Kulturlandschaft an der unteren Ahr – Eine lange Geschichte in wenigen Kartenbildern
Kalenderfotos und Landschaftsbildbände sind ein gleichermaßen zuverlässiger Indikator: Üblicherweise bieten sie als Motive keine finsteren Fichtenforste an, ebenso wenig horizontweite Maisäcker oder die Asphaltbänder grauer Landstraßen. Eine Mittelgebirgslandschaft mit sanft geschwungenen Hügelketten und verträumt eingebetteten Dörfern hat schon eher Chancen für die Bildauswahl. Landschaftliche Ensembles mit einer vielteiligen Feldmark sprechen erfahrungsgemäß das Gemüt viel unmittelbarer an und wecken zuverlässig Wünsche für den nächsten Familienausflug. Die offene Flur mit Tälern und Höhen, mit Ebenen, Mulden und Hügelketten, Bächen und Weihern, Höfen und Weilern ist sozusagen die Bilderbuchlandschaft schlechthin.
Landschaft mit Doppelnatur
Die umschriebene Idylle besteht unbestritten, aber ihr Naturbegriff bedarf der genaueren inhaltlichen Abgrenzung. Streng genommen ist die eingangs skizzierte Szenerie durchaus keine Natur im Sinne primärer, unberührter, vom Menschen gänzlich unbeeinflusster Räume und ihrer Lebensgemeinschaften. Fast alle benannten Flächenstücke erweisen sich bei näherer Betrachtung ausnahmslos als Ersatzlösungen – als Ergebnis nämlich einer auch in Mitteleuropa Jahrtausende langen und auf weiten Strecken durchweg kämpferischen Auseinandersetzung des Menschen mit der vorgefundenen Wildnis, in der er – hätte er nicht seine vom Stein- bis zum Metallgerät fortlaufend verbesserte Technik entwickelt – überhaupt nicht bestehen könnte. Auch wenn Sonnenschein und stahlblauer Himmel in viel versprechendes Grün und sprichwörtlich „hinaus in die Natur“ locken, besteht das bunte Fleckenwerk, welches uns vor der Stadt aufnimmt, überwiegend aus anthropogenem Naturersatz. Seit der jüngeren Altsteinzeit richtete sich der Mensch die Flächen nutzend und – wandelnd in der Naturlandschaft ein. Über rund ein Jahrzehntausend hinweg ist daraus eine – zumindest in Mitteleuropa – Flächen überspannende und dabei äußerst vielschichtige Kulturlandschaft entstanden.
Rheinufer unmittelbar südlich der heutigen Ahrmündung: Die Ufergehölze konnten sich erst nach Aufgabe des Treidelbetriebs entwickeln.
Unbeeinflusste, unveränderte Natur aus erster Hand gibt es demnach auch im Rheinland so gut wie nicht mehr. Selbst kleine, eingestreute Lebensraumflecken von annähernd natürlicher Beschaffenheit wie Moore oder Seen sind rundum von Kulturland umgeben und daher unvermeidlich seinen Beeinträchtigungen ausgesetzt. Ohne den kontrollierenden Einfluss des wirtschaftenden Menschen trüge die mitteleuropäische Landschaft ausgedehnte, aber ziemlich gleichförmige Urwälder – die potenzielle natürliche Vegetation weiter Teile Mitteleuropas sind Waldgesellschaften. Allerdings hat die Naturlandschaft diesen Endzustand der spontanen nacheiszeitlichen Vegetationsentwicklung aus mancherlei Gründen wohl nie auf ganzer Fläche erreichen können.
Anreichernde Flächenvielfalt
Mit der Zurückdrängung des Waldes durch agrikulturelle Flächensysteme mit der frühesten im Rheinland nachweisbaren bäuerlichen Kultur (Linienbandkeramik, etwa ab 5300 v. Chr.) setzte eine bemerkenswert folgenreiche und äußerst vielschichtige Entwicklung ein, die einerseits zwar einen großflächigen Verlust an primärer Naturlandschaft mit sich brachte, auf der anderen Seite paradoxerweise jedoch überhaupt erst die (kultur)landschaftliche Vielfalt schuf, die wir heute unvoreingenommen als vielgliedriges, höchst lebendiges und betont erlebniswertes Gefüge schätzen. Mit dem auflockernden und allmählichen Ersatz des ursprünglichen Waldlandes hielten nämlich völlig neue, bisher nicht vorhandene Lebensraumtypen Einzug in die mitteleuropäische Landschaft: An die Stelle von Wald als Primärbiotop setzte der siedelnde, rodende und ackernde Mensch die Sekundärbiotope seiner Kulturlandschaft – und schuf damit ein mosaikartig zusammengesetztes Flächengefüge von völlig andersartigem ökosystemarem Aufbau. Die weitere Entwicklung der Pflanzendecke war seither nicht mehr allein von Klimaeigenart und Spontanzuwanderung einzelner Arten(gruppen) abhängig, sondern in zunehmendem Maße von den technischen Eingriffen des Menschen. Spätestens mit der älteren Eisenzeit (ab 700 v. Chr.) ist der Beginn einer großflächigen Veränderung der gesamten natürlichen Vegetation anzusetzen.
