Harte Schule – Erlebnisse eines „Fahrschülers“ 1948
Harte Schule
Erlebnisse eines „Fahrschülers“ 1948
Franz Koll
Fahrschüler gibt es nach wie vor: heutzutage womöglich häufiger als früher. Mit Rädern, Mopeds, eigenen Wagen, Bussen und Zügen treffen sie des Morgens am Schulort ein. Wer etwas entlegener wohnt, ist deshalb noch nicht aus der Welt und auch nicht unbedingt im Nachteil. Unter Umständen eröffnet dies sogar die Möglichkeit, im Nobeltaxi vorzufahren.
An dergleichen Annehmlichkeit war natürlich seinerzeit nicht zu denken. Wer sich in den Nachkriegsjahren – meist nicht aus eigenem Antrieb, sondern gehorsam dem Wunsche der Eltern entsprechned – tagtäglich von Staffel aus auf den Weg zum Gymnasium machte (damalige Adresse: Weinbauschule Walporzheim), erfuhr sehr bald, wie umständlich, beschwerlich und mitunter geradezu abenteuerlich dies war. Wir beide indessen – Helmut mit seinen 12 und ich mit 11 Jahren- hielten den Belastungen wundersam unangefochten stand. Nässe, Kälte, Wind und Hitze vermochten uns nachhaltig nichts anzuhaben.
Klaglos und gelassen nahmen wir Tag für Tag die Mühe des Schulwegs auf uns. So taucht auch jener Februartag 1948 weniger als besonders bemerkenswert denn als lediglich beispielhaft fürs Übliche aus der Erinnerung auf. Nach reichlich Schnee und strengem Frost hatte eine Warmfront über Nacht milde Luft und Regen gebracht.
Nach Mutters behutsamem Wecken kurz vor fünf war ich nach der immer gleichen Abfolge:
Gebrauch des Nachttopfs, Waschen über der großen Porzellanschüssel, Anziehen, Frühstükken und Verstauen der nierenförmigen Butterbrotdose (Inhalt: drei Doppelte mit wenig Butter und viel Rübenkraut) nach 20 Minuten startbereit.
Ich schob mein Rad, eine klapprige Mühle mit widerlich blauem Anstrich, im Stockfinstern auf die Straße und versank augenblicklich in fußtiefem, glitschigem Schneematsch. Als ich schlingernd zu Helmut auf die andere Bachseite fuhr. um ihn, wie gewöhnlich, abzuholen, rief ihm seine Mutter besorgt nach: „Paß op, dat de net falls!“
Über solche Ratschläge fühlten wir uns erhaben, grenzte unsere zwangsläufig erworbene Geschicklichkeit auf dem Fahrrad doch schon beinahe ans Akrobatische. Wir zogen die Kappenschirme tief, schlugen die Kragen hoch und taten die Hände erst gar nicht an den Lenker, vergruben sie vielmehr in den schrägen Seitentaschen unserer Dreivierteljacken. „Berze Kiehr“ am Ortsausgang, ohnehin heikel wegen ihrer Enge, waren wir mit solch unangemessener Fahrweise an diesem Morgen jedoch nicht gewachsen. Unter dem großem Birnbaum glitten wir beide, einem zusammengespannten Paar gleich, wie abgesprochen in den Matsch. Ein paar leise Flüche und Verwünschungen, ein hastiges Abstreifen der gröbsten Schmutzbrokken – und weiter gings, den Lenker nun fast verkrampft in den klammen Fingern, über die holprige, arg kriegsbeschädigte Straße hinab nach Kesseling.
Die Gruppe der Bahnarbeiter, auf die wir hier regelmäßig stießen, schien uns diesmal bereits voraus zu sein. Wollten wir unseren Zug in Brück noch erreichen, mußten wir nun auch ein wenig mehr an Tempo riskieren, als es der Schneematsch eigentlich zuließ. Hinter Kesseling, „Am Rott“, wo sich der Winter erfahrungsgemäß lange hält und wo der noch gefrorene Boden alle Nässe zu spiegelblankem Eis hatte werden lassen, verspürte ich plötzlich einen weichen Anprall und stürzte über irgend etwas hinweg. Helmut war es ähnlich ergangen; er schien sogleich im Bilde zu sein und schrie aus Leibeskräften: „En well Sau, en well Sau“ – eine naheliegende Vorstellung, denn Wildschweine liefen uns in der Tat nicht selten über den Weg. „Von wejen well Sau; mir sen dat“, tönte es jedoch unwirsch aus dem Dunkel. Die Kesselin-ger waren an der tückischen Stelle, sich gegenseitig niederreißend, allesamt zu Fall gekommen und krochen, ebenso wie wir, hilflos auf allen Vieren umher. Mein Kontaktmann schien vollends die Übersicht verloren zu haben und rief ein ums andere Mal: „Wat es dann heh los?“ Ich ließ ihn im Unklaren, tastete nach meinem Rad mit der festgeklemmten Tasche, fand Helmut wieder und mahnte zur Weiterfahrt.
