Ein Stück Bad Neuenahrer Geschichte: Das ehemalige Walburgisstift

Hans Wernecke

Das Walburgis-Stift um 1900

Wer heute über die Bad Neuenahrer Kurgartenbrücke auf die Ev. Martin-Luther-Kirche zugeht und vor ihrem Portal stehenbleibt, sieht nicht nur das schöne Lutherrelief, sondern rechts vom Eingang eine Bronzetafel, auf der ebenfalls im Reliefstil ein ernster bärtiger Mann den Betrachter anschaut. Unter diesem Relief lesen wir: »Dem Erbauer dieser Kirche und Gründer des Walburgisstiftes Gustav Adolf Pliester, Pfarrer in Neuenahr 1869-1907, gewidmet von der evangelischen Gemeinde und dem Walburgisstifte.«

Wenn also bis heute das Walburgisstift an dieser Stelle erwähnt wird, so soll mit diesen Zeilen Antwort darauf gegeben werden, warum es gegründet wurde und welche Geschichte dieses Haus für den Ort und die evangelische Kirchengemeinde gehabt hat.

Wer heute als Kurgast die Stadt besucht, wird im Verzeichnis der angebotenen Hotels, Sanatorien und Kliniken den Namen »Walburgisstift« vergeblich suchen. Auf dem Stadtplan wird ihm zwar eine Walburgisstraße begegnen, die in einem Neubaugebiet gegenüber vom Are-Gymnasium angelegt ist. Sollte er sich bei der Kurverwaltung nach dem Walburgisstift erkundigen, so wird ihm die Antwort zuteil werden, daß es ein Haus gleichen Namens im Kurort nicht mehr gibt. Sollte er jedoch darauf verweisen, daß seine Tochter noch Anfang der 70er Jahre als Schülerin des Are-Gymnasiums im Walburgisstift gewohnt habe, und er deshalb wenigstens einmal das Haus sehen möchte, wo sie sich so wohl gefühlt habe, so bleibt auch diese direkte Aufforderung ohne Antwort. Denn in der Tat: Seit mehr als 10 Jahren steht dieses traditionsreiche Haus nicht mehr, kein Stein ist mehr von ihm zu finden. Dort, wo das Walburgisstift einmal zu finden war, ist heute ein gut gepflegter Park an der Mittelstraße.

Auch Kurorte haben ihre Geschichte. Das Walburgisstift ist ein Teil dieser Geschichte von Bad Neuenahr. Glücklicherweise sind wir im Besitz einiger Dokumente aus dem vorigen Jahrhundert, aus denen deutlich abzulesen ist, was den Anlaß zur Gründung des Walburgisstiftes gegeben hat. Pastor Pliester selbst hat dazu folgendes geschrieben;

»Unter den Tausenden, welche alljährlich an den Heilquellen Neuenahrs Genesung und Stärkung suchen, befand sich eine nicht unbeträchtliche Zahl solcher Kranken und Schwachen, welche der sorgsamsten Pflege bedurften, wie sie die Hauswirte bei aller Treue nicht zu geben vermochten. Weil es an einer Pflegeanstalt und an geeigneten Pflegekräften fehlte, sahen sich die Badeärzte vielfach genötigt, schwerer Kranke, auch solche, denen bei guter Pflege die Kur und der Aufenthalt hier hätte heilbringend werden können, in die Heimat zurückzusenden, und gar oft wurde der Wunsch laut, hier eine Abhilfe zu schaffen. Da sich Gelegenheit bot, ein kleineres, für die bescheidenste Lösung jener Frage geeignetes Haus zu erwerben, und es aussichtslos war, hier am Orte das Interesse für die Errichtung einer solchen Anstalt wachzurufen und Unterstützung für dieselbe zu gewinnen, wandte ich mich im Herbst des Jahre 1879 an den Provinzialausschuß für Innere Mission und teilte dem Vorsitzenden desselben meine Gedanken über die Notwendigkeit der Errichtung eines solchen Hauses mit.«

Pastor Pliester ist es mit sehr großem Verhandlungsgeschick gelungen, dieses Gremium für seine Sache zu gewinnen. Bereits im Jahre 1880 wurde ein Aufruf erlassen, in welchem die Notwendigkeit der Errichtung eines Kur- und Pflegehauses auf Grundlage christlicher Hausordnung nachgewiesen und um Unterstütztung des Unternehmens gebeten wurde. In diesem Aufruf heißt es: »Es ist uns gelungen, in nächster Nähe des Kurhauses und der Kuranlagen ein für den gedachten Zweck trefflich geeignetes, geräumiges, völlig freiliegendes Haus mit ca. 40 Zimmern, großem Speisesaal, schattigem Garten und Anlagen und schönster Aussicht nach allen Seiten zu erwerben, und soll die innere Einrichtung desselben, welche allen, nicht übermäßigen Anforderungen entsprechen wird, bis zum Beginn der Badezeit fertiggestellt werden.

