Johannes Müller zum 100. Geburtstag

Johannes Müller zum 100. Geburtstag

VON ERNST KARL PLACHNER

Johannes Müllers Name ist nicht als der eines großen Politikers oder Industriellen in den letzten Jahrzehnten seines Lebens von Österreich bis Nordamerika erklungen. Nein, dieser bergische Bauernsohn, dem das Ahrtal ein halbes Jahrhundert Wahlheimat war, blieb bis zu seinem Tode Küster und Organist der Ahrweiler St.-Laurentius-Pfarrkirche. Es hat viele komponierende Organisten gegeben, aber nicht viele sind so kreuz und quer durch die kirchenmusikalische katholische Welt bekannt und gesungen worden wie er : nachweislich von Wien bis Chikago. Diese Tatsache verpflichtet uns, sein Bild in einem der Kreisjahrbücher unserer schönen Heimat festzuhalten.

Johannes Müller wurde in der Heiligen Nacht 1864 auf „Kochshof“ in der Nähe des berühmten Altenberger Domes, wo er bereits als Sechzehnjähriger Orgel spielen durfte, geboren. Am Weihnachtsmorgen brachte man heiter und froh das strampelnde Kindlein auf einer großen bäuerlichen Festtagsschüssel ans Bett der Mutter. Jemand meinte fromm und sinnvoll, das Kindlein habe gewiß in der Heiligen Nacht die Engelchöre gehört. Wir wissen es nicht, aber ein edler und frommer Meister der katholischen Kirchenmusik ist aus ihm geworden, und die bäuerlichen Eltern haben seinen früh sich zeigenden Wunsch, Kirchenmusiker zu werden, nie gehemmt, sondern stets gefördert. Schon als Knabe lag er mit einem musikalischen Lehrbuch hinter den väterlichen Heuhaufen. Seines Lehrers Horbach, der ihm die „Allgemeine Musiklehre“ gegeben hatte, hat er bis ins hohe Alter dankbar gedacht. Bald durfte er in Köln bei Hofzimmer weiterlernen. Das war nicht so einfach, denn es gab keine Eisenbahn, kein Auto, keine Elektrische. An den Unterrichtstagen stand er um drei Uhr auf. Die Mutter versorgte ihn mit tüchtigen Bauernbroten, und dann ging er viereinhalb Wegestunden zu Fuß nach Köln. Aus der Stille des einsam gelegenen elterlichen Hofes schritt er dem Morgen und der großen Rheinstadt entgegen. In den Abend hinein schritt er wieder dem Hofe zu. Es gab unterwegs auch verrufene Stellen, wo Überfälle lauern sollten, aber der Junge war nicht bange. Seine Seele erfüllte die göttliche Schöpfungsschönheit, über den jugendlichen Wanderer ergoß die Morgensonne ihre Strahlenwunder, über dem heimwärts Wandernden klang die Harmonie des Bestirnten Himmels. Regen und Sturm packten ihn, die großen „Variationen“ der Jahreszeiten durchzogen sein Herz. War die Nacht allzu dunkel, so daß auch die naturvertrauten bäuerlichen Eltern Unheil fürchteten, stand die Mutter wartend und betend auf der Straße.

Hofzimmer, ein in Mülheim lebender, tüchtiger Mann, öffnete ihm das Tor in die Zukunft. Er begriff rasch, daß er einen jungen Menschen vor sich hatte, der nicht aus Zeitüberfluß so weite Wege machte. Johannes durfte bald bei den Proben des Domchores zuhören. Das war eine außerordentliche Vergünstigung. Von Köln führte ihn der Weg zur Kirchenmusikschule nach Aachen, wo er Lieblingsschüler des später durch ein Denkmal geehrten überragenden Kontrapunktikers Prof. Neekes wurde. Ihm verdankte Müller die Wegweisung zu Palestrina, den man mit Recht einen Fürsten der mittelalterlichen Musik genannt hat. Palestrina steht in seiner Weise an einem Wendepunkt der musikalischen Entwicklung und hatte durch den Mund Neekes‘ dem bergischen Bauernsohn vieles zu sagen. Und er nahm es so tief in sich hinein, daß er bis zum Tode dem mittelalterlichen Meister die Treue hielt. Auch für Müllers eigenes Schaffen wurde er entscheidend. Nach Abschluß der Aachener Studienzeit entschied sich Müller, den man gerne im Kölner Gebiet behalten hätte, für ein Angebot des damaligen Dechanten Seul nach Ahrweiler. Von Jahr zu Jahr ergriff er die ihm gestellten Aufgaben und Möglichkeiten immer mehr. Und das waren nicht nur musikalische. Er war Küster, wurde verantwortungsbewußter Familienvater und Winzer. Mit welchem Eifer er sich das den bergischen Vorfahren fremde Gebiet des Weinbaus erobert hat, bezeugt, daß später auf der Höhe seiner Komponistenlaufbahn nach der glanzvollen Uraufführung seiner großartigen „Missa solemnis“ in Bonn ein geistlicher Herr der Beethovenstadt in der Festrede sagte: „Johannes Müller schreibt nicht nur weitum die besten Messen, sondern keltert auch einen der besten Weine.“