Im trüben Schein der Brücker Bahnhofslampe betrachteten wir näher, was wir schon gefühlt und geahnt hatten: Von Kopf bis Fuß durchnäßt und verdreckt waren wir, und über meinem linken Knie hing die Hose in Fetzen. Die Kesse-linger, die kurz nach uns eintrafen, durften sich am Kanonenöfchen im Dienstraum des Bahnhofsvorstehers Lecoque wärmen. Wir, die Kleinen, hatten keinen Zutritt und hielten uns bibbernd auf dem zugigen Bahnsteig auf.
Endlich rollte der Zug unter Fauchen und Kreischen ein, und in letzter Minute stürzten Günter und August hinzu. Sie hatten es nicht weit zum Bahnhof, waren nicht wettergebeutelt wie wir und wirkten auf uns, die wir dagegen aussahen wie abgerissene Landstreicher, immer leicht hochnäsig. August entwickelte gar einen gewissen Sinn für stilvolle Morgentoilette allgemein, besonders aber für die sorgfältige Pflege seiner Lockenpracht; im Grunde l’art pour l’art, denn junge Damen, auf die dies hätte wirken mögen, gab es nicht im Zug.
Statt dessen aber fielen drei ernste, junge Männer aus der Adenauer Gegend auf, die dem Vernehmen nach Kriegsgefangenschaft hinter sich hatten und nun bestrebt waren, das Reifezeugnis nachträglich zu erwerben. Sie waren vertieft in blaßgelbe Büchlein mit der Aufschrift „OVID-Metamorphosen“ und scherten sich nicht um das Gehabe von uns albernen Bürschchen. In Altenahr stiegen die Tertianer Mönch, der unentwegt Trompetengeschmetter mit seinen Lippen imitierte, und Fuhrmann zu, dessen stramme Waden ich sommers bewunderte und die nun leider eine unelegante, aus grober Luftschutzdecke gefertigte lange Winterhose verbarg.
Den erbärmlichsten Anblick boten aber ganz eindeutig Helmut und ich, die jüngsten im Zug. Ein Mann mit schlaffem Hamsterrucksack hatte uns seit Kreuzberg gemustert und wollte endlich wissen: „Wo kut ihr dann her, us Sibierie?“ “ Nä, us Staafel“, krähte Helmut stolz. Der Mann winkte verächtlich ab und murmelte: „Dat es doch etselbe.“
Je näher wir Walporzheim kamen, umso mehr Schüler standen auf den Bahnsteigen. Schließlich trottete ein schweigendes Häuflein von etwa 25 Unausgeschlafenen unter kugeligem Rotdorn neben der Straße vom Bahnhof in Richtung Schule. Das weite Ahrtal stellte witterungsmäßig eine andere Welt dar. Der Schnee war vollständig weggetaut: ein erster, zaghafter Hauch von Frühling lag in der Luft.
Der Hausmeister hatte die Schultür für uns Frühankömmlinge soeben aufgeschlossen und schlurfte, nur notdürftig bekleidet, zurück zu seiner Dienstwohnung im Nebengebäude.
Es war kurz vor sieben: in einem kleinen Raum gleich links neben dem Eingang warteten wir bis zum Unterrichtsbeginn. Ich schaute nochmals in den „Marchand“, unser Französichbuch, und prägte mir Satzmuster ein zu familleDupont und cousin Fritz Hickel. Einige erledigten grundsätzlich einen Teil ihrer Hausaufgaben erst in der Wartestunde zwischen sieben und acht. Wer daheim an kniffligen Mathematikproblemen zu nächst gescheitert war, mußte nicht verzweifeln. Die älteren Herrn Primaner halfen stets bereitwillig aus der Not.
Der Zug war inzwischen nach Remagen gefahren und brachte pünktlich und passend kurz vor achtdieUnterahrschüler. Eswarenihrerbedeu-tend mehr als wir von der Oberahr, und dazu waren sie durchweg von der selbstbewußteren Sorte. Die Bahn schien dem Rechnung zu tragen: jedenfalls wurde eine Fahrplanumkehrung zu unseren Gunsten nie erwogen. Minderheiten haben eben nur selten Privilegien.
Mit dem Klingelzeichen zur ersten Stunde ging unsere Oberahrgruppe bis zum Mittag in die verschiedenen Klassen auseinander. In meiner Quinta konnte ich mich unter den gegebenen Umständen nicht recht wohlfühlen. Einige Neu-enahrer hänselten mich wegen meines Aussehens und rümpften gar wegen meiner durchnäßten und unfein dünstenden Kleider hämisch die Nasen. Für die Pause nahm ich mir vor, dem Unangenehmsten unter ihnen wieder einmal Prügel anzubieten.
