Frühjahr im Ahrtal
VON JOSEF RULAND
Eigentlich begann unser Neuenahrer Frühjahr immer mit den gleichen Erscheinungen. Nach Ostern, wir hatten mit vieler Mühe und Not von den Eltern ein neues Lesebuch und neue Hefte erringen können — damals war der Erwerb der Bildung noch nicht staatlich subventioniert — hieß es eines Tages: Los, schlagt die Lesebücher auf“. Erwartungsvoll schlugen wir die Bücher auf, jeder an einer anderen Stelle, bis Herr Eich oder Fräulein Simonis die Seitenzahl angab. Da konnten wir nun lesen: „Guckguck, der Frühling ist da!“ oder „Frühlingslied“ von Ludwig Uhland, oder etwas Ähnliches, ganz und gar Poetisches, zudem wir aber allesamt nur schwer Zugang fanden, Weshalb mochten Dichter wohl Gedichte schreiben? Der innere Vorgang und der äußere Anreiz dazu standen nach unserer Meinung in einem solchen Mißverhältnis, daß wir, so schien es, nie dahinterkommen würden, obgleich die Mädchen des zweiten Schuljahrs, mit denen wir ein halbes Jahr unter dem Regiment von Fräulein Simonis zusammen in einem Klassenraum saßen, die Gedichte schon recht gefühlvoll lasen. Wir saßen mit offenen Mündern da, wenn Rosel, ein blasses Ding mit blonden langen Haaren, den Nachnamen habe ich leider vergessen, schon wie eine Vorleserin das Gedicht vor der gesamten. Klasse vortragen durfte. Wenn wir doch eine Geschichte wie „Heiner im Storchennest“ zu lesen gehabt hätten, da geschah doch etwas, aber ein Satz wie „Laue Luft kommt blau geflossen“, der war uns tief unverständlich, und es war schier unbegreiflich, daß das deutsche Sprache sein sollte.
Zu fest waren wir noch in unserer Welt gefangen, einer objektivgegenständlichen Welt, wo gehandelt werden mußte und gehandelt wurde. Der Heimgang des Mittags wurde länger, je mehr wir in das Frühjahr hineinschritten. Der Kurpark wurde aufgeräumt und von Ästen, welken Blättern und Papierfetzen gesäubert, der Musikpavillon wurde angestrichen, die weißen Lehnstühle wurden hervorgeholt, ja, manchmal schon fuhr ein schwerer ausländischer Wagen mit leisem Motor fast geräuschlos durch die Straßen, und die Köpfe der Insassen spähten nach den angegebenen Hotelnamen. Das „Wiss-bächelche“ führte bis an den Rand Wasser, Grund genug, sich jetzt im Weitsprung zu üben, und das nicht nur vorne, wo jeder darüber springen konnte, nein, weiter unten, wo es immerhin seine zwei Meter breit war. So um Ostern herum trafen die ersten auswärtigen Geistlichen ein, hochwillkommene Freunde für uns Meßdiener, denn nach der Messe gab es immer 20 oder 30 Pfennige, eine für unsere Begriffe recht stattliche Summe, für die man allerhand kaufen konnte.
Der nachmittägliche Unterricht begann zur Qual zu werden, stahl er uns doch die schönsten Stunden. Ganz Neuenahr schrubbte, bürstete, strich an, verschönerte sich Zug um Zug. Wenn dann die Palmenkübel aus dem Palmenhaus der Kurverwaltung gefahren wurden, wenn die Beete mit den ersten schwachen Pflänzchen besetzt wurden, dann wurde dies von uns mit objektivem Interesse registriert.
Schlittschuhe und Schlitten hatten endgültig ausgedient. An der evangelischen Kirche begannen die Pferdedroschken ihre Standplätze einzunehmen, und vom Postamt fuhren bereits wieder zweimal in der Woche die ersten Kurgäste, abenteuerlich bekleidet und vermummt, zum Laacher See, zur Hohen Acht oder in das Rheintal. Wir, die wir im Herbst und Winter enger beieinander gerückt waren, flogen wieder in die weitere Umgebung aus, wie im Unterbewußtsein auf der Suche nach der Zeit, die uns jetzt mit Riesenschritten davoneilte.
Bachemer Wiesental
Foto: Kreisbildstelle
Es gab zuviel, das uns beschäftigte. Die Tennisplätze wurden instand gesetzt, auf denen sich Erich Rütten, der jetzige Kurdirektor mit Altersgenossen tummelte, wenn er und seinesgleichen nicht gerade sonntäglich eine Vorstellung auf dem Hockeyplatz an der Landgrafenbrücke gaben.