Das damals noch ganz ländliche Ahrweiler erkannte bald die Musikfreudigkeit und Befähigung des „Küsters“, wie er in der einheimischen Bevölkerung bis zum Tode genannt wurde. Der unter seiner Leitung in späteren Jahren auf 120 (!) aktive Sänger und Sängerinnen angewachsene Kirchen- und Marienchor sang schon um 1900 Konzerte, daran die ganze Einwohnerschaft teilnahm. Selbstverständlich erteilte er auch Unterricht. Manch einer, darunter auch der in Ahrweiler geborene Chordirigent und Komponist Severin Wiemer, hat hier einen Teil seines fachlichen Rüstzeugs erhalten. Müller hat auch – unter Dir. T Prof. Dr. Leyhausen – eine zeitlang den Schülerchor des Realgymnasiums Ahrweiler-Neuenahr geleitet, später den ehemaligen „Quartettverein“ der Kreisstadt, als ein Nachfolger des ihm befreundeten, um diesen Chor hochverdienten Ehrenbürgers Ferdinand Gies.

Als Komponist trat Müller in seiner Lebensmitte vor dem ersten Weltkrieg zunächst mit geistlichen Chorliedern und einer Messe an die kirchenmusikalische Öffentlichkeit. Kein geringerer als der damals wie heute bis ins Ausland bekannte Verlag Schwann, Düsseldorf, der übrigens fast alle Veröffentlichungen Müllers gedruckt hat, setzte sich für ihn ein. Müller schrieb damals „Palestrinastil“. Das war gewiß kein Fehler, aber auch nichts Neues. Allein diese Erstlinge verrieten eine Formsicherheit und Klarheit, die nur von ganz wenigen Komponisten der „musica sacra“ damals beherrscht wurden. Das erkannte Griesbacher, ein führender Fachkritiker jener Jahre, und schrieb: „Wenn der Komponist sieh von seinem großen Vorbild löst und seine künstlerische Eigenform findet, wird er zur Fortentwicklung und Erneuerung der von ihm vertretenen Musik wichtige Beiträge zu spenden haben!“ 

Wohl bemerkt: zur Fortentwicklung und Erneuerung! Der Komponist galt also nicht als einer unter vielen, sondern als ein besonderer mit ungewöhnlichen Möglichkeiten. Die von ihm „vertretene Musik“ ist die katholische Kirchenmusik. In ihr ist Müller dann auch seinen Weg gegangen. Selbstverständlich, schrieb er nicht „modern“, ich meine im kirchenmusikalischen Stil unserer Zeit. Er hat mitgebaut am Übergang vom „Cäcilianismus“ zu dieser „Moderne“. Im vorigen Jahrhundert rang die kirchliche Kunst nicht ohne Mühen um neue Formen. Z. B. war in der Glasfensterkunst die „Tafelmalerei“ zu Unrecht eingedrungen, d. h. man malte auf großen Seheiben, während die echte Glasfensterkunst wie ein durchleuchtetes Mosaik wohl durchdacht und höchst kunstvoll kleinere und größere nach jahrhundertealten, zum Teil streng behüteter Verfahren hergestellte farbige Glasstücke zusammensetzt. Es war eine gewisse Verflachung hier und dort eingetreten, der der sogenannte „Cäcilianismus“ in der Musik mit ;neuen Impulsen entgegentrat, so daß er schließlich Brücke zu einem Neuen werden könnte. An dieser Brücke hat der Ahrweiler Meister kräftig mitgebaut.‘ Der entscheidende Schritt ließ nicht lange auf sich warten und fand in der viel gesungenen und rasch vergriffenen „Missa assumpta est Maria in coelum“ oder, wie sie kurz genannt wurde, in der „Assumpta“, unverkennbaren Ausdruck.‘ Hier steht der Komponist in der Mitte zwischen kirchenmusikalischer Überlieferung und der Moderne. Die Formen der Tradition sind bis zum Zerspringen gespannt, so stark das Grundgefüge auch noch palestrinensisch ist. Überall wittert man Morgenluft neuer, schöner Möglichkeiten. Man spürt den sich ankündigenden Meister. Dieses Darinnenstehen zwischen heute und morgen, die Sicherheit, die aus der Beherrschung großer Vergangenheit, der Reiz, der aus dem sich ankündigenden Neuen klingt – das alles machte zusammen mit einer kristallklaren Stimmführung und Harmonik gerade dieses lautere Müllersche Opus zu einem Lieblingswerk vieler Chöre. Mit der „Assumpta“ hatte Müller seine Lehrjahre hinter sich, er war Geselle geworden. Wann wird die Meisterschaft errungen sein? Noch im ersten Weltkrieg begann er das Werk, dem das heilige Zeichen vollendeter Entwicklung anhaftet, die „Missa solenmnis“, kurz „Solemnis“ genannt. Über die Eifelberge bis ins Ahrtal scholl das Grollen der Westfront. Da erhob ihn die Muse der Kirchenmusik, die heilige Cäcilia, zur Meisterwürde. Bei diesem Werk ging die Musikerpersönlichkeit Johannes Müllers in voller Reife in die Form des Kunstwerkes ein. Hier ist er mit keinem anderen Meister zu verwechseln. Hier ist er ganz und gar nur er selbst. Die Geburt der reifen Persönlichkeit im Kunstwerk ist Stilbildung. Der Erfolg dieses Werkes war gewaltig. Wer es fachkundig studiert, ist darüber nicht erstaunt, denn es ist in der Tat grandios. Eine kirchenfürstliche Feierlichkeit und strahlende Gottestiefe erfüllt es. So ist es kein Zufall, daß es u. a. auch anläßlich eines Pontifikalamtes des Titularerzbischofs von Trier Dr. Rud. Bornewasser gesungen wurde, daß der Müller befreundete, als Dechant in Ahrweiler waltende Ehrendomherr Dickopf mit seinen Herren, als das Werk auch in der Kreisstadt unter Müllers hinreißender Leitung von seinem großen, für ihn begeisterten Chor gesungen wurde, während des großen „Credo“ in andachtsvoll staunender Bewunderung lauschte. In der schönen alten Kirche war an jenem hohen Festtag kein Stehplatz mehr frei, und der auch der Musik aufgeschlossene Geh. Rat von Ehrenwall sagte unmittelbar danach im kleinen Kreis betont: „Das war ein kirchenmusikalisches Ereignis!“

