»Heute fahren wir in den Tod«

Das Eisenbahnunglück von Oberzissen im Oktober 1907

Dr. Martin Persch

Im Oktober 1907 ereigneten sich binnen acht Tagen zwei größere Eisenbahnunglücke im Kreis Ahrweiler. Am 24. Oktober, einem Donnerstag, stießen abends gegen 22 Uhr auf der im Jahre 1858 eröffneten linksrheinischen Bahnstrecke, etwa 300 Meter nördlich des Bahnhofes Niederbreisig zwei Güterzüge zusammen, von denen der aus Richtung Köln kommende ein Haltesignal nicht beachtet hatte. Durch die Wucht des Aufpralls wurden insgesamt 11 Waggons vollständig aus dem Geleise gehoben und teilweise gänzlich zerstört, teilweise schwer beschädigt. Der Hilfsbremser Orth aus Koblenz-Neuendorf, der sich im letzten Wagen eines der Güterzüge befand, geriet dabei unter einen umstürzenden Waggon und konnte nur noch tot geborgen werden. Die gänzlich zerwühlte Unglücksstelle war über und über mit Trümmern besät. Erst am Mittag des darauffolgenden Tages war die Unglücksstelle geräumt. Alle Züge. so ein zeitgenössischer Bericht, »erlitten stundenlange Verspätungen, da beide Hauptgeleise gesperrt waren. Der ganze Schnell- und Luxusverkehr wurde über die rechte Seite des Rheines geleitet.« Genau eine Woche später, am 31. Oktober, ebenfalls einem Donnerstag, schlug das Schicksal noch härter zu. Diesmal traf es einen Personen- und Güterzug der im Jahre 1901 eröffneten Brohltaleisenbahn. und zwar nahe der Ortschaft Oberzissen, abends gegen 18.30 Uhr. Der aus Kempenich kommende Abendzug der Brohltanbahn bestand außer der Lokomotive aus je einem mit ca. 18 Personen besetzten Personen- und einem Packwagen sowie zehn Güterwagen mit in Kempenich geladenen Kartoffeln und in Weibern beigeladenen sogenannten Weiberner Steinen. Bis Brenk ging alles gut. Als aber hier noch drei Wagen mit Steinen und Kleinschlag hinzukamen, äußerte der aus Kempenich stammende 37jährige Zugführer Ferdinand Weber, Vater von acht Kindern. angesichts der leichten Lokomotive und der, abschüssigen Strecke bis Oberzissen, die nur mit Hilfe einer zusätzlichen Zahnradmaschine zu bewältigen war: »Heute fahren wir in den Tod.« Er sollte recht behalten.

Niederzissen.gif (80439 Byte)

Die Unglücksstelle in Oberzissen

Mit wahnsinniger Geschwindigkeit raste der Zug die steile Zahnradstelle hinab. Er durch-fuhr die Strecke, für die 12 Minuten Fahrzeit vorgesehen waren, in knapp 2 Minuten bergab. Kurz vor Oberzissen geschah dann das Unglück. Bei einer scharfen Biegung der Strecke, die von einer sehr hohen Überführung nach Oberzissen hin abfällt, stürzte der Zug den ca. 30 Meter hohen Bahndamm hinab. Die schweren Steinwagen zerdrückten den Personenwagen zum Teil: mehrere Fahrgäste wurden dabei unter den Wagen mit Steinen begraben. Einige Reisende hatten die Geistesgegenwart besessen, aus dem stürzenden Wagen abzuspringen. Sie kamen mit dem Leben davon, so die 22jährige Kempenicher Lehrerin Elisabeth Gransweid. Der Fabrikarbeiter Matthias Schleich aus Niederzissen sprang bereits vor der Unglücksstelle aus dem Personenwagen heraus, weil ihm die Schnelligkeit des Zuges unheimlich vorkam, und brach sich beide Beine.