Im Lennepark, der damals in den Anfängen stand, wurde das Freibad angelegt, ein großes Oval mit einem schönen Sandstrand und einer kurzgehaltenen Liegewiese. Wir Eingeborenen hielten uns aber zunächst mehr an das alte Hochgürtelsche Bad in Hemmessen, wo wir, mit alten Autoschläuchen und Korkwesten ausgerüstet, verzweifelt das Schwimmen lernten, das uns weiß Gott nicht leicht von der Hand ging. Nur am späten Nachmittag beim Heimweg, wurden wir wieder vergnügt, trockneten unsere Badehosen an einer kunstvoll zubereiteten Gertenschwinge und erzählten von Heldentaten im Springen und Tauchen, indes das eigentliche Schwimmen zu kurz kam. Nur Kerle wie Schumachers-Ejon, die hatten die Kunst begriffen, sprangen vom Ein-Meter-Brett und paddelten fidel durch „dat jeruße Becken“ ohne viel Aufhebens davon zu machen.
Das war die Zeit, in der Bischof Bornewasser alljährlich für eine gewisse Zeit nach Neuenahr kam, um sich zu erholen. Einmal trafen wir den hohen Herrn auf dem kleinen „Brückelche“ am Katzenbuckel. Scheu traten wir zur Seite, murmelten „Gelobt sei Jesus Christus“ und waren baß erstaunt, als der Bischof kurz stehen blieb, uns mit seinen bergischen hellblauen Augen musterte „in Ewigkeit Amen“ sagte und dann ruhig weiterschritt. Eigentlich, das kann ich ja heute sagen, eigentlich hatten wir etwas mehr erwartet.
Da war der Hans Stuck, damals ein junger Rennfahrer am Beginn seines Weges, doch leutseliger. Der schob uns ruhig beiseite, als wir allzudicht um seinen Wagen standen, pfiff belustigt durch die Zähne, guckte uns alle an, stieß Lücks-Klaus, der entsetzlich wichtig tat, weil sein Vater von der gleichen Branche war, mit dem Finger vor die Brust und sagte berlinerisch trocken: „Na, Max, da staunste“.
Die Berühmtheiten des Motorsportes kriegten wir Neuenahrer hauptsächlich im Frühjahr zu sehen; denn zu Pfingsten war in Neuenahr die „Große Schönheits- und Geschicklichkeitskonkurrenz, aus der sich später die weitaus bekannteren Rennen auf dem Nürburgring entwickelten. Auch eine Art Sternfahrt wurde damals nach Neuenahr durchgeführt, wobei die Motorsportbegeisterten weder Geld noch Einsatz scheuten, um den Anforderungen zu genügen. Einmal hieß es unter uns Jungen „Joht ens an’t Kurhous, do sinnere zwei, die kunn ous Italie“. Wenn so eine „Flüsterpropaganda“, das würde man heute sagen, unsere Reihen durchlief, dann waren wir nicht zu halten. Unsere Neugierde war eigentlich unstillbar. Wie die Blitze liefen wir los; hin zum Platz vor dem Barocksaal, wo die Fahrzeuge Standen. Bugatti, Daimler, Horch, Steyr und Buick, und wie die Marken alle heißen. Mein Bruder kannte sie alle, doch diesen Ehrgeiz habe ich nie besessen. Es waren für unsere heutigen Vorstellungen recht abenteuerliche Gefährte, mit einer mächtigen Handbremse an der Seite, fast alle offen, so daß Fahrer und Beifahrer dauernd Wind und Wetter ausgesetzt waren. Dieses Gefährt aus Italien war nun wirklich mehr als abenteuerlich, es war geradezu lebensgefährlich, denn es bestand lediglich aus Motor und Chassis. Hinter den Motor hatten die beiden Fahrer ein Brett montiert, darauf sie hockten, noch jetzt deutlich die Anstrengungen der langen Fahrt in den Gesichtszügen. Nur hin und wieder lächelten sie, dann blitzten die weißen Zähne in den braungebrannten, ölverschmierten Gesichtern.
Wortlos standen wir davor und starrten die beiden Burschen an, die mindestens 800 Kilometer derart waghalsig zurückgelegt hatten, während einer der Älteren uns berichtete, der Beifahrer habe während der Fahrt den Motor reparieren müssen, damit das Gefährt überhaupt ans Ziel gekommen sei. Man wird mir zugestehen müssen, daß dergleichen Begegnungen den Hang zum Abenteuer in uns soweit förderten, daß wir jungen Bürschlein, froh überhaupt lesen zu können, bereits zu Karl Mays griffen, die unter den älteren Jahrgängen der Schuljugend hoch im Kurse standen, sofern nicht das blanke Erleben uns noch mehr in seinen Bann schlug.