Der enorme Strukturreichtum des Naturschutzgebietes Ahrmündung bietet optimale Voraussetzungen für einen beachtlichen Artenreichtum.
Die jetzt zunehmend zur Kulturlandschaft umgestaltete Natur zeichnet sich im Gegensatz zur reinen Waldbedeckung jedoch durch eine beachtliche und neue Vielfalt ihrer Raumstrukturen auf vergleichsweise kleinen Distanzen aus. Wo sich in der Naturlandschaft weitflächig einheitliche Biotope ausbreiteten, finden sich nunmehr nutzungsbedingt zahlreiche kleinere Ensembles höchst unterschiedlichen Charakters, deren Gemeinsamkeit ihr zum Wald erheblich kontrastierender Offenlandcharakter ist. In buntem Wechsel überzieht fortan ein Flickenteppich verschiedener Flurstücke das Land. Einerseits sind es – wie es die aktuellen topographischen Karten auch unseres Kreisgebietes ausweisen – Acker- und Grünlandparzellen mit ihrer jeweils spezifischen Nutzung, dazu aber auch Sonderkulturen wie die Rebfluren und Obstanlagen, ferner die verbliebenen Restwälder, Gehölzinseln, Raine, Säume, Wegränder oder Brachflächen. Der Umbau der Naturlandschaft zur nutzbaren und genutzten Kulturlandschaft zog damit eine beträchtliche landschaftliche Differenzierung und Anreicherung nach sich. Jeder mitteleuropäische Landschaftsausschnitt integriert somit in seinem Vegetationsmosaik Anteile völlig verschiedenen Entstehungsdatums.
Das Beispiel Ahrmündung
Die landschaftlichen Zustände aus ur- und frühgeschichtlicher Zeit und ihre Umformung lassen sich heute nur anhand besonderer Indizien mit naturwissenschaftlichen Methoden rekonstruieren. Für die neuzeitlichen und damit relativ jungen Entwicklungen besitzen wir dagegen kartographische Darstellungen. Erst aus dem 18. Jahrhundert gibt es Karten, die Hinweise auf das Landschaftsbild früherer Zeiten geben, darunter beispielsweise die oft zitierte, weil für viele Fragestellungen recht aufschlussreiche Wiebeking-Rheinkarte von 1796, die etwa im Gebiet von Linz ansetzt und im Wesentlichen das Niederrheingebiet darstellt.
Weitaus zuverlässiger und geradezu ein Glücksfall der regionalen Landeskunde ist dagegen die für unser Gebiet von Napoleon angeordnete Kartenaufnahme der damals zu Frankreich gehörenden linksrheinischen Gebiete. Sie erfolgte in den Jahren 1803-1814 unter der Leitung des französischen Militärgeographen Oberst Jean Joseph Tranchot und basierte auf einer exakten Landvermessung nach dem Dreieckpunktverfahren. Das Kartenwerk umfasst insgesamt 127 Blätter und erschien ursprünglich im französischen Maßstab 1:20000. Rechtsrheinisch führte Generalmajor Friedrich Karl Ferdinand Freiherr von Müffling das Kartenwerk mit 29 Blättern in den Jahren 1816-1828 fort, nachdem die Rheinlande nach dem Wiener Kongress ab 1815 zu Preußen gehörten. Die erhaltenen Originalkarten hat das Landesvermessungsamt in den Maßstab 1:25000 verkleinert, damit man die Einzeldarstellungen besser mit dem heute üblichen Messtischblatt vergleichen kann. Das hier näher betrachtete Gebiet um die Ahrmündung ist auf Blatt 112 (Remagen) dargestellt. Die Vermessungsarbeiten für dieses Kartenblatt führte in den Jahren 1808/09 ein Ingenieurgeograph Boutinol durch. Der Blattschnitt entspricht nicht den modernen Messtischblättern. Vielmehr sind die jeweiligen Blattgrenzen um etwa 3,5 km nach Westen verschoben. Daher liegt die Darstellung der Ahrmündung nicht wie auf der modernen TK25 (Blatt 5409 Linz) ungefähr in der Blattmitte, sondern exakt auf dem Kartenrand. Außerdem verlaufen die senkrechten Kartenränder nicht exakt in Nord-Süd-Richtung, sondern sind mit 2,5° Abweichung an das frühere französische Gradnetz angelehnt.
