Gleiwitz
DAS TOR ZUM OBERSCHLESISCHEN INDUSTRIEGEBIET
Von Alfons Hayduk
„Pierunnje bei Gleiwitz!“, sagt kennerisch und augenzwinkernd der Westdeutsche, wenn ich erzähle, daß diese liebenswerte Großstadt am Westrande des oberschlesischen Industriegebietes mir rund ein Vierteljahrhundert Heimat gewesen ist. Pierunnje bei Gleiwitz — das ist eine landläufige Redensart, die durch Jahrzehnte als Inbegriff jenes Grenzlandes galt, das durch Kohle und Erz Weltgeltung und internationale Bedeutung als Wirtschaftsfaktor erster Ordnung gewann. Aber diese Großstadt mit ihren fast 120 ooo Einwohnern bedeutete mehr.
Aus Dörfern wurden Städte, kann man bei Kattowitz, Königshütte, Hindenburg mit Recht sagen. Ihre Urgroßmütter, die an der Wiege des Reviers saßen und auf das ehrwürdige Alter von mehr als siebenhundert Jahren zurückblicken dürfen, das waren Gleiwitz und Beuthen, Auch die alte Freie Bergstadt Tarnowitz muß sie noch um rund dreihundert Jahre Altersvorsprung beneiden. Alter ist an sich gewiß noch kein Verdienst. Aber Alter, das allweil wacker Schritt mit der Zeit gehalten hat und sich von ihr nimmer überflügeln ließ, sie eher noch vorangetrieben hat, das ist schon etwas. Das ist mein Gleiwitz. Das reichlich flach auslaufende Tal der Klodnitz, in dem sich Gleiwitz ansehnlich ausgebreitet hat, von weiten Föhrenwäldem umrandet, hat seine verborgenen Reize, die nicht gleich ins Auge springen, die aber der umso inniger zu schätzen weiß, der sie nach allen Seiten hin erwandert hat, den verträumten Flußlauf entlang von der Quelle zur Mündung, in die südlichen Gefilde zwischen Schönwald und Kieferstädtel, in die nördlichen zwischen Klausberg und Peiskretscham, in die Majestät des gewaltigen Domes rastloser Arbeit nach Osten hin.
Die Stellung von Gleiwitz innerhalb der Städtefamilie des Kohlen und Erzreviers ist einzigartig. Nicht nur als Sitz oberster Verwaltungsbehörden, als Verkehrsmittel^ punkt und Tor zum Industriegebiet hat sich Gleiwitz seine Vorherrschaft redlich verdient, sondern auch als gewerbefleißige und kunstfreudige, lebensaufgeschlossene Stadt, die wir nicht nur spaßhaft das Klodnitz-Athen hießen. Hier stand schließlich das Oberschlesische Museum für Kunst und Kunstgewerbe, residierte ein immer von sich reden machendes Stadttheater, florierte ein Musikverein, lagen die beiden größten Zeitungen des Reviers, der alte „Wanderer“ und die junge „Volksstimme“, in löblichem Wettstreit, und hier machte das repräsentable „Haus Oberschlesien“ Einheimischen und Gästen auf eine vielfältig erstaunliche Weise die angenehmsten Honneurs.
Die Chronik, übrigens ein stattlicher Band, berichtet von einem mauerumwehrten, um die wuchtige spätgotische Allerheiligenkirche — dem Wahrzeichen — gruppierten Städtchen, dessen heiter-tapfere Bürgerinnen den anrennenden Mansfeldern heißen Hirsebrei auf die Köpfe schütteten, den Ruhm der Stadt zu mehren. Als die Preußen kamen und der österreichisch-gemütlichen Art ihr Arbeitstempo aufsetzten, zählten sie nicht mehr als 1200 Einwohner, denen Hopfenanbau und Holzhandel ein geruhiges Dasein garantierten. Aber dieses 18. Jahrhundert war noch nicht zu Ende, da stand schon in Gleiwitz die erste Eisengießerei des Reviers, da ließ hier der erste Koks=Hochofen des europäischen Festlandes seine hellen Abstichflammen durch die Nächte lodern. Und als Schinkel das Eiserne Kreuz, Sinnbild der Volkserhebung, entwerfen hatte, fand sich keine würdigere Stätte, es zu gießen, als die Kunstgießerei der Gleiwitzer Hütte, die sich bis in unsere Zeit mit ihrem Filigranschmuck und sonstigen Kunstgüssen Ansehen und Wertschätzung in aller Welt erworben hatte. An die 120 Jahre hatte der Klodnitzkanal für 135-Tonnen-Kähne mit seinen achtzehn Schleusen die Kohlen von Gleiwitz nach Cosel-Hafen zur Oder getragen, bis ihn ein stattlicher Großschiffahrtsweg für 700-Tonnen-Kähne ablöste, um nur ein Beispiel des steten Strebens zu nennen, das diese fleißige Stadt auszeichnete. Natürlich stand ihr auch der oberschlesische Rundfunksender gut zu Gesicht. Denn Gleiwitz war auch die modernste Stadt des Industriegebiets.
So tüchtig, so vornehm. Also wohl das Düsseldorf des ostdeutschen Reviers?
Gewiß. Aber was Gleiwitz einen unnachahmlichen Reiz verlieh, das war der Kleinstadtzauber seines Innenbezirks um das alte Rathaus mit seinem viereckigen Ring, dem gemütlichen „Gabeljürgen“ des Neptunbrunnens, den engen Straßen und Gassen, den anheimelnden Weinstuben und Bierlokalen, den kleinen Cafes und vergnüglichen Kneipen von der „Engen Weste“ bis zum „Entenar .. .“ Ja, da war gut sein!
Da war: „gemittlich noch und noch“. Das war „altfränkisch“ im schönsten Sinne. Ist es drum so schwer zu verstehen, daß unsereins ewig Heimweh nach Pierunnje bei Gleiwitz hat? Aller Respekt der historischen Leistung dieser. Stadt. Alle Liebe ihrem heiteren Herzen, das zu schlagen nicht aufhören wird.