Soldatenspiele lagen uns eigentlich nicht; denn Soldaten sahen wir nie, höchstens dann und wann im Kino, in das wir ganz, ganz selten hineindurften. Es war das uns allen bekannte Kino an der Hauptstraße, zwischen dem Möbelhaus Menne und dem Schuhgeschäft Rollmann, Da gab es sonntagnachmittags so ab drei Uhr Kindervorstellungen, zu denen der Eintritt einen Groschen kostete. Schweren Herzens ließ sich der Vater sein Zugeständnis zum Filmbesuch entlocken, indes es von der Mutter nie gegeben wurde. „Prinz Louis Ferdinand“ hieß einmal ein Film, den wir mit heißen Köpfen bewunderten. Es muß wohl viel von Liebe darin gehandelt worden sein, was wir jedoch nicht begriffen, aber am anderen Tage holte uns Herr Weyer während der Pause einen nach dem anderen der Beuler Kinobesucher unauffällig zu sich: „Warst du nicht gestern nachmittag im Kino?“ „Ja“, war die Antwort. „So, wie hieß denn der Film?“, ging das Verhör weiter. „Prinz Louis Ferdinand“, (wir sagten ja Luis statt Lui) lautete die Antwort. „Hat der Vater dir das erlaubt“? Oh ja“, war meine strahlende Antwort, der ich froh war, in diesem Falle ohne Not die Wahrheit sagen zu können. „Das wundert mich aber sehr“, meinte Herr Weyer nur, dann war ich entlassen. Den anderen mochte es ähnlich ergangen sein; aber auch in diesem Falle, wie so oft, half die Wahrheit nicht weiter, denn nur wenige Tage später erschien eines Abends plötzlich Herr Weyer bei uns zu Besuch, unter dem Vorwande, mit dem Vater etwas vom Eifel-Verein besprechen zu müssen, in Wirklichkeit aber eher zu dem“ Zwecke, den Vater davon zu überzeugen, derlei Besuche des Kinos seien sicher noch zu früh. Ein solches Zugeständnis erschien dem Vater wahrlich schwer, denn Theater, Kino, Literatur gehörten für ihn grundsätzlich zu den Mächten der Kultur, des höheren Lebens der Kunst. Seitdem hat er aber nie mehr in einem Kinobesuch eingewilligt, dem er ohne Kenntnis des Filmes zugestimmt hatte.
Aber so ganz ohne Poesie, oder wie man es nennen will, ohne höheren Flug verlief unser Dasein nicht. Frühling und Maiglöckchen, diese beiden Elemente, gehörten auch für uns untrennbar zusammen. Ich erinnere mich noch gut, wie Diederichs-Heini eines Nachmittags mit einem dicken Strauß nach Hause „jeschürcht“ kam, er konnte nämlich für unsere Begriffe sehr schnell laufen, und uns voller Stolz erzählte, die habe er allein im „Schweazelt“ gefunden. Der innere Höhepunkt der Frühjahrserlebnisse war aber vielleicht der, daß Vater eines Tages seinen Söhnen mitteilte, heute gehe es ins „Baachemer Wisse-Taal“ und die Freunde dürfen mit. Die Freunde des Bruders, das waren damals Brauns-Alfred, der dicke Menne und auch Freund Kei-bel, der als Auswärtiger zum Ahrweiler Gymnasium kam und in Beul wohnte, ein humorvoller Mensch, der in seinen jungen Jahren schon viel von der Welt gesehen hatte. So marschierten wir da durch das Amseltal, über den Karlskopf in das Bachemer Tal hinein, das von jeglichem menschlichen. Eingriff unberührt wie das Paradies in der Frühlingssonne dalag. Hier gab es Veilchen, Schlüsselblumen, und auch Maiglöckchen, Wiesenschaumkraut und Knabenkraut — also den Kern der heimischen Frühlingsflora.
Es berührte dies alles uns nicht so, wie man als Erwachsener in die Erinnerung rückgreifend dies wahrhaben möchte, aber es berührte uns doch. Zumindest lernten wir die Augen aufhalten, Kräfte entdecken, auf die man immer wieder bauen kann. Unmerklich wuchs uns dabei dieser kleine Ausschnitt der Welt, in den wir mit der Jahreszeit hineinschritten, ans Herz, ans Gemüt. Und wir erlebten immer etwas. Einmal war so ein kleines Trüppchen junger Burschen mit uns hinausgewandert zum Steckenberg und, um unterwegs das Rudel junger Hunde zusammenzuhalten, erfand der Vater Greuelgeschichten.