Erste Kartenaufnahme der (französischen) Rheinlande (1803-1814) durch den Oberst Tranchot: Ausschnitt aus Blatt 112 (Aufnahme 1808/09): Das Mündungsgebiet der Ahr befindet sich noch in einem völlig natürlichen Zustand. Der Kartenausschnitt ist gegenüber dem Original um 2.5° nach Osten gedreht, um ihn mit den modernen Darstellungen zur Deckung zu bringen.
Der Blick auf diese Karte ist außerordentlich aufschlussreich. Sinzig ist zum Zeitpunkt der Kartenaufnahme noch nicht über seine spätneuzeitliche Begrenzung hinaus gewachsen, und das zu Remagen gehörende Kripp ist 1808 ein kleiner Straßenweiler, dessen wenige Wohngebäude sich bezeichnenderweise auf hochwassersicherem Gebiet entlang der heutigen Quellenstraße aufreihen. Rheinseitig vom Sandweg, der seinen Verlauf in 200 Jahren nicht verändert hat, verzeichnet die Karte mit der Signatur V (für vignoble = Weingärten) ausgedehnte und bis zum Rheinufer reichende Rebfluren auf der Niederterrasse. Südlich der Straßenverbindung von Kripp zur Hauptstraße zwischen Remagen und Sinzig, der „Grande Route de Cologne“, finden sich im Umfeld des Godenhauses ausgedehnte Baumwiesen, die sowohl Obstnutzung als auch Weidebetrieb erlaubten. Ansonsten fallen im Kartenbild viele topographische Strukturen wie Wege, Straßen und Brücken ins Auge, die auch in der heutigen Landschaft an gleicher Stelle vorhanden sind. Eine überaus bemerkenswerte Ausnahme ist jedoch die Topographie des eigentlichen Mündungsgebietes der Ahr: Die Mündung befand sich etwa 500 m südlich – dieser Bereich ist an der heutigen Verbreitung von Auengehölzen noch ablesbar. Außerdem bestand der gesamte Unterlauf damals noch aus einem unübersichtlichen System von Altarmen und Strömungsrinnen zwischen größeren Sandflächen und Auengehölzen, die in ihrer Anordnung die Wildheit eines weitgehend ungehinderten Mittelgebirgsflusses abbilden. Diese kartographisch exakte Momentaufnahme aus dem frühen 19. Jahrhundert lässt die letzten Phasen der kulturlandschaftlichen Entwicklung gleichsam im Zeitraffer nachvollziehen.
Technischer Ausbau
Den nächsten Zeitschnitt zeigt die so genannte Preußische Uraufnahme, die 1843-1850 für die Provinz Rheinland erstmals komplett im Maßstab 1:25000 durchgeführte Landesaufnahme. Sie ist der wichtigste Vorläufer der modernen amtlichen Karten und in deren Blattschnitt angelegt. Das im Original farbig gezeichnete Kartenbild verwendet erstmals genau eingemessene Höhenlinien und stellt liniengenau die Verteilung von Wald und Ackerflächen dar. Der Vergleich mit der Tranchot-Karte von 1808/09 zeigt für unser Gebiet noch keine auffälligen Veränderungen, aber eine ungleich klarere Wiedergabe der Landschaft. Erst mehr als ein halbes Jahrhundert später wird der Wandel greifbarer: In den Jahren 1893-1901 wurde die Preußische Rheinprovinz mit verbesserter Methodik ein zweites Mal im Maßstab 1:25 000 vollständig neu aufgemessen. Nach der dabei im Gelände angewandten Aufnahmemethode erhielt diese Karte den bis heute üblichen Namen Messtischblatt. Das daraus entwickelte Kartenwerk, die so genannte preußische Neuaufnahme, ist der unmittelbare Vorläufer der heutigen TK25. Aufgrund der Krümmung der Erdoberfläche und der an den Erdpolen in einem Punkt zusammenlaufenden Längenkreise sind die genauestens aufgemessenen Messtischblätter eigentlich Trapeze. Der am oberen Kartenrand dargestellte Geländeausschnitt ist im Blatt 5409 Linz (heutige Blattnummer) daher um 20 m kürzer als am unteren Rand. Erstmals kann man aus der Kartenrandleiste auch die Koordinaten für jeden dargestellten Geländepunkt entnehmen. Das den betrachteten Beispielraum wiedergebende Kartenblatt erschien 1895 mit der Blattnummer 3157. Das Kartenbild arbeitet nun mit den heute vertrauten Zeichen für besondere Landschaftsmerkmale wie Höhenlinien und besonderen Symbole für Laubwald oder Nadelforste. Diese Karte ist insofern besonders aufschlussreich, weil sie die rheinische Landschaft im Zustand der Gründerzeit wiedergibt und damit eine aus dem Werdegang der Kulturlandschaft bedeutsame Situation festhält.
