Iwan Turgenjew – ein früher Sinziger Kurgast
Karl Deres
Die russischen Dichter des 19. Jahrhunderts haben einen hervorragenden Ruf in der Weltliteratur. Zu den herausragenden Dichterpersönlichkeiten dieser Zeit zählt Iwan Turgenjew (1818-1883). Er hat unter anderem die Romane »Ein Adelsnest« und »Väter und Söhne« geschrieben. Und er war einer der ersten Kurgäste in Sinzig.
Iwan Turgenjew, Aquarell vn A. P Nikitina (Org. Staatl. Literaturmuseum, Moskau)
Einen eindrucksvollen Beleg hierfür konnte ich jetzt finden: Nach langem Schriftwechsel mit der Botschaft der UdSSR liegt jetzt eine Kopie eines Schreibens des Dichters aus und über Sinzig vor – eine wahre Fundgrube für jeden Heimatforscher.
Die Idee, über den Turgenjew Aufenthalt zu forschen, kam mir, nachdem ich dessen Erzählung »Assja« gelesen hatte – die Geschichte spielt teils in L., teils in S. am Rhein. Sollte S. etwa Sinzig sein? Im Nachwort des Buches wurde dann der Verdacht noch verstärkt: S. könnte Sinzig meinen und bei L könnte es sich um Linz handeln.
In den Lebensberichten Turgenjews wird zwar ein kurzer Aufenthalt in Sinzig erwähnt; sonst war aber hier bisher weiter nichts bekannt. Bisher offene Fragen können nach dem nun vorliegenden Brief endlich beantwortet werden. Warum kommt ein so bekannter, wohlhabender Künstler ausgerechnet nach Sinzig? Was sucht er hier? Und wie schließlich wirken Landschaft und Menschen auf ihn?
Auf die erste Frage gibt ein Brief vom 9. Juli 1857 an seinem Freund Anenkow Auskunft:
Turgenjew kommt auf ärztlichen Rat nach Sinzig. Ein Dresdener Medikus hatte dem jungen Dichter eine Kur zur Linderung seiner Rückenbeschwerden in Bad Ems oder Sinzig vorgeschlagen. Beachtlich ist, daß die Sinziger Quelle schon wenige Jahre nach ihrer Entdeckung einen so guten Ruf genoß, daß sie mit dem damals mondänen Bad Ems auf eine Stufe gestellt wurde und sie schon in Dresden bekannt war. Turgenjew gab Sinzig den Vorzug, da er hier in dem kleinen Kurort eher Muße zum Schreiben zu finden glaubte.
So war Sinzig damals also mehr in Fachkreisen als bei mondänen Müßiggängern bekannt. An mehrere Freunde schickte der Dichter deshalb nicht nur ausführliche Anleitungen, wo Sinzig auf Landkarten zu finden ist, sondern auch kleine Skizzen, auf denen Sinzig zwischen Bonn und Koblenz eingezeichnet ist.
Seiner Tochter Paulinette schreibt er am 9. Juli 1857: »Wenn Du wissen willst, liebe Paulinette, wo ich mich befinde, nimm eine Karte von Deutschland und dann findet Du den Rhein, suche auf dem linken Ufer die Stadt Koblenz und etwas tiefer (rneinabwärts) wirst Du eine andere Stadt sehen, die sich Bonn nennt. Zwischen diesen beiden Orten, immer auf der linken Rheinseite, befindet sich ein anderer Ort, der sich Remagen nennt. Sinzig liegt eine halbe Meile von Remagen entfernt – aber ich bezweifele stark, daß Deine Karte genau genug ist, daß sich der Ort darauf findet«.
Sinzig um 1855 mit St. Peter, Zehnthof (l.) und Schul- und Stadthaus (r.)
Turgenjew hoffte in Sinzig Linderung und Heilung von seinen Rückenbeschwerden zu finden, daher trank er viel Wasser und badete täglich. »Ich befolge mit einem Wort alle Vorschriften des Arztes in dem Bestreben mich zu heilen« (9. Juli an Paulinette). Man weiß nicht, ob Turgenjew damals schon das schwere Rükkenmarksleiden hatte, an dem er später starb. Nach anfänglichen Schwierigkeiten bekam ihm das Wasser immer besser. Der Dichter hielt seine sechswöchige Kur durch.
Immerhin war die Quelle damals schon recht bekannt, denn Turgenjew berichtet, er wohne »direkt im Badehaus, das heißt in einer alleinstehenden Villa neben der Quelle« (16. Juli 1857). Sinzig hatte damals also schon ein Badehaus, obwohl der Brunnen erst vier Jahre vorher erschlossen worden war, und offenbar zufriedene Gäste. Denn der Dichter berichtete von einem Engländer: »Er hatte kranke Beine als er kam und konnte sich kaum bewegen. Jetzt besteigt er Berge«.
Das Rheintal und die umliegenden Berge beeindruckten den weitgereisten Russen sehr. »Wir sind hier in einem schönen Land – mitten in einer fruchtbaren Ebene, umgeben von hohen Bergen« (9. Juli an Paulinette).
Sinzig beschreibt der Dichter in seiner Geschichte »Assja« sehr anschaulich. Es ist das Bild eines freundlichen, friedlichen und harmonischen Städtchens mit hübschen Mädchen:
»Allerliebste blonde Mädchen spazierten abends, gleich nach Sonnenuntergang (es war im Juni) durch die engen Straßen, sagten artig und freundlich »Guten Abend«, wenn sie mich, den Ausländer trafen, und manche blieben auch dann noch, wenn der Mond hinter den spitzen Dächern der alten Häuser aufging und sich in seinem milden Licht die kleinen Steine des Pflasters deutlich abzeichneten. Ich wanderte dann gern durch die Stadt«.
Dem Heimatkundigen fallen neben treffenden lokalen Schilderungen aber auch sofort geographische Fehler auf. So dürfte es sich bei der von Linz aus zu sehenden Loreley wohl um die Erpeler Ley gehandelt haben, und die Tageswanderungen von Sinzig aus dürften wohl eher in die Eifel als in den Hunsrück geführt haben. Abgesehen von solchen offensichtlichen Verwechslungen bietet die Geschichte aber doch interessante heimatkundliche Bilder, die allerdings auch Fragen nach sich ziehen: Schwer einzuordnen ist zum Beispiel die riesige Esche unter der »eine Madonna mit fast kindlichem Blick und einem roten, von Schwertern durchbohrten Herz auf der Brust« steht. Gab es die Madonna wirklich und wo ist sie geblieben? Schließlich mutet es den an Autobahnen und Schnellstraßen gewöhnten Leser von 1989 doch überraschend an, wenn die direkte und schnellste Verbindung nach Köln noch vor 130 Jahren zu Schiff über den Rhein ging.