Lebensraum aus zweiter Hand – Steinbrüche und Kiesgruben als Aufgabenfelder für den Naturschutz
Lebensraum aus zweiter Hand
Steinbrüche und Kiesgruben als Aufgabenfelder für den Naturschutz
Dr. Bruno P. Kremer
„Steinreiche Landschaften“
Von Natur aus sind eigentlich alle Landschaften steinreich. Oft erkennt man davon aber nicht viel, weil Boden und Pflanzendecke den Gesteinsuntergrund überkleiden. Hier und da hat jedoch die natürliche Verwitterung das Fundament der Landschaft freigelegt und offene Felsen geschaffen. Vulkankuppen zerbröseln zu Blockhalden, Bergstürze reißen steinerne Schrunden auf, und auch die Fließgewässer legen im Laufe der Zeit ganze Serien von Gesteinsschichten frei, während sie sich erosiv immer tiefer einschneiden. Der Rhein hat in seinem unteren Engtal auf mehr als 40 km Tallänge einen fast schnurgeraden Längsschnitt durch den alten Faltenrumpf des devonischen Schiefergebirges gelegt und ist damit zur natürlichen Ostgrenze der Eifel und des Landkreises Ahrweiler geworden.
Die geologisch ungemein vielgestaltige Eifel weist eine besondere Vielfalt an nutzbaren Gesteinen auf. Die meisten technisch verwertbaren Gesteine sind wegen ihrer besonderen Lagerungsverhältnisse allerdings nur dadurch zu gewinnen, daß man der Erde gleichsam unter die Haut fährt und Tagebaue, Schachtanlagen oder Gruben anlegt. Seit etlichen Jahrhunderten durchlöchert der Bergbau auch im Umkreis der Ahr die Erde, durchteuft wertvolle Lagerstätten und schließt spezielle Gesteinsvorkommen auf. Aus allen Epochen der Erdgeschichte, die den heimatlichen Naturraum mitgestaltet haben, sind oderwaren Fest- oder Lockergesteine im Abbau – von den unterdevonischen Dachschiefern des Laacher See-Gebietes und den altersgleichen Grauwacken nördlich von Netteoder Brohltal über die tertiären Eruptivgesteine (vor allem Basalte) der tertiärzeitlichen Eifeler Vulkanfelder bis hin zu den ausgedehnten Tonvorkommen in der Gemeinde Grafschaft, den geologisch jungen Sand- und Kiesaufschüttungen der größeren Fließgewässer oder der viele Meter mächtigen Bimsdecke vom Ausbruch des Laacher See-Vulkans vor rund 11000 Jahren.
Kiesgruben entwickeln zum Teil sehr kurzlebige, aber dennoch bemerkenswerte Allengemeinschaften. Beispiel aus der Fiheinebene bei Sinzig.
Abbau und Rekultivierung
Der Abbau verbraucht allerdings Landschaft. Während des laufenden Bergbaus auf die verschiedenen Bodenschätze sehen die Steinbrüche oder Grubenanlagen ziemlich unschön aus, weil sie mit ihren großflächigen Tagebauanlagen doch recht häßliche Löcher in die Erde reißen. Gerade der obertägige Abbau von Bodenschätzen gilt nach dem rheinland-pfälzischen Landespflegegesetz als .erheblicher Eingriff in die Landschaft, weil die Schürfungen die natürlich gewachsenen Bodenprofile zerstören, das komplexe Gefüge der einzelnen Grundwasserstockwerke verändern und oftmals auch einfach die charakteristischen Reliefformen einer Landschart verschwinden lassen. Auf der anderen Seite erlauben die Bergbauanlagen aber auch buchstäblich tiefgründige Einblicke in Lagerungsverhältnisse oder Gebirgsbau, die sonst bestimmt nicht einfach zu gewinnen wären.