Bengener Heide mit Bück auf Ahrweiler
Foto: Kreisbildstelle
Sie -waren sehr, sehr spannend und konnten, wenn der Weg weit war, wie ein schlechter Illustriertenroman nach Belieben verlängert werden. Nun gut, am Steckenberg angekommen, suchten wir uns eine passende Stelle aus, öffneten die Schnappsäcke und begannen die Mahlzeit, die derb, kräftig und stilgemäß sein mußte. Der Vater berichtete dem staunenden Völkchen, just an dieser Stelle habe er vor langen, langen Jahren mit Wanderfreunden gesessen und dabei einen schönen Büchsenöffner verloren. „Das war ein Büchsenöffner, der hätte ewig halten können, Vorkriegs wäre“. Nun war beim Vater so manches für die Ewigkeit bestimmt, z. B. Hüte und Mäntel, derbe Schuhe oder Anzüge aus englischem Stoff, Füllfederhalter oder lederne Bucheinbände, und wir Söhne des Hauses konnten eine boshafte Bemerkung nicht unterdrücken. Aber während wir niedersaßen, in dieser kleinen Runde aßen und spotteten, hatte einer der Freunde hier und dort mit dem Stock die Erde aufgewühlt, Steine weggeräumt und Wurzeln hochgezogen. Und plötzlich ein Laut des Erstaunens: „Wat es dat denn?“ Es war der Büchsenöffner, den wir eigentlich iii das Reich väterlicher Fabulierkunst verwiesen hatten. Über nichts hätten wir so erstaunt sein können, wie über dies plötzliche Auftauchen des schon zu archäologischen Ehren gekommenen Gegenstandes. Ein andermal waren wir weit durch die Ahreifel zum Wibbelsberg gelaufen, wo wir abkochen wollten. Einen richtigen Spirituskocher hatte der Vater, ein tolles, vorzeitliches Ding, das aber meist den Dienst zur Zufriedenheit versah. Doch diesmal hatte ihm Herr Krämer von der Drogerie Hartspiritus mitgegeben, etwas ganz Neues damals, für zünftige Eifelwanderer das einzig Richtige. Ja, und da hockten wir unter den vielen Wacholdern und sahen mit stillem Grinsen zu, wie der Vater stellte, schraubte und versuchte, aber der Spiritus nicht brennen wollte. Als die Mittagszeit längst vorbei war, gab er es auf, und der Bruder mußte nach Staffel, um dort im einzigen Geschäft des Dörfchens flüssigen Spiritus zu kaufen.
Eigentlich war damals Neuenahr in einer Welle des Glaubens an die bessere Zukunft. Eine fröhliche Zuversicht beherrschte alle, selbst, wenn es nicht überall und immer zum Ausdruck kam. Alle griffen und verlangten nach guten Bühnenstücken; man begann wieder zu lesen, Expressionisten wie Reniarque und Kaiser, Werfel und Zweig. Das Wandern wurde Trumpf, der Sport eroberte sich das Publikum. Sonntagnachmittags zum Sportplatz an der Landgrafenbrücke zum Spiel des SC 07 zu kommen, war für viele Neuenahrer einfach nationale Pflicht, Die junge Damenwelt begann Tennis zu spielen und Herr Euskirchen, so hieß der Tennislehrer, wenn ich mich recht entsinne, hatte seine liebe Not, mit diesem Tatendrang. Professor Wagner propagierte seine Nistkästenaktion in der Bengener Heide, und heimische Maler, wie unser Herr Steinborn und Kreuzberg, fanden ihre verdienten Liebhaber und Verehrer.
Bei der Mündung der Ahr in Sin zig wirkte als Pfarrer der schriftgewaltige Johannes Mumbauer, der wie ein Wächter der Unbestechlichkeit den Zugang zu der lieblichen goldenen Meile kontrollierte und eigentlich nur solche geistig Schaffende darin duldete, welche diesen Frühling erkannten. Heinrich Lersch in Bodendorf, Ernst Thrasolt in Heimersheim, Johannes Kirschweng in Neuenahr, der Komponist und Organist Johannes Müller in Ahrweiler, dort auch Karl-Ernst Plachner, ach, es ließen sich viele Namen derer nennen, die als heimische Künstler bekannt geworden sind, vielleicht nicht die ersten an den Höhen des Parnasses, aber dennoch getragen von einer Begeisterung, die ohne Zweifel echt und ehrlich war. An dieser Stelle muß auch des Fräuleins Pliester gedacht werden, der Tochter des ehemaligen protestantischen Pfarrers in der Badestadt, die, obgleich schwerhörig, allen Neuenahrern bekannt war, wie sie mit ihrer Schwerhörigenbinde am schwarzen Mantelarm, still und jederzeit zu einem Lächeln bereit, durch den Ort huschte. Ihre Federzeichnungen und Aquarelle gehören zu den schönsten Ortsbildern, die es vom älteren Neuenahr gibt.