Jetzt hatte sich Müllers tiefstes, ureigenes Wesen offenbart. Nun verstanden viele den Ausspruch einer prominenten Musikerpersönlichkeit von auswärts, wonach der Komponist Themen finde, auf denen man ganze Symphonien aufbauen könne. Man verstand auch, daß ein Schüler Franz Liszt’s, der den in seinen Weinbergen vor dem Adenbachtor arbeitenden Künstler sah, in ihm einen Meister der Tonkunst an Kopf und Antlitz erkannte. Wie eine Quelle, aus der Tiefe sich Bahn brechend, alle Hindernisse beiseite schiebt und schleudert, so brach jetzt eine geradezu elementare Schaffenskraft aus ihm hervor. Er war ein Sechziger und wirkte wie ein Vierziger. Er riß bis zuletzt seinen Leib zur höchsten Leistung empor, bis er unter dem Übermaß zerbrach.

Damals, als die „Solemnis“ ihn emporhob zu weithin anerkannter Größe, als die Presse in Aufsätzen und Bild ihn pries, Fachblätter auf den rheinischen Meister hinwiesen, ein Musiklexikon ihn aufnehmen wollte, mehr und mehr Besucher von draußen in das alte, kleine Küsterhaus am Ahrweiler Markt kamen, ging eine schier erstaunliche Jugendkraft von ihm aus. Jetzt schrieb er auch „weltliche Musik“, wie er sagte, Werke für Männerchor, gemischten Chor. In Köln wurde seine „Rheinhymne“ mit tiefstem Eindruck uraufgeführt. Die Fachkritik stellte sie neben den bislang führenden Rheinhymnus des Kölner Meisters Max Bruch. Damals schrieb er auch den heute noch gültigen Pfingsthymnus der schlesischen Dichterin Maria Dedo-Brie: „Ich bin ein Scheit und lechze nach dem Feuer, daß es reich möge hell entbrennen lassen … !“, der erstmalig vom Ahrweiler Kirchen- und Marienchor gesungen wurde. Vieles, vieles ist damals entstanden. Es können nur einige Beispiele genannt werden. Nach dem Tode seiner Frau schrieb er ein „Requiem“, von dem mit Recht gesagt wurde, seine Sätze seien wie „gemeißelte Marmorsarkophage“, ein groß angelegtes „Vater unser“ (auch von seinem Chor gesungen), ein „Glaubensbekenntnis“ (ebenfalls hier gesungen). Er schrieb Musik zu einem Weihnachtsspiel, noch mehrere Messen, darunter die später auch für Begleitung mit Orchester bearbeitete „Theodorusmesse“. Sie konnte in Ahrweiler nicht gesungen werden, weil sie noch schwerer war als die zum Teil sechsstimmig geschriebene „Solemnis“ (reit Orgel). Die für Männerchor geschriebene Theodorusmesse wurde in Köln uraufgeführt (die „Soleinnis“ in Bonn). Er schrieb und schrieb. Er kam von der Weinbergsarbeit mit neuen „Einfällen“, er kniete beim Morgengrauen in der Kirche und komponierte. „Ich sehe nachts schon die Noten vor mir, und dann muß ich schreiben!“ sagte er. „Wenn es mir vergönnt ist, will ich noch etwas zur Ehre Gottes schreiben!“ war ein hin und wieder charakteristischer Ausspruch Müllers. Aus den anfänglich gekälkten Stuben seiner Ahrweiler Wohnung war durch riesigen Fleiß und Sparsamkeit u. a. ein stilvolles Künstlerzimmer mit einem Richard-Wagner-Flügel, geschnitzten alten Möbeln usw. geworden. Die Wände hingen voll mit Ehrenurkunden und Lorbeerkränzen. Davon hing ein ganz großer dicht neben der Tür. Eine Seite wurde immer kahler. Auf meine Frage erklärte er lachend: seine Frau zupfe nun schon so lange für die Küche daran! Müller hatte sehr viel Sinn für antike Möbel. Ein Kölner Versteigerer wartete stets, bis der „Herr Müller aus Ahrweiler“ da war. Müller schnitzte auch selbst so gut, daß er stark beschädigte Teile seiner Schränke usw. gut ergänzen konnte.