Gewöhnlich bleibt aber die Frage, was nach dem Auslaufen der Abbauvorhaben zu geschehen hat und wie die Folgenutzung von Tagebaurestlöchern aussehen kann. Vielfach erwartet die Öffentlichkeit, daß bergbauliche Verbrauchsflächen nach der Ausbeutung der gesuchten Bodenschätze unmittelbar rekultiviert werden, so wie es beispielsweise im rheinischen Braunkohlerevier in durchaus vorbildlicher Weise erfolgt. Je nach Beschaffenheit des Untergrunds hat man die verbliebenen Abbaulöcher stellenweise auch einfach als Mülldeponie zwischengenutzt, (z. B. bei Remagen-Oedingen), bevor die endgültige Verfüllung mit weiterem Abraum und die forstliche oder landwirtschaftliche Rekultivierung erfolgte. Die Probleme der Landschaftsästhetik wären in solchen Fällen durchaus befriedigend gelöst, wenngleich mit der Deponie-Zwischenlösung so manches unbewältigte Umweltproblem allzu einfach unter der Oberfläche verschwindet.
Geowissenschaftliche Dokumente
Es gibt nun mehrere Gründe, die vom Bergbau in der Landschaft eröffneten oder hinterlasse-nen Löcher für gänzlich andere Zwecke vorzusehen und eben nicht einfach mit Abfall, Abraum oder sonstigem Füllgut zu verschließen. Manchmal stehen im künstlichen Aufschluß eines Steinbruchs für die Erdgeschichte der betreffenden Region besonders wichtige Gesteinshorizonte oder auch überraschend ergiebige Foss’llagerstätten an, die eventuell als geowis-senschaftliches Dokument zu sichern wären. Gerade im Bereich der Osteifel gibt es eine ganze Reihe einzigartiger Objekte, deren wissenschaftliche Bedeutung eigentlich erst im Laufe der bergbaulichen Tätigkeit offenbar wurde. Im Landkreis Ahrweiler sind zur Zeit keine offenliegenden spektakulären Fossilfundstellen bekannt, aber an vielen Stellen (beispielsweise am unteren Ausgang des Brohltales oder im Vinxtbachtal) hat frühere Steinbruchtätigkeit beispielsweise die fossilen Reste von Lebensgemeinschaften aus Zeithorizonten vor rund 350 Millionen Jahren zugänglich gemacht. Abbautätigkeit hat andererseits die tertiärzeitlichen Vulkankuppen geöffnet (Dungkopf, Scheidskopf, Unkelstein), aus denen wichtige Befunde zum Verlauf und Umfang des sicherlich dramatischen Ausbruchgeschehens zu entnehmen sind. Im Fall der unterdessen weithin berühmten Tongrube Kärlich am Rande der Mittelrheinischen Beckenlandschaft wurden Schichten freigelegt, welche völlig lückenlos rund eine Million Jahre der allerjüngsten Erdgeschichte überliefern. Soweit sich bedeutende Aufschlüsse im Festgestein befinden, fällt ihnen als Forschungsund Demonstrationsobjekt zweifellos eine bedeutende Rolle zu.
Sekundärlebensräume
Ein ganz anderer Gesichtspunkt, der bei der Frage der Folgenutzung häufig übersehen wird, verdientzunehmend Beachtung: Aufgelassene Steinbrüche, Kies- und Tongruben entwickeln sich nach der Stillegung in erstaunlich kurzer Zeit ganz spontan zu überaus bemerkenswerten Sekundärlebensräumen – zu artenreich bestückten Biotopen aus zweiter Hand. Oft kommt diese Entwicklung, zumal bei kleineren Anlagen, auch schon während des laufenden Abbaus in Gang. Was landläufig und nach bürgerlichen Maßstäben vielleicht als ungepflegte, verwilderte und nicht weiter nutzbare Abbaugrube Ärgernis erregen mag, kann sehr wohl ein äußerst wertvoller Ersatzlebensraum für eine beachtliche Artenfülle werden.
Erwiesenermaßen lassen sich unter den Zuzüglern und Besiedlern solcher Abbaugelände sogar etliche Pflanzen und Tiere von der Roten Liste der gefährdeten oder vom Aussterben bedrohten Arten nachweisen. Auffällig ist nämlich die große standörtliche Vielfalt solcher Abbaustellen, die Lebensraumtypen anbieten, wie sie in der übrigen Zivilisationslandschaft selten oder überhaupt nicht mehr vorhanden sind. Beispiele von Kiesgruben, wie sie im Bereich der Goldenen Meile anzutreffen sind, können diese Verhältnisse besonders verdeutlichen und zugleich zeigen, daß eine landschaftsästhetisch zunächst vielleicht noch unbefriedigende Lösung unter ökologischen Gesichtspunkten ausgesprochen hochwertig und sympathisch sein kann.