Getötet wurden neben dem bereits genannten Zugführer Weber der Kartoffelhändler Krähe aus Heimerzheim, der Reisende Radüge der Mayener Firma Kohlhaas, der Ingenieur Hermann Kurt Stützling aus Koblenz und der neunzehnjährige Erdarbeiter Abele Pelligri aus Uho (Italien). Er befand sich auf einer Reise in seine Heimat und wurde am 3. November unter großer Anteilnahme der Bevölkerung in Oberzissen beigesetzt. Sechs Reisende wurden schwer verletzt, unter ihnen der zwanzigjährige Lehrer Anton Waeschbach aus Hannebach. »Mit vieler Mühe gelang es, den Lehrer aus Hannebach, der mit einem Bein festgequetscht war. und fürchterliche Schreie ausstieß, unter den Trümmern hervorzuziehen«, berichtet die Extrabeilage zum »Paulinus-Blatt«. Sechs weitere Passagiere erlitten leichtere Verletzungen.

Die Presseberichte heben übereinstimmend das hilfsbereite Verhalten der Bevölkerung von Ober- und Niederzissen sowie der umliegenden Dörfer hervor: »Vier Ärzte eilten sofort zur Unglücksstelle. Auch die Krankenschwestern aus dem Krankenhause Niederzissen waren anwesend und betätigten sich an den Rettungsarbeiten. Herr Vikar Michels spendete den Schwerverletzten die Sterbesakramente.

Herr Bürgermeister Trapet mit Polizeibeamten war am Unglücksorte anwesend und sorgte für Bergung der Leichen und Unterbringung der Verletzten. Der Schulsaal war in ein Krankenhaus umgewandelt. Der Jammer und das Wehklagen der Verletzten und Sterbenden und deren Angehörigen war herzzerreißend. Die gesamte Bürgerschaft von Nieder-, Oberzissen und Umgegend war an der Unglücksstelle anwesend und bei dunkler Nacht mit Rettungsarbeiten beschäftigt.«

Im Laufe der folgenden Tage erschienen drei Geheimräte vom Eisenbahnministerium und vom Ministerium der öffentlichen Arbeiten in Berlin an der Unglücksstätte. Die Staatsanwaltschaft in Koblenz veranlaßte vorsorglich die Verhaftung des Lokomotivführers. »Tausende« von Schaulustigen versammelten sich an der Unglücksstelle, wie es in einem zeitgenössischen Bericht heißt.

Ab dem 2. November verkehrten die Züge der Brohltaleisenbahn wieder fahrplanmäßig von der Unglücksstelle bis Kempenich. Am 17. November schließlich konnte die Extrabeilage zum »Paulinus-Blatt« melden: »Die Wunden der beim Eisenbahnunglück verletzten Personen heilen alle ohne Entzündungserscheinungen, die Verletzten sind völlig fieberfrei und befinden sich außer Lebensgefahr.«

Auch in den Folgejahren sind die Eisenbahnen im Kreis Ahrweiler von Unglücksfällen nicht verschont geblieben. Die bislang größte (und hoffentlich auch letzte) Katastrophe ereignete sich am 16. August 1918 beim Zusammenstoß eines Truppentransportzuges mit einem Personenzug unweit von Liers an der Ahr. 26 Tote und 31 Schwerverletzte forderte dieses Eisenbahnunglück.

Literatur
Extrabeilage zum Paulinusblatt Nr. 44 vom 3. 11. 1907, S. 5: Nr. 45 vom 10. 11. 1907. S. 3; Nr. 46 vom 17. 11. 1907. S. 3. —Arbeiterfreund. Nebenblatt zum Paulinusblatt für dessen Abonnenten in den Kreisen Saarbrücken. Saarlouis. Ottweiler, St. Wendel und dem Fürstentum Birkenfeld sowie den angrenzenden Bezirken der Pfalz und Lothringen Nr. 45 vom 10. 11. 1907, S. 1. — Ernst Wölbert. Das Eisenbahnunglück in Liers am 16, August 1918. in: Heimatjahrbuch für den Kreis Ahrweiler 1958. S. 124 – 125.