Genoveva. und Siegfried EINE SAGE AUS UNSERER HEIMAT
Neu erzählt von Walther Ottendorff-Simrock
Auf seiner Burg Hochsimmern, im Maifeld gelegen, lebte um das Jahr 750 nach Christi Geburt der edle Pfalzgraf Siegfried, ihm zur Seite Genovefa, seine schöne und fromme Gemahlin. Da geschah es, daß der Graf auf Befehl des Königs mit vielen anderen Fürsten und Grafen gegen die Heiden, die in Spanien eingefallen waren und nun das Frankenland bedrohten, ziehen mußte. Genovefa war zu Tode betrübt. Bitterlich weinte sie, als Herr Siegfried von ihr Abschied nahm. Die daheim verbliebene Genovefa und das Burggesinde vor jeglicher Gefahr zu schützen, bestellte er den Ritter Golo, den er für den getreuesten hielt. Doch kaum, daß der Pfalzgraf davongeritten war, brach Golo auch schon das in ihn gesetzte Vertrauen. Er verfolgte seine Herrin mit schmählichen Anträgen; Genovefa aber wies diese voller Entrüstung zurück. Da kam der verruchte Mann auf einen teuflischen Gedanken: Mit eigener Hand schrieb er einen Brief, in dem zu lesen war, der Pfalzgraf sei mit seinen Mannen auf dem Meere während eines Sturmes umgekommen. Er las den Brief der Gräfin vor und fügte hinzu:
„Nun steht die Pfalz unter meiner Gewalt, und Ihr sollt meine Gemahlin werden.“ Mit Abscheu wandte sich Genovefa von ihm ab.
Als Golo sah, daß er auch auf diesem Wege sein Ziel nicht erreichen konnte, ließ er sie in einen abgelegenen Teil der Burg bringen. Er trennte sie von jeder Gesellschaft, selbst von ihren Kammerfrauen, und gab ihr zur Aufwartung nur ein altes, ihm ergebenes Weib. Während Frau Genovefa in ihrem Gewahrsam lebte, kam die schwere Stunde über sie: Sie schenkte einem Knaben das Leben und nannte ihn- in ihrem Kummer „Schmerzensreich“.
Da brachte ihr eines Tages ein Bote heimliche Kunde: „Der Herr lebt. Er befindet sich in der Stadt Straßburg und wird bald zurückkehren.“ Wie glücklich war sie da, und Hoffnung erfüllte ihr Herz, bald aus ihrer schmachvollen Lage befreit zu werden.
Golo aber hatte durch seine Späher von der Anwesenheit des Boten Nachricht erhalten und ließ ihn vor sich bringen. Als der treulose Mann hörte, der Herzog werde zurückkommen, erschrak er sehr und fürchtete für sein Leben. Nun reifte in ihm ein neuer Höllenplan: Er warf sich in den Sattel und ritt zu seinem Herrn nach Straßburg. Er berichtete ihm mit trauervoller und stockender Stimme, die Gräfin habe ein Knäblein geboren; doch sei es nicht von ihm, dem hochgebietenden Herrn Grafen Siegfried. Da der Pfalzgraf seinen Worten keinen Glauben schenken wollte, beschwor der falsche Golo seine Aussage. Auf die Frage des verzweifelten Pfalzgrafen, was er nun tun solle, erwiderte er:
„Es steht Eurer Würde nicht an, eine Treulose weiter als Gemahlin in Eurem Hause zu dulden. Erlaubt mir daher, sie samt ihrem Bastard dem Tode zu überantworten.“ Schweren Herzens stimmte der Pfalzgraf zu. Golo aber brach alsbald auf, um seine schwarze Tat auszuführen. Nach Hause zurückgekehrt, befahl er zweien seiner getreuesten Diener, die Gräfin mit dem Kind in den Wald zu führen und sie dort umzubringen.