Ältere Tagebauanlagen sind schon nach wenigen Jahren auch ohne Rekultivierung voll in die Landschaft integriert.
Kiesgruben
Beim maschinellen Abbau der Lockermaterialien in einer Sand- und Kiesgrube entstehen fast immer magere, nährstoffarme Standorte, die angesichts des sonst so gewaltigen Nährstoffeintrags in die Agrarlandschaft sicherlich Seltenheitswert besitzen. Für darauf angewiesene Pflanzen- und Tierarten können die aufgelassenen Abbaustellen von Lockermaterial daher zu dringend benötigten Rückzugs- oder Ersatzbiotopen werden. Offene Gruben weisen fast immer ein sehr weitflächiges Mosaik verschiedenartiger Kleinlebensräume auf: Neben kurzlebigen oder dauerhaften Gewässern („Baggerseen“) finden sich trockene bis wechselfeuchte Rohbodenstandorte. Bedeutsam ist hier auch das enge räumliche Nebeneinander unterschiedlicher Standortbedingungen von extrem trocken bis dauer-feucht auf verhältnismäßig kleiner Grundfläche – eine Strukturvielfalt, welche die weithin vereinheitlichte Agrarlandschaft in dieser Fülle bestimmt nicht (mehr) anbieten kann.
Die Anzahl der jeweils vorhandenen Kleinbiotope hängt natürlich sehr von Größe, Relief, Tiefe, Alter und Art der Eingriffe während des Abbaugeschehens ab. Besonders reichhaltig ausgestattete Abbaugelände könnte man angesichts ihres beeindruckenden Artenbesatzes unversehens als Naturschutzgebiete ausweisen. Ökologisch ähneln die Abbaustellen von Sanden und Kiesen am ehesten den Fluß- und Auengebieten der Naturlandschaft: Die kurzlebigen Wasseransammlungen auf den tieferen Sohlen entsprechend, den Auentümpeln und Altwassern, während sich die Rohbodenbereiche direkt mit den Sand- und Kiesbänken der natürlichen Flußaue oder ihren jährlich wechselnden Schlickbänken vergleichen lassen. Bereiche mit Hangvernässungen durch randlich zufließendes Druckwasser modellieren Sickerquellen. Gebüschgruppen aus Pioniergehölzen (vor allem Weiden und Pappeln) vertreten dagegen die Weichholzaue im Gewässersaum. So treten unter den tierischen Besiedlern aufgelassener Grubenareale tatsächlich auch vor allem die Primärbewohner von Wildflußgebieten auf, darunter zum Beispiel Flußregenpfeifer, Flußseeschwalbe, Uferschwalbe oder Steinschmätzer. Nach den Ergebnissen vieler Kartierungen sind die Sand- und Kiesgrubengewässer unterdessen auch unersetzliche Laichplätze einheimischer Amphibien, darunter der Gelbbauchunke oder der Kreuz-, Wechsel- und Geburtshelferkröte. Etliche der wenigen noch bekannten Laubfroschvorkommen des Mittelrheingebietes liegen ausgerechnet im Bereich aufgelassener Abgrabungsstellen.
Lebensraumprofil eines aufgelassenen Steinbuchs: 1 = Gebüsch-/Waldsaum, 2 = Abbauwand mit Felsvegetation, 3= Gesimse mit Stauden und Gehölzpionieren, 4= Blockhalde, 5= Schuttpflanzen, 6 = Baum’/Strauchinsel, 7= Laichtümpel, 8 = Hochstaudenflur, 9 = Steinbruchsee, 10= Schuttflur mit Wiesenpflanzen, 11 = Magerrasenstücke, 12 = Trockengebüsch
Auch die Pflanzenwelt spiegelt die beachtliche Biotopvielfalt wider. Nach ihrem Kleinklima sind die Gruben fast immer Wärmeinseln. Entsprechend setzt sich ihre Vegetation auch aus besonders wärmeliebenden Pflanzenarten zusammen. Auf humusfreien Stellen treten die Ariten-gefüge der Magerrasen auf, die nach einiger Zeit in Trockenheiden übergehen. Die etwas nährstoffreicheren Stellen besiedeln dagegen in erster Linie die Kennarten von Ruderal- und Schlagfluren, häufig durchsetzt mit den Pflanzen der frischen Wiesen und Weiden. Alle diese sehr buntblumigen Pflanzengruppen sind natürlich eine wichtige Voraussetzung für den weiteren Bestand artenreicher Kleintiervorkommen – von den Insekten bis zu den Singvögeln.