Der Höhepunkt seiner kirchenmusikalischen Tätigkeit hängt mit der österreichischen Stadt Salzburg zusammen. Hier, wo Mozart geboren wurde, wo das Mozarteum als Schule, das Festspielhaus als Theater Weltruhm genießen, steht der nicht weniger berühmte Salzburger Dom, ein Nachbild des Petersdomes. An ihm wirkte und wirkt noch heute Prof. Jos. Messner, ein geistlicher Herr, Dozent am Mozarteum, Dirigent und Orgelmeister des Domes und weltbekannter Komponist. Mit ihm hat der Ahrweiler Meister in der letzten Zeit seines Lebens korrespondiert. Prof. Messner schrieb ihm, er werde eine seiner großen Messen im Salzburger Dom persönlich zur Aufführung bringen und ihn bei seiner nächsten Deutschlandreise in Ahrweiler besuchen. Das Wort, an Müllers Grab gesprochen, ist also wahr: „Nie hat ein Meister Deiner Art im Tal gelebt!“, und das Ehrengrab der Stadt am Hochkreuz des Friedhofs sowie die Straßenbenennung am Markt als „Johannes-MüllerStraße“ ehren zugleich die Stadt, in der er gelebt und gewirkt hat.

Der Meister war Mitglied der „Are-Künstlerschaft“, die er sehr liebte. Diese Vereinigung schöpferischer Künstler feierte ihn zusammen mit dem „Kunstkreis Ahrweiler“ anläßlich seiner fünfzigjährigen Tätigkeit in der Kreisstadt. Von dieser Ehrung ist mit Recht gesagt worden: „Das war die Krönung!“ Sie sollte es sein, aus dem Herzen seiner Wahlheimat, der Stadt, dem Kreis Ahrweiler. Kurz darauf starb er nach einem Sturz auf Glatteis an eintretenden Komplikationen am 18. Januar 1942 im Hospital zu Ahrweiler.

Vor dem Adenbachtor in Ahrweiler steht auf einem Müller’schen Grundstück das Haus seiner Schwiegertochter, der Gattin des verstorbenen Sohnes Peter Müller, der als sein Amtsnachfolger das musikalische Erbe vorbildlich betreute. Frau Wwe. Peter Müller hat mit großer Liebe das Komponistenzimmer aus der alten Wohnung am Markt dort neu eingerichtet. Es zeigt vieles aus dem Leben des Meisters, auch das vorzügliche Porträt Müllers von Hanns Matschulla und das große Rötelblatt von Alfons Schädel (Altenahn +), das Müller an der alten Orgel, von singenden Engeln überschwebt, komponierend zeigt und von den erwähnten Künstlervereinigungen ihm zu seinem 50jährigen Amtsjubilätum geschenkt wurde. Frau Müller ist gerne bereit, das Müller-Gedächtnis-Zimmer zu zeigen.
Der Kölner Lehrer Müllers, Peter Hofzimmer, (1844-1903) war eine starke Musikerpersönlichkeit, Orgelschüler von Domkapellmeister Friedrich Koenen, Klavierschüler von Friedrich Gernsheim, später von Prof. Janes Kwast. Mit 25 Jahren wurde er von 32 Bewerbern Nachfolger Ziskovens an „St. Maria Himmelfahrt“ als Organist und Dirigent des „Choralvereins“, 1897 gründete er das Mühlheimer Konservatorium der Musik.