Heimat in Oberwinter
Kleine Liebeserklärung an einen vielhundertjährigen Ort am Rhein
Egon H. Rakette
Es war damals, als die »Provisorische« begründet wurde. Meine ehrwürdige Vaterstadt Breslau war im Chaos des Krieges untergegangen. Konnte es einen Ersatz geben? Die Ratlosigkeit war schmerzlicher als der Verlust von Hab und Gut.
Am gleichen Tag, an jenem 1. September 1949, an dem ich auftragsgemäß den Nordflügel des Bundeshauses für den Bundesrat »in Besitz nahm«, ging ich durch die Stadt: Der Strom mit seinen Schiffen, der Universitätstrakt, das Münster, ich verglich und suchte Ähnlichkeiten. Waren nicht auch die Obststände auf dem Marktplatz gleich denen auf dem Ring vor dem Breslauer Rathaus? Das Kreischen der Straßenbahn beim Abbiegen in die Poststraße, hatte ich es nicht am Scheitniger Stern gehört? Damals, vor einer immer mehr ins Vergessen versinkenden Zeit? Sommerlich gekleidete Spaziergänger am Rheinufer nicht anders als auf dem Oderdamm! Für kurze Zeit schloß ich die Augen, zugleich von Erinnerungen eingeholt und von der Gegenwart überwältigt. Ich spürte meine Heimatlosigkeit. Wie sollte ich sie überwinden?
Meine Kinder nahmen mir die Entscheidung ab. »Hier gibt es nichts Grünes«, sagten sie mit vor Enttäuschung gedehnten Wörtern, als sie aus den Fenstern der alten Reuterstraßenwohnung blickten. In dieser Minute wurde meiner Frau und mir klar, daß uns Heimat nicht geschenkt würde. Wir mußten uns bemühen, seßhaft zu werden. Wir brauchten ein Stück Grund, irgendwo ein Geviert mit Blumen, die wir pflanzten, mit Bäumen, die wir groß zogen, einen Fetzen Erde in dieser Landschaft, die uns für die Zukunft beherbergen sollte.
Es hätte Brenig oder Villip werden können. Es wurde Oberwinter. Der Zufall hatte uns hinausgeführt. Als wir auf der Rheinhöhe standen, erschöpft vom Aufstieg und staunend über den herrlichen Blick, sagten wir wie aus einem Munde: »Hier!«
So kamen wir in das tausendjährige Dorf am Rhein, nach Oberwinter und seinen Fachwerkhäusern und engen Gassen. Als wir mit dem Ohm Schmitz den Kaufvertrag abgeschlossen hatten, breiteten wir eine Decke auf »unserer« Wiese aus, vergaßen Hunger und Durst. Eichhörnchen, Specht und Amsel waren uns wie alte Freunde. Wir sahen uns satt an Wester-wald und Siebengebirge, schauten nach Ro-landswerth, wo Freiligrath gewirkt hat, und hinüber nach Unkels, wo Stefan Andres lebte. Das Glück machte uns schweigen.
Knapp zwei Jahre später waren wir Hausbesitzer, »oben auf dem Berg«, wie die Dörfler sagten. Man lebte sich ein mit jedem Atemzug, mit dem Wind aus der Eifel, und mit dem Rasseln der Ankerketten der Rheinkähne. Wie wir in Breslau in dem stillen Vorort Bischofswalde gelebt hatten, wohnten wir nun in jener kleinen Gemeinde zwischen Remagen und Bonn. Hatten wir uns eine neue Heimat gekauft? Wir machten es uns nicht so leicht.