Ausschnitt aus Blatt 3157 Linz der Preußischen Neuaufnahme 1893 (erschienen 1895). Diese Kartenaufnahme ist der unmittelbare Vorgänger der modernen Ausgaben des Messtischblattes und zeigt das Mündungsgebiet der Ahr bereits technisch durchorganisiert.
Am Rand der Goldenen Meile verläuft die neu errichtete Bahnlinie, gegen die das preußische Königshaus bis zuletzt strategische Bedenken hatte – das Eisenbahnzeitalter begann hier am 15. August 1858. Sinzig erhält einen eigenen Bahnhof, und die in unmittelbarer Nähe errichtete Fabrikanlage kann ihre Produkte nun per Bahn verfrachten. Das Stadtgebiet von Sinzig erschließt neue Wohnquartiere vor allem entlang der Ausfallstraßen Richtung Bonn und Koblenz. Für Wadenberg und Hellenberg sind ausgedehnte Rebfluren verzeichnet, während die rheinnahen Wingerte von Kripp unterdessen aufgegeben sind. Dafür weisen die in geometrischer Exaktheit die Ackerfluren der Goldenen Meile nördlich der Ahr erschließenden Flurwege eine bemerkenswerte Neuerung auf – sie sind auf der gesamten Länge alleeartig von Obstbäumen flankiert.
Ausschnitt aus TK25 Blatt 5409 Linz der jüngsten Ausgabe (1997): Die aktuelle Version verzeichnet gegenüber der Ausgabe 1895 mehr Flächenveränderungen als in den Jahrhunderten zuvor.
Flüsse im Korsett
Auch die Ufergestaltung des Rheins lässt wichtige Veränderungen erkennen: Der nach 1871 begonnene technische Ausbau zur Großschifffahrtsstraße legte die Uferbereiche nunmehr mit Steinschüttungen und -deckwerk fest. Auenwald mit Strauch- und Baumweiden, wie er für die Uferpartien größerer Fließgewässer typisch ist, hatte hier schon lange keinen Platz mehr, denn er stand dem früheren Treidelbetrieb auf dem ufernahen Leinpfad im Wege, über den die Lastkähne mit Pferdekraft talaufwärts geschleppt wurden. Im Zuge dieses Uferausbaus erfuhr auch die Ahrmündung eine deutliche Korrektur. Das Kartenblatt von 1895 verzeichnet eine elegant in Flussrichtung verschleppte und exakt eingezirkelte Mündung, an die sich südlich – im vorherigen Mündungdelta – eine ganze Serie von Kribben als Strömungsabweiser anschließt. Außerdem erscheint das Flussbett nun im gesamten unteren Abschnitt stark begradigt. Die ehemaligen Auenteile südlich des heutigen Bettes werden landwirtschaftlich genutzt. Die häufig wiedergegebene Bewertung, die Ahrmündung sei der einzige unverbaute und natürlich erhaltene Mündungsbereich eines Rheinzuflusses trifft so mit Sicherheit nicht zu – auch die Ahrmündung ist bereits ausgangs des 19. Jahrhunderts am Reißbrett gestylt. Bei den übrigen 41 Nebenflussmündungen auf deutschem Staatsgebiet sind die technischen Eingriffe nur wesentlich schwerwiegender und optisch präsenter. Trotz dieser Beeinträchtigungen zeigt sich das Mündungsgebiet, das seit 1961 als 63 ha großes Naturschutzgebiet ausgewiesen ist, in einem vergleichsweise naturnahen Zustand und lässt somit zumindest in Umrissen erkennen, wie sich die Einmündung eines größeren Mittelgebirgszuflusses in der Naturlandschaft darstellt.