Als die Knechte in die Mitte des Waldes gekommen waren, eröffneten sie der Gräfin den ihnen von ihrem Herrn gegebenen Befehl und forderten sie auf, sich auf den Tod vorzubereiten. Da kniete Genovefa demütig nieder und empfahl im Gebet ihre Seele dem Vater im Himmel. Inzwischen ergriffen die Diener den unschuldigen Knaben und zückten ihre Messer gegen seine zarte Brust. Die erschrockene Mutter erhob sich von den Knien, fiel den Dienern in den Arm und rief unter Tränen:
„Haltet ein, liebe Leute, und schont das arme, unschuldige Kind! Was hat es Euch getan? Wollt Ihr, daß sein Blut über Euch und Eure Kinder komme?“
Da erschraken die Männer, und ihre Herzen wurden gerührt. Nachdem sie untereinander beraten hatten, sprach der Ältere von ihnen: „Gnädigste Herrin, wir wollen Eurem Söhnlein und Euch selbst das Leben schenken, wenn Ihr uns schwört, für immer in dieser Wildnis zu bleiben und ’niemals mehr zurückzukehren.“
Dies versprach die Gräfin und dankte den Männern für ihre Barmherzigkeit. Die Knechte töteten eines der Windspiele, das mit ihnen gelaufen war, schnitten ihm Augen und Zunge heraus und brachten diese dem Ritter Golo: „Hier seht Ihr, Herr, daß wir getan, was ihr befohlen habt!“
Unterdessen irrte Genovefa in dem wilden Wald umher; sie weinte und betete. Am dritten Tage endlich fand sie eine Höhle, neben der eine Quelle sprudelte, die erste Erquikkung bot. Mit dem Knäblein zog sie in die Höhle ein. Die unglückliche Frau ernährte sich von rohen Wurzeln und Kräutern, sie war es zufrieden. Doch betrübte es ihr Herz: hatte sie doch keine Milch mehr, ihr Kindlein zu stillen. Da flehte sie zur lieben Gottesmutter um Hilfe für ihren kleinen Schmerzensreich. Als sie ihr Gebet gesprochen hatte, trat eine weiße Hirschkuh zwischen den Bäumen hervor, legte sich zahm zu ihren Füßen nieder und blickte sie mit frommen und klugen Augen an. Tagtäglich kam nun, die Hirschkuh zur Höhle, und Genovefa nährte das Kind mit der Milch des guten Tieres. So gingen sieben Jahre dahin, und der Knabe wuchs heran, er lernte reden und gehen und war der Mutter Trost in aller Trübsal.
Pfalzgraf Siegfried hatte im Glanz höfischer Feste und im Kreise wilder Zecher Vergessenheit gesucht und sie doch nicht finden können. Das von Gästen erfüllte Haus er schien ihm leer, wenn er an Genovefa dachte. Waren aber die Tage noch erträglich, so quälte ihn in den Nächten ein immer wiederkehrender Traum. Er sah dann die geliebte Frau in den Klauen eines furchtbaren Lindwurms und konnte ihr nicht helfen. Dieses Traumgesicht offenbarte er eines Morgens dem Ritter Golo:
„Glaube mir, ich sorge mich um die übereilte Tat. Ich selbst bin, so will es mir scheinen, der Drache, der das arme Weib verdarb. Ich hätte sie verhören und ihr Gelegenheit geben müssen, sich zu rechtfertigen. Wehe mir, wenn sie schuldlos starb!“
Hierauf erwiderte Golo mit falschem Munde: „Ich kann Euch, Herr, diesen Traum deuten: Ihr saht im Traum einen Drachen. Ja, Ihr sahet recht: Der Drache ist Drago, der Euer Weib verführte. Er war einst Euer Dienstmann und empfing längst den Lohn, der ihm für seine verruchte Tat gebührte. Und Ihr, Pfalzgraf, zweifelt noch?“
Am lichten Tage ließ sich dieser von den gleißnerischen Worten betören, doch die Wahrheit schaute sein Auge im Dunkel der Nacht. Wieder erschien ihm ein Traumgesicht und erfüllte sein Herz mit Angst und Bangen: Das Jagdgesinde hetzte die Hunde, das Hifthorn schallte, und der Graf selbst sah sich zu Pferde einer fleckenlosen Hirschkuh durch Busch und Wald folgen.
