Geschichten um und mit »Hochwürden«
Friedhelm Schnitker
»Ohse Hehr« als »Possedonn«
Es geschah im ersten Jahr nach dem schrecklichen, leidvollen Krieg. So könnte unsere Geschichte ihren Anfang nehmen, begannen doch die neuen Zeitläufe für uns Jungen des kleinen Eifeldorfes mit aufregenden Erfahrungen und Begegnungen.
Wir lernten unsere Besatzer kennen als Menschen in Uniform, die ihre Schatztruhen uns Kindern öffneten und uns Kaugummi, Apfelsinen und die so heißbegehrte »Schokläht« zukommen ließen.
Langsam begann sich das Leben neu zu ordnen, obwohl sich in unserem Dorf nie viel Veränderung gezeigt hatte.
Und dennoch! Hatten wir Jungen vor dieser Zeit auf dem Mühlenteich noch admiralitätskonform Kriegsschiffahrt »gen Engelland« geübt, so trieb unser Floß nun, »Mark Twain» — gerecht, auf dem Mississippi abwärts, von Bohnenstangen gestakt.
Ja, Pitte, Jupp, Bühb, und, und … wir alle hatten uns sechs leere Benzinkanister von den Amis entliehen, eine alte Holztür aufgelegt, uns »Bunneröhm« als Stakhilfen besorgt und los ging es auf große Fahrt auf unserem kleinen Floß und dem nicht sehr tiefen Mühlenteich.
Langsam trieben wir auf unserem Floß teich-, nein mississippiabwärts. Da neigte sich unser Gefährt langsam, kaum merklich zur Seite. Die Klappverschlüsse der Kanister saugten Wasser. Noch trieben wir phantasiegerecht durch Teichpflanzen als Urwalddickicht und nebenstehende Obstbäume in den angrenzenden Wiesen wurden zu Dschungelriesen.
Doch immer schneller zeigte unser Floß Schräglage, es begann ein Gerutsche, wir schrien aufgeregt durcheinander, weniger aus Sorge um unser Leben als aus Angst vor dem »nassen« Wasser, dem wir lieber aus dem Wege gingen und uns ihm nur unter mütterlichem Zwang bei der abendlichen Reinigungsprozedur auslieferten. Bühb schrie, Pitte und Jupp brüllten »Hölöff«, wir anderen stimmten je nach Stimmlage in das Geschrei ein.
Und dann sahen wir ihn, Hochwürden, »ohse Hehr«! Er stand auf der Wiese, wähnte uns mühlenteichgefährdet; gewohnt, seine Schäfchen vor allen Gefahren zu behüten, zögerte er nicht und — platsch, stand bis zum Bauch, — nein, den wohlgerundeten, wohlstandserworbenen hatte er noch nicht — bis zur Hüfte im Wasser.
Wir Jungen hatten über die Schräglage sach-und fachgerecht unser Floß verlassen und standen bedröppelt, tropfend und triefend, im Wasser; Hochwürden aber — oh je, dort stand durch seinen Platsch den Oberkörper mit Wasserpflanzen und Froschlaich bedeckt, seinen Spazierstock, durch Wasserpflanzen geschmückt, steil aufgerichtet — Poseidon, mit Dreizack bewehrt. Dann ertönte eine grollende, donnernde Stimme: »Heim met euch, on och met mihr!«
Und so geschah es, daß die Dorfbewohner sich verwundert die Augen rieben, als sechs pit-schepatsche nasse Gestalten, Hochwürden voran, mühlenteichgeschädigt durch die Dorfstraße heimwärts eilten. Waren es tatsächlich Hochwürden und seine Meßdiener oder nicht doch »Possedon« und seine Helfer? Man rätselte lange und erinnerte sich noch länger!
»Ohse Hehr« und et Säu-Jüppche
In eben diesem Nachkriegsjahr, das allen noch manche Entbehrung abverlangte, brach eines Nachts in unser Eifeldorf ungestümes, wehrhaftes Borstenvieh ein.
Erste Nebelschwaden kündigten den nahen Herbst an; ruhig war es im Dorf, die meisten waren, erschöpft von vielfältiger Tagesarbeit, zu Bett gegangen, als wir alle von schrillen Rufen geweckt wurden: »Well Sau! Well Sau!« So tönte es durch die Hauptstraße; Türen klapperten, einige zuerst, dann mehr und mehr — Bewohner eilten herbei, erst einige, dann mehr, schließlich schauten alle vorsichtig die Straße entlang. Da galoppierte es heran, eine Rotte Wildschweine, junge und alte, grunzend und hastend. Aus allen Fenstern der oberen Stockwerke schauten Frauen und Kinder auf die Wuzzeschar herab. Einige Männer hatten sich mit Mistgabeln, Äxten und ähnlichen, der allgemeinen Entwaffnung entsprechend, nicht-militärischen Gerätschaften bewaffnet. Mutig stellte man sich der Rotte entgegen, doch dann, ein wildes Grunzen, ein Galoppieren, dann ein wildes Gefummel. Ein vermutetes endliches Ergebnis: drei Frischlinge und ein junger Kailer als Jagdbeute.