Daß daneben die „jeunesse dorée“, mit Herrn Wanzen an der Spitze, auch in Neuenahr zu finden war, vervollständigt das Bild eines aufblühenden Ortes, der selbst schon in der Lage ist, Künstler hervorzubringen. Sogar in das Gymnasium zu Ahrweiler schien der Kunst- und Menschheitsfrühling einzuziehen, was wir kleineren Geschwister auf einer Ausstellung derjenigen Zeichnungen erkennen konnten, die unter Herrn Pulverniachers Aufsicht entstanden waren. Ein Viaduktmotiv der verlassenen Ahrtalbahn hatte hier einen Expressionismus gefördert, der von sachverständigen Vätern mit einer gewichtigen Miene quittiert „wurde.
Viadukt In der Adenbach
Foto: Kreisbildstelle
Und dennoch ragten in diese Idylle moderner Prägung, Reste einer alten Zeit herein, die ebenfalls, und besonders von uns Kindern, anerkannt wurden. So zogen wir vom aufgeklärten Neuenahr alljährlich bei beginnendem Frühjahr, in der Fastenzeit, wenn ich nicht irre, nach Heppingen, um dort im Strome der vielen Wallfahrer zur Kapelle an der Landskrone hinaufzupilgern. Allerdings waren uns weniger fromme Regungen eine Triebfeder als vielmehr die Aussicht auf Fastenbrezel, die dort von den Brezelmöhnen feilgeboten wurden.
Dabei überfällt mich als eine ganz frühe Erinnerung der erste Eindruck einer großen Versteigerung in der Burg zu Bodendorf, die ich als ganz kleines Kerlchen an der Hand des Vaters erleben durfte, der dort nicht steigerte, denn das hätte das schmale Portemonnaie nicht zugelassen, sondern als Verehrer alter Möbel und Bilder wehmütig von diesen in alle Winde hinauswehenden Stücken Abschied nahm. Jahre später, als ich erfuhr, diese Burg sei einst Besitztum des berühmten Freiherrn vom Stein gewesen, überlief mich ein Schauer, denn es war, als habe ich dort den Zipfel einer vergangenen Zeit fast in Händen gehabt, die gerade symbolisch mit diesem Vorgang der Versteigerung zu Ende ging.
Aber mit der steigenden Sonne kamen die Bärenführer der Zigeunergruppen in den Ort, die auf Dahrs-Ecke an der Mittelstraße mit dem blechernen Klang des Tamburins ihre Tiere rund tanzen ließen, um hinterher den uns Kindern von den Eltern zugesteckten Groschen auf einem Emailleteller zu kassieren. Es kamen auch die Lumpensammler, die alte Kleidung mit der Handwaage abwogen und unbestechlich erst nacli einem erheblichen Quantum das begehrte Drehfähnchen als Belohnung vom Wagenbock herabreichten.
Und dann stand eines Abends Herr Nelles, der über uns wohnte und stets in seine Erfindungen und Entdeckungen vertieft war, leicht verlegen an der Wohnungstür und sagte: „Entschuldigen Sie, Herr Nachbar, aber ich habe Ihnen eine Radioleitung hergelegt, vielleicht macht Ihnen so etwas Freude.“ Mit diesen Worten zog er hinter seinem Rücken eine große Kopfhörermuschel hervor, stellte sie auf ein Schränkchen, bastelte eine riesige, verstärkende Lautsprechertüte hinein, lief leichtfüßig in sein Zimmer und rief dann von oben: „Hören Sie’s jetzt?“ Ganz leise, aus Weltenferne drangen krächzende Töne an unsere aufmerksam über die Tüte gebeugten Ohren, ganz zweifellos war es Musik — wir standen sprachlos da. Der Vater lächelte verlegen und die Mutter trocknete vor Aufregung dauernd die Hände an der Schürze ab. Der erste Radioton, der zu unseren Ohren kam, ein vorerst leises, aber unüberhörbares Signal der neuen Zeit.