„Weiß ist diese Hindin gewesen, hörst Du es, Golo? Weiß, wie die Unschuld ist. Doch ich hatte sie mir zur Beute erkoren und ließ ihr keinen Ausweg mehr zur Flucht. Mein Pfeil traf das edle Wild zu Tod. Da blickte es mich, als wolle es mich anklagen, mit klugen und frommen Augen an.“
Sprach der verräterische Golo:
„So mag es denn sein, o Herr, daß der Traum nicht trügt, wenn Ihr auf der Jagd früher oder später eine weiße Hirschkuh trefft. Die weißen sind so selten nicht, fleckenlose gibt es genug. Doch was wollen ihre Blicke schon besagen? Alle blicken sie klug und fromm.“ „Auf denn, leint die Rüden fest, die Falken laßt ungekröpft die scharfen Klauen in den Handschuh schlagen! Weckt die fürstlichen Jagdgenossen; heute soll sich mein Traumgesicht erfüllen. Seht, die braune Erdrinde hat der Schnee fußhoch zugedeckt. Die Hindin soll mir jetzt nicht entgehen, die so schnell ihre Läufe zu strecken weiß.“
Der Pfalzgraf ruft es, und schon schwingt er sich in den Sattel. Da greift ihm Golo in den Zügel:
„Heute könnt Ihr sie nicht erspähen, da sie doch dem Schnee an Weiße nicht nachsteht. Hört auf meinen Rat und wartet lieber, bis der Schnee vor der Sonne dahingeschmolzen istl“
Aber, da stößt der Pfalzgraf den Arm, der ihn halten möchte, auch schon zurück. Auf seinem wilden Hengst stürmte er über das weiß glitzernde Feld dahin, und, indessen die Hörner rings ihren schmetternden Ruf erschallen ließen, wurde das Gesicht des Verräters fahl wie die Asche im Herd. Mancher Falke stieg empor und stieß nieder. Müde wurden Reiter und Pferde. Allen weit voran zügelt der Pfalzgraf sein schäumendes Roß: Eine fleckenlos-weiße Hirschkuh verfolgt er durch Busch und Wald. Flüchtig ist sie, unter ihren langen Läufen stäubt der Schnee. Über Stein und Moor setzt der Reiter, sie zu fangen. Doch ist es, als könne er sie nie erreichen. Endlich trifft sie sein Pfeil, rotes Blut färbt die weiße Decke. Das wunde Wild verbirgt sich im Dickicht. Graf Siegfried folgt
seiner Fährte. Sieh, da liegt die zahme Hirschkuh zu den Füßen einer wunderschönen, bleichen Frau, die das der Wunde entströmende Blut zu stillen sucht. Ein Knabe umspielt die Frau, schön und bleich wie die Mutter. Die edlen Glieder sind entblößt und nur von lang herabwallenden goldenen Lokken bedeckt. Der Gruß des Fremden läßt sie zusammenschrecken.
„Zuerst mußt du mir deinen Mantel reichen, wenn ich mit dir reden soll!“, sagt die Frau. Da fällt es dem Pfalzgrafen wie Schuppen von den Augen: Die dort schamhaft vor ihm steht, ist Genovefa; der Knabe an ihrer Hand, den sie ihm jetzt zuführt, trägt die Züge des Vaters. Das ist sein Sohn! Er kann sich nicht der Tränen erwehren. Er beugt das Knie, Verzeihung zu erflehen. Da weinen vor Freude auch seine Ritter und die Edelfrauen, die Knechte und die Mägde.
Sie ziehen heim, Herr Siegfried und die edle Genovefa. Auf dem starken Roß, gleich vor des Vaters Schoß, sitzt Schmerzensreich. Trompeten schmettern, als der Herr und die Herrin in die Burg einreiten.
Jauchzend hören alle Gäste, welches Wunder Gott geschehen ließ. Noch am gleichen Tage mußte der verruchte Golo sterben. Lange Zeit blickte das blutige Haupt des Verräters von der höchsten Zinne der Burg ins weite Land.