Steinbrüche
Dem Strukturreichtum einer aufgelassenen Sand- oder Kiesgrube steht der verlassene Steinbruch kaum nach, wie mehrere Beispiele aus der Umgebung von Remagen oder Sinzig zeigen. Während die Sohlenbereiche eines Steinbruchs durchaus den Lebensraumverhältnissen einer Kiesgrube gleichen können, betonen andere Teilbereiche eher die Anklänge an Felspartien der Naturlandschaft. Je nach Gesteinstyp, Exposition, Neigungswinkel, Gesamthöhe und Feinrelief sind wiederum zahlreiche Kleinlebensräume mit jeweils stärker abweichendem Mikroklima vorhanden. Hinzu kommt die auffallende räumliche Untergliederung der verbliebenen Abbauwände in eine Vielzahl von Nischen, Simsen, Bänder, Fugen, Galerien und Vorsprüngen. Am Wandfuß stauen sich mitunter Schuttfächer von fein zermahlenem Gestein über lockeres Geröll bis hin zu gröberem Blockwerk auf – auch dies ein nicht zu unterschätzendes Element der Vielfalt auf kleinem, überschaubarem Raum. Obwohl die Festgesteine so gut wie überhaupt kein Wasser speichern, sind die Abbauwände in aufgelassenen Steinbrüchen nicht unbedingt wüstentrocken. Ständig fließt aus der Umgebung versickerndes Niederschlagswas-ser zusammen und tritt unter anderem auch über die Klüfte und Schichtfiugen des angeschnittenen Restgesteins aus. Dennoch gehen alle in einer Felswand siedelnden Pflanzen einen extrem sparsamen Umgang mit Wasser ein. Ihre besonderen Merkmale sind beispielsweise Derblaubigkeit und Dickblättrigkeit verbunden mit kleiner Blattfläche oder starker Behaarung. Folglich fällt auch der Artenreichtum weitaus größer aus, als man gewöhnlich vermutet:
Die Steinbruchflora des Mittelrheingebietes umfaßt durchweg 150 bis 200 verschiedene Pflanzenarten, darunter mehrere Arten mit nur ganz wenigen Vorkommen und vor allem solche, die hier und da die sonnendurchglühten Schiefergebirgsflanken entlang der Weinberge bewohnen. Vergleichbar reichhaltig sind auch hier die Arteninventare der Tiere. Da sich nun die Abgrabungsstellen und Steinbrüche spätestens nach der Stillegung so sehr rasch zu sehr komplexen Lebensstätten entwickeln und durchweg auch eine ausgesprochen schützenswerte Flora und Fauna aufweisen, ist ernsthaft zu überlegen, ob anstelle der häufigeren Zwischennutzung mit anschließender Rekultivierung nicht eher die Renaturierung anzusteuern wäre. Wo die Natur von selbst so arten- und individuenreich Einzug hält und überraschend umfangreiche Artengefüge etabliert, muß nicht immer -wie etwa das Beispiel vieler ausgebeuteter Bimstagebaue zeigt – eine langweilige Flächeneinbindung in die ohnehin schon weitgehend monotone Zivilisationslandschaft erfolgen. Statt dessen ließe sich mit der Entwicklung der dringend erforderlichen Ersatz- und Rückzugslebensräume der Natur ausgesprochen wirksam auf die Sprünge helfen.
Literatur:
J, Blab: Grundlagen des Biotopschutzes für Tiere, Greven 1986.
B. P. Krämer (Hrsg.); Naturtührer Bonn und Umgebung. Bonn 1993.
B. P. Kremer, W. Meyer, H. J.Roth: Naturim Rheinland. Würzburg 1986.
W. Meyer: Geologie der Eifel. Stuttgart 1988.
J Reichholf: Leben und Überleben in der Natur. München 1988.
B. Röser: Grundlagen des Biotop- und Artenschutzes. Landsberg 1990,
P. Schwertner: Heimische Biotope. Augsburg 1991. R. Witt, A. Rissler, B. P. Kremer: Natur in Not. Stuttgart 1988.