Das wuchs mit jedem Tag, aber allmählich mehr. Das wuchs mit den Menschen, mit denen wir Umgang hatten, mit Maler und Schreiner, und mit Frau Müller, der liebenswürdigen Posthalterin, die bald wie eine lang Vertraute war, mit dem Altbürgermeister Liemersdorf und dem Rentner Peter Günther, mit denen ich im Gemeinderat zusammenarbeitete, mit den Bauern Holtoff und Prinz, wenn sie ihre Kühe auf die Weide vor unserem Haus brachten und wir ihnen Wasser gaben, um das Vieh zu tränken. Mit den fröhlich pfeifend daherkommenden Postboten Engels und Vogels und mit Hermann, dem fleißigen Brötchenausträger. Um nicht den bedächtigen Kirchenrat Sachsse zu vergessen, der seine Aufgabe nicht nur mit der Sonntagspredigt erfüllte.
Es war ein Zeichen unserer Aufnahme in die Dorfgemeinschaft, als die Dörfler den schmalen Weg, der von der Rheinhöhe an unserem Grundstück vorbei zum Friedhof führte, »Ra-kettenweg« nannten, solange er noch keine amtliche Bezeichnung hatte. In diesem Augenblick spürten wir, daß wir aufgenommen waren. Wir hatten uns wieder Heimat erworben.
Wie es an der Tür unseres Bischofswalder Hauses stand, schrieben wir den Bibelspruch über den Eingang unseres Überwinterer Hauses: »Geh ein unter mein Dach!« Schlesische Freunde kamen und nahmen an unserem Glück teil. Fremde, wenn sie gutgesonnen waren, wiesen wir nicht ab, nicht den Kriegsverletzten, nicht den müden Wanderer. Man lebte auch von dem Vergeltsgott, das sie zum Abschied sagten. Allmählich nahm das Haus die Patina der Jahrzehnte an. Birken und Tannen, ganz klein gepflanzt, suchten den hohen Giebel zu erreichen, und der Nußbaum wuchs so prächtig wie jener am Breslauer Waldschratweg, den meine Eltern vor einem halben Jahrhundert gepflanzt und nie mehr wiedergesehen haben.
Gab es Zinken am hölzernen Tor? Sie klingelten immer wieder: Der Blinde mit der gelben Binde am Arm, der Auftragssammler der Behindertenwerkstatt, der entlassene Strafgefangene und eine junge Mutter mit zwei kleinen Kindern, die in Not waren. Aus dem immer neu empfundenen Glück, nach dem Fliehenmüssen Heimat neu begründet zu haben, blieb keiner am Tor unbedacht. Gaben aus christlicher Verantwortung und Demut.
In ständigem Turnus kam der kleine Mann aus Remagen, ein ambulanter Händler mit Postkarten und Nähgarn, dazu manchem Krimskrams, den man nicht brauchte und doch abkaufte, um den Hausierer nicht leer ausgehen zu lassen. Schon vom Tor rief er, seinen breitkrempigen Hut schwenkend: »Ja, ihr Leute, der kleine Mann ist wieder mal da!« Er lachte vor sich hin, insgeheim sicher, daß er willkommen war. War er wirklich von irgendwem abgewiesen worden? Er beklagte sich nicht.
Der Mann war einschließlich seines mächtigen Hutes nicht größer als einsdreiundfünfzig. Er hatte sich unter die Stiefel dicke Lederflecken machen lassen, um größer zu erscheinen. Es hatte nicht viel geholfen. Er machte aus seinem Zwergwuchs eine Größe.