Dazu kam es jedoch nicht, denn Studienrat Roth, mit Fliege und onduliertem Grauhaar wie aus dem Ei gepellt, zitierte mich, den Langaufgeschossenen, aus der letzten Bank noch vorne und meinte in leicht ironischem, aber dennoch spürbar mitfühlendem Ton: „Bist du wieder naß? Dann setz‘ dich hier an den Ofen; und während der Pause bleibst du drinnen!“
Gegen elf schaute er, obwohl nun Kollege Spronk bei uns unterrichtete, eigens noch einmal herein und rief: „Na, wieder trocken hinter den Ohren? Dann ab mit dir nach hinten!“ Derart einfache, gleichwohl wirksame menschliche Maßnahmen festigten meine vorübergehend gefährdete Position in der Klasse umgehend.
Nach dem Unterricht drängten die von der Unterahr unverzüglich nach Hause, während uns wiederum vorerst nur das ärgerliche Warten blieb, bis der Zug von Remagen zurückkehrte. Besonders Eifrige machten sich schon an die Hausarbeiten, andere verzehrten aus den Blechdosen die Reste ihres Tagesproviants. Die wilden Recher und Dernauer gaben ihrem den ganzen Vormittag übergebremsten Bewegungsdrang nach und tobten ausgelassen zwischen Sträuchern und Büschen des Schulgeländes umher.
Für mich gab es, wie so häufig, einen Botengang zu erledigen für jemanden aus Staffel, der selbst nur mit großer Mühe die Kreisstadt hätte aufsuchen können. Ich rannte also die gute Viertelstunde Wegs nach Ahrweiler. Wegen meines Hosenrisses war ich sehr verlegen und hatte Bedenken, mich damit in die städtische Öffentlichkeit zu wagen. Mein rübenkrautdurchweichtes Mittagsbrot kauend, schlich ich hinter dem Obertor die Stadtmauer entlang zur nächstgelegenen Apotheke und besorgte auftragsgemäß die Asthma-Tropfen für Krings Anton. Im Vorbeigehen warf ich in Jarres Schaufenster einen Blick auf ein Paar Schlittschuhe, von denen ich nicht einmal zu träumen gewagt hätte, sie je zu besitzen.
Als ich in den Aufenthaltsraum zurückkehrte, gab es gerade schadenfrohes Gelächter um den verstört dreinblickenden Günter. Die Alten-ahrer hatten, als er kurz eingenickt war und seine Hand locker über der Banklehne hing,
seinen kleinen Finger in eine mit kaltem Wasser gefüllte Butterbrotdose getaucht. Daraufhin war ihm geschehen, was ein Gymnasiast normalerweise unter Kontrolle zu haben glaubt. Er war jedenfalls unten herum in viel peinlicherer Weise naß, als Helmut und ich es seinen höhnischen Blicken nach des Morgens gewesen waren. Die reiferen Herrn aus der Prima schüttelten mißbilligend die Köpfe.
Kurz nach zwei war es an der Zeit, zum Bahnhof zu gehen. Die penible, mit allerlei wichtigtuerischen Mahnungen an zugfahrende Schüler verbundene Sichtprüfung der Monatskarten durch den uns allen wohlbekannten Schaffner war das einzig Belebende an der eintönigen Rückfahrt, abgesehen zuweilen von unschicklichen Grapschversuchen zudringlicher Finger während der kurzen Tunneldurchfahrten.
Ahraufwärts leerte sich der Zug zusehends. Als vorletzte der Fahrschüler stiegen wir in Brück aus. Lediglich die älteren Herrn aus Adenau blieben noch im Abteil und verabschiedeten sich von uns mit einer knappen Geste.
Helmut und ich nahmen unsere Räder aus dem Wellblechverhau hinter dem Bahnhofsgebäude, klemmten die Schultaschen auf die Gepäckträger und machten uns auf den langen, stetig ansteigenden Weg nach Staffel hinauf. Wir hatten Glück: Die Straße war nun weitgehend frei von Schneematsch. Es hatte aufgehört zu regnen, und ein frischer Rückenwind aus Westen erlaubte einen ungewohnt leichten Pedaltritt. Wir fuhren, durch nichts weiter auf der Straße behelligt, die ganze Zeit breit nebeneinander her und stellten weitschweifige Vermutungen an über die physiologischen Zusammenhänge bei Günters Mißgeschick.
Um halb vier waren wir in Staffel. „Tschüs, bes moa froh“, rief Helmut und fuhr über die Brücke auf den Hof. Waldmann und Strolch, die beiden Dackel, begrüßten ihn lauthals.
Als ich nach weiteren hundert Metern heimkam, war Onkel Alois unter dem Heustall beim Holzsägen. Ich merkte ihm an, daß er fest damit rechnete, ich würde mich nun sogleich ans Spalten machen. Er sagte nämlich, ohne sich lange mit verständnisvollen Erkundigungen nach meinem Befinden aufzuhalten: „He kütt de Student on hätt de janze Daach noch nix jedon“.