Fußball anno »Neunzehnhundertnachkriegsschluß«

Erlebnisse rund um das runde Leder 

Friedhelm Schnitker

Die Zunahme an »Lebensqualität« nach Kriegsschluß konnten wir fußballbegeisterten Dorfjungen unmittelbar ablesen an der Art unserer Tretobjekte: Lumpen-(stoff-)bälle – Hartgummibälle – Lederbälle. Die ersteren waren am einfachsten herzustellen, gab es doch genug zerrissene, abgetragene Kleidungsstücke, die trotz aller Stopfkunst nicht mehr zu retten waren. Von erheblichem Nachteil war, daß diese Bälle nur bei trockenem Wetter bei uns Jungen länger überlebten; einen gewaltigen Vorteil aber besaßen sie: selbst mit Autoreifensandalen waren sie ohne Gefahr eines Zehenbruches zu kicken. Die diesen »Lumpi« auf der beginnenden Wohlstandsleiter der Ballqualität ablösenden Hartgummibälle waren aus Vollgummi hergestellt, machten riesige Hüpfsprünge, glichen mehr einem Hartgummigeschoß und galten als »kostbares Fensterglas knackend« und – sie verursachten Mißverständnisse. Nach langem Spiel auf den Dorfwiesen mit Selbstverpflegung von den Apfelbäumen dämmerte es schon, als wir Jungen dem Dorf zustrebten. »Peterche! Pittemännche! Pitte!« tönte es dem Freund mütterlich-melodisch entgegen. Er enteilte unseren Blicken durch die Haustür ins Innere. Wir trafen uns erst wieder auf dem Weg zu unserer Dorfschule am nächsten Morgen. Vorsichtig setzte Pitteche einen Fuß vor den anderen. »Bat haß de dann?« wurde er bestürmt. Und dann sprudelte es hervor. Das tägliche Ritual der abendlichen Reinigung bezog auch die Füße ein. Mutters kurzer Kommentar: »Autoreifensandalen aus, Strömp eronne, dein Föhß sein jo jans schwarz, do wied jeschrub«. Pitteche nutzte kostbare Seife, schrubbte und schrubbte, wässerte und wässerte, doch die Dunkelfärbung blieb erhalten. Mutter begutachtete, schimpfte, verordnete »Maach weide!«, begutachtete, schimpfte, Pitteche heulte. Bevor Pitteche nun weitere, härtere Behandlungsmethoden über sich ergehen lassen mußte, schrie es gequält aus ihm heraus: »Mein Föhß sein schwaz on jehll on jröhn, dat es kei Dreck, dat sen Spure von de Schüss metdemm Hahtjummidenge«. Pitteches Mutter war fair genug, sich zur Seite zu wenden, um Pitteche nicht ihr Lachen in sonst oft harter und trauriger Zeit zeigen zu müssen. Und dann die Zeit der Sonntagnachmittage. Auf dem Sportplatz wußten wir Dorfjungen die Spieler der ersten Mannschaft beim Heimspiel. Aber vor dem Vergnügen des Zuschauens und der lautstarken Unterstützung hatte unser dörflicher priesterlicher Hirte »sein Heimspiel« angesetzt, die erbauende Christenlehre für seine ihm anvertrauten jungen Schäflein. Namentliche Anwesenheitskontrolle und elterliche enge Zusammenarbeit mit dem Pastor setzten unserer Sportbegeisterung zunächst Grenzen. Doch dann ging es los. Mutters mahnenden Ruf »Haß de och dein Sonndachsnommedachsspillejonnsschöhnche an?« und des Pastors erbauende Worte noch im Ohr, stürzten wir Jungens uns auf unsere drei Räder. Beileibe keine Räder im heutigen Sinne. Rahmen mit hartgummibereiften Rädern und wenigem Zubehör. Wichtig: bevorzugt Herrenfahrräder mit Gepäckträger unter anderem wegen der als Mitfahrplatz dienenden Verbindungsstange.

»Eine op de Stang, eine op de Saddel, eine op de Jepäckträhje« und ab gings holpernd und polternd über die Pflastersteine der Dortstraße Richtung Sportplatz. Eine breite Autostraße mußte überquert werden; Blicke nach links oder rechts kosteten Zeit und waren kaum nötig, Autos fuhren erst wenige. Und der meist einzige, ernstzunehmende hindernde Verkehrsteilnehmer, ein auf seiner Rennsportmaschine lautstark und rasant trainierender Motorradenthusiast – er kündigte sich laut genug an.

Am Sportplatz Nähe Anrufer angelangt, waren wir zunächst außer Atem; wieder bei Puste widmeten wir uns lautstark der Unterstützung unserer Mannschaft. Den Schiedsrichter kannten wir von zurückliegenden Spielen. »De Hömpelepömp« – so hatten wir Jungen den sich schnell humpelnd fortbewegenden, kleinwüchsigen Mann getauft. Er war ein guter Schiedsrichter, unparteiisch, humorvoll, zu fairer Spielweise ermahnend. Unsere Mannschaft mußte verteidigen, der Gegner griff vehement an, da schrie der lange Tünn lauthals seinem linken Verteidigungskollegen quer über den Platz zu:

»Scheeß dal Denge en de … bösen!« Dieser an der Längsseite des Platzes sich erstreckende Busch- und Baumstreifen galt als Sonntags-nachmittagsschmuse für die Dorfjugend. »Hömpelepömp« zuckte zusammen, pfiff gellend ab, eilte auf Tünn zu, baute sich vor ihm auf und dann tönte es laut, aber menschlich so behutsam: »Pfui! Dat heißt üebeswääldche! Unterlassen se su dreckige Wörter! Se scheeßen net nur Eickätzche von de Bäum, se scheeßen och op Katere on annere Kätzche!« Und wie von meisterlicher Regie dramatisch umgesetzt raschelte es in den Büschen, man sah zwei Gestalten schemenhaft durchs grüne Blätterwerk enteilen! Und dann »Hömpelepömp«, mit perfektem Schlußakkord die Unterbrechung beendend und den Fortgang anpfeifend: »Wieh de jesehn haß! Wieh de jesehn haß, Tünn!«

Dieser liebenswerte Schiedsrichter, vor dem alle Spieler großen Respekt zeigten, dehnte bei einem anderen Heimspiel die Halbzeitpause außergewöhnlich lange aus. Spieler und Zuschauer sahen sich um, gerieten in Sorge, eilten zur vorbeifließenden Ahr- da saß »Hömpelepömp« auf einem Uferstein, hatte sich einen Strumpf ausgezogen, kühlte seinen Fuß im damals noch sauberen, klaren Wasser der Ahr und antwortete dem Trainer und uns »Männchen« nur: »Dat kuete Bahn es am qualme, ech moht et jet kohle. Jleich jäht et weide! -»Jo, jo! Mäht ruhich langsam« war die verständnisvolle Antwort des erstaunten Trainers. Und dann, ja dann gab es da noch die Auswärtsspiele. Mannschaft und Zuschauer »reisten« auf der Ladefläche eines »Holzvergaser/ Holzkocher-Lkw«. Uns »Männchen« oblag das Kleinhacken des benötigten Holzes, dann wurde rechtzeitig vor Abfahrt der Kessel befeuert. Und dann ging es los! Doch halt – vorher ordnete der Trainer noch weise an: »De Mann steich füe en!« Sein bester Spieler sollte im Führerhaus vor Zugluft geschützt werden und nur ausnahmsweise bei deutlich sichtbaren Anzeichen verkündete er: »Wenn de verkellt bes, dröck dech füe bei de Mann erenn!«. Und dann begann die »Auswärtsschlacht« am »Tatort«. Unser Linksaußen, de Tünn, nutzte das natürliche Gefalle des Platzes und enteilte seinem Verteidiger. Nachdem ihm dies zweimal gelungen war und er zum dritten Flankenlauf ansetzen wollte, stellte sich ihm auf dem Spielfeld ein mit einem kräftigen Knüppel »bewaffneter« einheimischer Zuschauer in den Weg. »Hee küß de net durch! Probie et! Ech schlonn de met demm Knöppel ahnt drüwwe! Tünn schrie aus Leibeskräften »Dehr haut mech duut! Doot doch jet!« Da eilt der Schiedsrichter, im Nachbarort wohnend, herbei, jeder befürchtete den Beginn einer mächtigen Keilerei; wir Jungen verziehen uns in die hinteren Reihen unserer Anhängerschaft; der Schiedsrichter steht still und sagt: »Ohm Juhsep! Me han de Kreech verloor, me hann de Waffe fottjeschmess! Dat hee es Spill, kä Kreech! Schmeiß de Knöppel fott!« Stille, kein Laut, jeder schaut vor sich hin, dann zum anderen und dann tönt Ohm Juhseps Stimme: »Jo! Do haß de rähch!« und schwang seinen Knüppel in die nächste Brombeerhecke. In einem anderen Dorf bei einem anderen Auswärtsspiel verzweifelten wir bald alle an Pitte-che, unserem spindeldürren Halbrechten. Erst kürzlich aus Kriegsgefangenschaft entlassen hatte er sich als bekannt guter Spieler sofort seinen Kameraden zur Verfügung gestellt. Pitteche lief zu den Seitenlinien, griff sich den Ball, führte alle Einwürfe aus und – ließ dabei seine Zunge über das Leder gleiten. Pitteche spielte gut, spielte besser, lief schneller. Und doch – was bedeutete die Ballküsserei? Verständnisvoll bemerkte der Trainer zu einem Ersatzspieler: »Jo, jo! Dehr hätt lang käh Maritzebillche mih jesehn!« Und dann bei der Halbzeit! Alles stürmt auf Pitteche zu, schaut, fragt, schreit und Pitteche lacht. »De Ball, de schmeck no Rüwwekraut, janz bestemmt. Dat däht esu joht!« Des Rätsels Lösung: der Platzverein hatte seinen einzigen Lederball dem Dorfschuster zum Nähtenähen übergeben. Dieser hatte genäht, dann seinem Gehilfen, dem »Bälle-Kaal« (er kam tatsächlich aus Bell und sollte sich um die Bälle kümmern) geraten« »Fätt de Nöht noch Jet en!« Und statt ans Fett war »Bälle-Kaal« ans dunkle Rübenkraut geraten, zum nichtvermuteten Dopingmittel für Wirbelwind Pitteche.

So war sie, die alte Zeit! Gut war sie sicher noch nicht, aber der Krieg war vorbei. Das Leder rollte wieder und man stritt sich nun, in meist mehr, manchmal weniger fairem Wettkampf um Punkte und Pokale in endlich Friedenszeit. So begann sie, langsam, die neue Zeit.

Zeichnungen: Deisel

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