Zu uns kam er jeweils in der ersten Woche des Monats, mit Regelmäßigkeit vormittags. Man konnte mit ihm rechnen. Da er so klein war, stellt er sich auf die Zehenspitzen, äugte zwischen den Latten des Tores hindurch und wiederholte ununterbrochen mit seiner kindlichen Fistelstimme! »He, Frau, nu ja, der kleine Mann aus Remagen iss wieder da!« Er drängte sich durch das geöffnete Tor und ging schnurstracks zum Haus. Man hatte den Eindruck, ein Paar überdimensionale Stiefel ging mit einem darauf gestülpten Hut spazieren. Er benahm sich wie ein alter Bekannter, und er war es auch. Er setzte sich ohne viel Umschweife auf den Stuhl an der Küchentür und kramte, sichtlich guter Laune, in seiner Ledertasche. Schließlich meinte er treuherzig: »Heut möcht‘ kein Kaffee sein. Hamse vielleicht ein’n Kakao?«
Ungefragt erstattete er Bericht über die vergangenen vier Wochen. »Was soll ich Ihn’n sagen? Gute Leute, schlechte Leute, Ich seh’s denen schon an der Nasenspitze an. Manchen, da geh ich erseht gar nicht hin. Der kleine Mann ist auch ein Mensch. Der kleine Mann ist kein Bettler. Er ist klein, aber er braucht sich nicht treten zu lassen. Doch wenn ich nur einsdreiundfünfzig bin. Innen drin wird’s nicht nach Zentimetern gemessen, na gell?«
Früher war er Schäfer, im Schlesischen, »aus Winzig, kennen Se Winzig? Der Winzig aus Winzig« lachte er verlegen. Jetzt sei er schon eine Weile hier am Rhein, in Remagen. Aber mit dem ambulanten Handeln, da habe er Schwierigkeiten mit dem Amt, »ach und Sie, guter Mann«, setzte er rasch hinzu, als er hörte, daß ich im Bundeshaus arbeite, »soso, im Bundeshause? Vielleicht können Se da bissei was machen? Einem so‘ bissei in die Rippen stoßen, Herr?« Er fingerte in der Tasche,
holte einen Stoß Ansichtskarten heraus und blätterte sie auseinander: »Zweie dürfen Sie sich raussuchen, Sonste gibts nur eine. Man muß auch rechnen.« Dann erzählte er von seiner alten Heimat. »Schmigrode, Duchen, kenn‘ ich alle wie meine Westentasche. Eines Tages haben sie mich nach Winzig gebracht und mir eine Niere weggenommen. Da war’s aus mit den Schafen. Und auch mit meinem treuen Asko. Alle meine Hunde hießen Asko. Dort, wo er starb, habe ich ihn begraben. Der Mensch denkt, und Gott lenkt. Glauben Sie, daß Hunde auch in’n Himmel kommen?« Er schüttelte den Kopf. »Ich hab keinen Asko mehr gebraucht. Wissen Sie das Neueste?« kam es unvermittelt aus seinem Mund. »Der kleine Mann fährt heim. Nee, nee, nicht nach Remagen. Nach Schlesien fährt er. In letzter Zeit mußte ich immerzu an die alte Heimat denken. An all das dortte. ’s wird Zeit, denke ich . . .« Er sagte nicht, wozu es Zeit würde.
Das war vor einigen Jahren. Der kleine Mann ist nicht mehr wiedergekommen. Aber andere kamen zu einem Gespräch über den Zaun. Selten ging ein Dörfler vorüber, wenn er vom Holzmachen aus dem Walde oder vom Heuwenden auf seinen Wiesen kam. Und wenn es nur ein Zunicken war und eine kurze Frage: »Alles gut?« Regelmäßig kamen freundliche Menschen, um mit mir über Gott und Christus zu sprechen. Ein Fremder schellte und fragte, indem er auf das Namensschild wies: »Ich hab‘ mal ein Buch von einem Rakette gelesen. Sind Sie vielleicht verwandt mit dem?« Ein Ehepaar blieb, erschöpft vom Bergaufstieg, am Zaun stehen und fragte nach dem Cafe Saß auf der Waldheide, als ich freudig erschrocken zusammenfuhr: »Mein Gott, Herr Meißner!« rief ich. »Wie haben Sie mich gefunden?« Wir kannten uns aus dem Ministerium in Berlin. Die Welt ist klein. Alles Getrennte fand sich wieder. Die alte und die neue Heimat verband sich.
In einem halben Leben sind aus den »Hereingeschmeckten« längst Hiesige geworden, aus den Schlesiern nun Überwinterer. Es ist gut, hier zu sein.