Bei Hochwasser nimmt die Ahr wieder ihr gesamtes ehemaliges Flussdelta ein. Aufnahme vom März 1997 vom Kaiserberg/Linz
Die einer Flussmündung dieser Größenordnung eigene Dynamik lässt sich die Ahr übrigens nicht nehmen. Schon im Winter 1984 wäre ihr beinahe ein neuer Durchbruch in das alte Bett zum Rhein gelungen, doch wurde sie mit sofort eingeleiteten wasserbauliche Maßnahmen vorerst wieder in die Strömungsrinne aus dem späten 19. Jahrhundert gezwungen. Die einen Fluss normalerweise auszeichnende Ufererosion ist damit allerdings nicht auf Dauer zu unterbinden. Aus einem erst um1960 entstandenen Mäanderbogen etwa 300 m westlich der heutigen Mündung arbeitet der Fluss bei Hochwasser an einer neuen Rinne und damit an einem weiteren Mündungsarm, der hier zu Beginn des 19. Jahrhunderts schon einmal bestand. Die derzeitige Holzbrücke, über die der viel genutzte Rheinuferradweg führt, würde in diesem Fall nur noch auf eine Insel führen. Für die radtouristische Infrastruktur mag sich eine solche Entwicklung als Katastrophe darstellen. Für den Geomorphologen ist es lediglich ein weiteres Lehrstück dafür, dass sich von Natur aus dynamische Systeme nicht in Raum und Zeit fixieren lassen.
Schon bei mäßigem Hochwasserstand wird südlich der Hybridpappel-Gruppe an der Ahrbrücke sichtbar, wo der Fluss sein Bett mit neuem Mündungsarm macht. Aufnahme vom Mai 2001
Die gerade verlaufenden Uferlinien verraten die Kanalisierung. Die Hochstaudenfluren und Weidengebüsche der Weichholzaue würden sich so auch in der Naturlandschaft ausprägen.
Schutz der Ersatznatur
Der Naturschutz besteht an der Ahrmündung trotz mancherlei wasserbaulicher Eingriffe in das Lebensraumgefüge aus guten Gründen – die vorhandenen Biotopstrukturen werden von einer überraschenden Artenzahl angenommen und genutzt. Hörbar ist davon beispielsweise der beachtliche Anteil seltener Singvogelarten. Die Bedeutung dieser Fläche wird auch dadurch unterstrichen, dass sie zu den Auswahlgebieten nach der Flora-Fauna-Habitat-Richtlinie (FFH-Gebiet) gehört. Wie sehr das Gebiet aber auch hinsichtlich seiner Artenausstattung anthropogene Züge aufweist, zeigt die hier vorkommenden krautigen Pflanzenarten: Die Auflistung verzeichnet eingeschleppte und eingebürgerte Arten aus allen Kontinenten! Sie sind jedoch unterdessen ebenso ein Bestandteil der Vielfalt wie das heimische Ausgangsinventar.
Der historisch gewachsene Lebensraum aus zweiter Hand kann also durchaus paradiesische Züge annehmen. Mehr noch: Die „second hand“-Natur gilt häufig vor allem wegen ihres unerwarteten Artenreichtums als besonders schützenswert. Die aktuelle Liste der Naturschutzgebiete weist es klar aus. Aus ökologischen, floristischen und/oder faunistischen Gründen sind tatsächlich nicht nur die so genannten Primärbiotope wie Urwaldreste, Moore, Quellfluren, Felsen oder Binnendünen geschützt, sondern in stattlicher (und sogar überwiegender) Anzahl gerade die unter dem Flächenregime des Menschen entstandenen Ersatzstandorte wie Orchideenwiesen, Enzianmagerrasen, Wacholderheiden oder Nassfluren. „Natur“schutz bezieht ausdrücklich – so versteht es auch die Neufassung von §1 des Bundesnaturschutzgesetzes von 2002 als ausdrücklichen Auftrag – auch die reale Ersatznatur der Kulturlandschaft ein. Obwohl der Begriff der „second hand“-Natur in der öffentlichen Wahrnehmung nicht unbedingt positiv besetzt ist, müssen die solchermaßen etikettierten Lebensräume durchaus keine minderwertigen, ökologisch entwerteten Ersatzlösungen darstellen. Natur und Kultur sind nach modernem Verständnis kein grundsätzlicher Gegensatz, sondern eher komplementär zu sehen. Auf diesem Hintergrund stellt sich natürlich auch die Frage, welche „Natur“ im konkreten Fall beim Vollzug des Naturschutzgesetze zu schützen ist. Dieses Problem bestimmt im Übrigen auch häufig die Leitbilddiskussion in der ökologisch orientierten Kulturlandschaftspflege.