Da eilte Schmitze Jüppche, klein von Gestalt, aber tapfer im Gemüt zum Tatort, bewaffnet mit einer uralten Pulverflinte. Dort am Ort traf er leider auf kein Borstenvieh mehr, bis, ja bis aus den Nebelschwaden wie aus dem Nichts plötzlich ein gewaltiger Keiler auftauchte, stehenblieb, schaute; alles räumte blitzschnell unsere Dorfstraße. Nur Jüppche blieb stehen, legte die Uraltflinte an. Et Klär, sein Eheweib, kreischte ihm zu: »Scheeß doch!« Dann ein Riesenknall, die Gewalt des Schusses rieß Jüppche beinahe um, Pulverqualm überall; da tauchte wie ein Standbild der mächtige Keiler unversehrt aus dem Dunst hervor! »Jüppche! Jüppche! Dat es de Deuwel! Mahch dech fott!«, schrie man dem tapferen Recken zu. Langsam, dann schneller, immer schneller galoppierte das grauborstige Viech heran. Jüppche lief so schnell er konnte, doch die Riesenwuzz näherte sich bedrohlich. Dann, Jüppche konnte fast schon den Atem des Ungetüms spüren, ein Sprung, ein Satz. Der tapfere Jäger, nun als Gejagter, saß auf dem oberen Sockel des Segensbildnisses, das als Vorbau an dem Eckhaus während der Kirmes bei der Sakramentsprozession als Altar diente. Auf der Mittelplatte war in bildhaft ausgeprägter Anschaulichkeit die Flucht der heiligen Familie dargestellt.
Gerettet! Endlich gerettet! Die Wuzz grunzte hinauf, Jüppche keuchte herab. Beide gerettet! Hier könnte die Geschichte enden, doch ist es Chronistenpflicht, ihre spätere Fortsetzung zu überliefern.
Jahre später, Jüppche hatte das Zeitliche gesegnet, et Klär hatte ihn nicht ziehen lassen wollen, »Dau bleiws heh! Heh jebliwe! Dat däht dihr suh passe!« Aber ein höherer, ihr nicht
verpflichteter Herrscher, in dessen Allmacht wir alle gegeben sind, sprach sein Richterwort. Und auch et Klär war, ein Jahr später, ihrem Jüppche gefolgt.
Und nun waren die Tage der Kirmes im Dorf gekommen. Feierlich zog die Sakramentsprozession durch unser Dorf; Hochwürden mit dem Allerheiligsten, begleitet von den Schützen. Der Kirchenchor schritt gemessen hinter Hochwürden. Am reich geschmückten Heiligenhäuschen angekommen, setzte Hochwürden die Monstranz auf dem Tischsockel ab, kniete nieder, verharrte, erhob sich und stimmte Fürbitten an, auf die der Chor in wohlklingender Melodie den Antwortvers erwiderte. Und dann ertönte, in Anspielung auf die bildhafte Darstellung der heiligen Familie auf der Flucht, aus dem Munde von Hochwürden die flehentliche Bitte: »Herr, gib Rast und Ruhe allen, die aus ihrer Heimat vertrieben und fliehen!“ Doch noch ehe der Chor seinen Antwortvers musikalisch-melodisch formulieren konnte, ertönte aus der hinteren Reihe es mit tiefer Stimme: »Behöht dat Jüppche tue de well Sau on sengem beissich Klär!“
Einen Moment Stille, dann schmetterte der Chor seinen Antwortvers: »Wir bitten dich, erhöre uns!“
Und viele wollen gesehen haben, wie »ohse Hehr“ inbrünstig mitgesungen hat. Und einige wollen sich dafür verbürgen, gesehen zu haben, wie das Jesuskind mit Augenzwinkern und einem beifälligen Lächeln himmlische Zustimmung zugesichert habe.
So gelangte Jüppche zwar nicht zur Ehre der kirchlichen Altäre, aber doch zu bleibender Erinnerung in der lebendigen Tradition unseres dörflichen Lebens und unserer kleinen Welt.