zur Gründung eines eigenen Gesangstudios.
In Koblenz hat sie 18 Jahre jede Woche mehrere Tage mit großem und größtem Erfolg gearbeitet; denn wirklicher Gesangunterricht ist Arbeit. So fragte mich mal ein biederer Ahrweiler Bürger, der im Nebenzimmer eine Weile lauschte: „Herr Plachner, is dat Jesangunterricht?“ Und als ich bejahte: „Mein Jott, dat is ja Arbeit!“…. Ergänzend unterrichtete sie auch noch in der Kreisstadt Ahrweiler, wo in der Niederhutstraße 60 ein musikalischer Studienraum zur Verfügung stand, der 60 Hörer aufnehmen konnte. Hier verkehrten namhafte Komponisten, Pianisten und andere, die so oder so mit unserer Arbeit etwas zu tun hatten. Wie herzlich innig diese menschlich-künstlerischen Beziehungen sein konnten, mag eine Postkarte des damals in Heidelberg lebenden Opern- und Orchesterdirigenten Theodor Hausmann, der auch als feinsinniger Komponist tiervorgetreten ist, nach der Bombenzeit des zweiten Weltkrieges bezeugen. Auf der Postkarte stand die Frage: „Steht das Märchenhaus in der Niederhutstraße noch?“
Marga Plachner begleitete ihre Schüler fast immer selbst. „Begleiten“ ist eine Kunst für sich. Hierzu gehört weit mehr als nur „Klavier spielen können“. Sie besaß eine „Anschlagstechnik“, die man der Feingliedrigkeit ihrer Hände ansehen konnte. Sie überwand die Starrheit der Tastatur, ob Klavier oder Flügel, in jedem Ton. Sie „durchseelte“ ihn aus einer Konzentration, die im Gesang Wort und Ton zu einer wesenhaften Einheit werden ließ. Als junges Mädchen gestaltete sie Wort und Ton instinktiv zur Einheit. Später wurde dieses wichtige Kunstgeheimnis für sie Wissen und sie forderte von ihren Schülern immer wieder Pflege und Beherrschung solcher Gestaltungskraft. „Große Töne“ allein lehnte sie ab. Mit jeglichem Recht. Sie sind das, was ein Marmorblock für den Bildhauer ist: Material. Ihr war die Kunst etwas wahrhaft Heiliges. Sie war vom Himmel zur Erde gesandtum zu helfen, zu heiligen, zu veredeln, zu trösten. Da mußte alles Persönliche schweigen, alles Geltenwollen mußte zurücktreten. Nur durch Selbstlosigkeit konnte die Gabe der Höhen sich in Reinheit offenbaren. Stundenlang konnte sie die Konzerte oder Bühnenaufgaben ihrer „Meisterschüler“ vorbereiten. Ja, es konnte wochenlang dauern, bis sie Ja dazu sagte. Sie stand hinter jedem Takt, hinter jedem Ton und trat dann zurück hinter Wirkung, Erfolg und Beifall.
Wenig beachtet wird oft sogar von begeisterten Musikfreunden, daß Lieder, Oratorien, Opern nicht nur aus Tönen, sondern auch aus Worten bestehen, daß sie ohne den „Text“, also ohne das Wort gar nicht da wären. Seit Richard Wagner hat das Wort an Bedeutung nur noch gewonnen. So ist z. B. ein Lied Hugo Wolfs ohne eine gewisse sprachliche Gestaltung gar nicht möglich. Darum stand auf dem silbernen Schild Frau Plachners neben dem Wort Gesang, auch Sprachgestaltung. Frau Plachner war selbst eine hervorragende Sprecherin, die schon in der Klosterschule des Kalvarienbergs zu besonderen Anlässen „hervorgeholt“ wurde. In Berlin leitete vor einigen Jahrzehnten ein Bruder des weiland am Ahrweiler Gymnasium tätigen Dir. Prof. Dr. Leyhausen den berühmten „Antiken Sprechchor“. Hier sollte Marga Plachner wegen ihrer Sprechweise und sprachlichen Gestaltungsfähigkeit Chorführerin werden. „Richtiges Sprechen“ — unter dieser Überschrift hai Frau Plachner etliche Jahre Kurse an der Koblenzer Volkshochschule gegeben. In schweren Fällen nahmen dann Besucher ergänzenden Privatunterricht.
Wieviele Konzerte und Vortragsabende haben im „Märchenhaus der Niederhutstraße“ stattgefunden! Marga Plachner sprach oft einleitende Worte. Im Mittelpunkt des Programms stand Gesang.
Sieben ihrer Schüler gelangten zur Opernbühne, andere zum Konzertpodium. Einer wurde Professor der Musik an einer Hochschule. Er, Prof. Wilbert, bezeichnete seine Arbeit mit Frau Plachner nach dem zweiten Weltkrieg als den Licht- und Kraftquell in jenen schweren, dunklen Jahren. Er — und nicht nur er — hat damals mit ihr im Walde Holz gefällt, damit der Ofen im Musikzimmer geheizt werden konnte!… Wieder andere Schüler studierten ohne berufliches Ziel aus Liebe zur Musik. Allen Schülern wird Marga Plachner in guter Erinnerung bleiben.