Ein Teil der ehemaligen Flächen des Mündungsdeltas zeigt sich heute als extensiv genutztes Auengrünland. Im Hintergrund ist die Kirche von Kripp erkennbar.
Wir erleben gegenwärtig eine beträchtliche Verarmung von Arteninventaren auch der Kulturlandschaft, die zu großer Sorge Anlass gibt. Merkwürdigerweise nimmt auch das Maß an Toleranz deutlich ab. Da sich Natur und Ersatznatur nach ihren eigenen Ordnungsprinzipien entfalten und mithin durchaus chaotisch aussehen können, kollidieren sie mit dem an einfachen, weil linearen Ordnungsstrukturen orientierten Empfinden vieler Menschen (aus bürokratischen Entscheidungsebenen), die folglich versuchen, die angeblich so bedrohlich ungezügelte Vielfalt in übersichtliche, saubere Bahnen zu lenken, dabei alles wieder vereinheitlichen, geradlinig einrichten und vor allem pflegeleicht umgestalten. Diese Aspekte sind zu berücksichtigen, wenn im unteren Ahrtal im Jahre 2008 (hoffentlich) die Landesgartenschau Rheinland-Pfalz stattfinden wird und damit auch das Ahrmündungsgebiet stärker in den Blickwinkel rückt.
Literatur:
ANL (Bayerische Akademie für Naturschutz und Landschaftspflege)(Hrsg.): Wildnis – ein neues Leitbild? Möglichkeiten und Grenzen ungestörter Naturentwicklung für Mitteleuropa. Laufener Seminarbeiträge 1, 1-147 (1997).
Burggraaff, P. & Kleefeld, K.-D.: Historische Kulturlandschaft und Kulturlandschaftselemente. Angewandte Landschaftsökologie H. 20, Bonn-Bad Godesberg 1998.
Frey, W., Lösch, R.: Lehrbuch der Geobotanik. Pflanze und Vegetation in Raum und Zeit. Gustav Fischer Verlag, Stuttgart 1998.
Hobohm, C.: Biodiversität. UTB 2162, Quelle & Meyer Verlag, Wiebelsheim 2000.
Konold, W. (Hrsg): Naturlandschaft – Kulturlandschaft. Die Veränderung der Landschaften nach der Nutzbarmachung durch den Menschen. ecomed, Landsberg 1996.
Kremer, B. P.: Lebensraum aus Menschenhand. Schützenswerte Biotope der rheinischen Kulturlandschaft. Köln 1997.
Kremer, B. P. (Hrsg.): Natur am Mittelrhein. Themen, Tipps und Touren. Düren 1999.
Kremer, B. P. (Hrsg.): Die Ahr erleben und genießen. 2. Aufl., Wienand Verlag, Köln 2002.
Küster, H.: Geschichte der Landschaft in Mitteleuropa. Von der Eiszeit bis zur Gegenwart. C. H. Beck Verlag, Munchen 1 995.
Markl, H.: Natur als Kulturaufgabe. Über die Beziehungen des Menschen zur lebendigen Natur. Deutsche Verlags-Anstalt, Stuttgart 1986.
Schmidt, R.: Die Kartenaufnahme der Rheinlande 1801-1828. Gesellschaft für rheinische Geschichtskunde, Bonn 1972.
Wegener, U. (Hrsg.): Naturschutz in der Kulturlandschaft. Schutz und Pflege von Lebensräumen, Gustav Fischer Verlag, Stuttgart 1998.
Kartengrundlagen:
Ausschnitt aus Tranchot-Karte 112, Blatt Remagen; Preußische Neuaufnahme 1893, Blatt 3157 Linz; TK25 5409 Linz Ausgabe 1997, veröffentlicht mit Erlaubnis des Landesvermessungsamtes Rheinland-Pfalz vom 2.4.2003, Az.: 26 722-1.401