Zwei gebildete, in der Krankenpflege wohlerfahrene Damen, welchen nach Bedarf in Kaiserswerth ausgebildete Pflegerinnen zur Seite stehen, werden die Verwaltung des Hauses besorgen. Die Pensionspreise (eine 1. und 2. Klasse wird eingerichtet) sollen mäßige sein. Jeder Überschuß wird zur Erleichterung der Kur für Unbemittelte verwandt werden. Walburgsstift soll unser Haus heißen zur Erinnerung an die letzte Gräfin aus dem Hause Neuenahr, Walburgis, die Witwe des Admirals Grafen von Hoorn und hernach des heldenmütigen Grafen Adolf von Neuenahr, die fromme, vielgeprüfte Dulderin, die Wohltäterin und Trösterin der Armen und Kranken. Ihre Losung aus dem Römerbrief, dem 12. Kapitel im 12. Vers lautete: »Seid geduldig in Trübsal, haltet an am Gebet!« Dies sei die Losung des Walburgsstiftes, welches jedem in Liebe dienen will, der der pflegenden Liebe bedarf.«

Dieser Aufruf hatte Erfolg. Spenden flossen, und die fehlenden Mittel wurden bei einer Bank aufgenommen. Im Jahre 1880 wurde das Walburgsstift eröffnet. Es zeigte sich, daß für ein solches Angebot ein Bedarf vorhanden war. Das Walburgisstift war sofort belegt. Die in der Satzung festgelegte christliche Hausführung wurde so in die Tat umgesetzt, daß während der Kurzeit täglich in der Martin-Luther-Kirche Morgenandachten stattfanden und abends Pastor Pliester eine Andacht im Walburgsstift den dort weilenden Gästen anbot. Bereits 1885 war der Zudrang zum Hause so stark, daß ein erster Anbau nötig wurde. Ein Jahr später mußte dann die Küche erweitert werden, um allen Wünschen gerecht werden zu können. Die Tochter von Pastor Pliester, Frau Anna Pliester, hat im Jahre 1917 aus ihrer eigenen Erinnerung über das Walburgisstift geschrieben. Sie formulierte: »Im Lauf der Zeit kaufte der Vorstand des Stiftes manche Parzelle der umliegenden Felder an, teils, um Gartenland zu gewinnen, um zu verhindern, daß fremde Bauten dicht am Stift entstanden, die den Wert dieses Anwesens unter Umständen sehr fühlbar hätten beeinträchtigen können. So entstanden allmählich rings um das Haus große, prächtige Gärten, auch Gemüsegärten, die es ermöglichen, einen Teil des Bedarfs an Gemüse und Früchten selbst zu decken.

Ebenso konnten in angemessener Entfernung vom Haupthause vierbeinige Gäste, nämlich einige Schweine zum Mästen, untergebracht werden, und dazu ein kleiner Geflügelhof Platz finden. Um das Jahr 1910 herum erwirbt das Walburgisstift das Gästehaus »Zur Stadt Köln« hinzu, nachdem der Besitzer verstorben war.« Anna Pliester schreibt weiter: »Von dem Aufschwung, den das Walburgisstift genommen, mögen folgende Zahlen ein Bild geben: Im Sommer 1880 beherbergte das Haus 183 Gäste, im Sommer 1913 1. 200 Gäste.«

Wie sehr auch dieses christliche Haus vom Klassensystem des ausgehenden 19. Jahrhunderts geprägt war, zeigt die nachfolgende Bemerkung. »Das 2-Klassen-System ist beibehalten worden, da es sich durchaus bewährt hat. Nach wie vor läßt das Stift es sich angelegen sein, bedürftigen Kranken Erleichterung zu verschaffen. Eine ganze Reihe von Jahren machten auch verschiedene Landesversicherungsanstalten Gebrauch von dieser Vergünstigung und sandten eine große Anzahl Kassenmitglieder. Da aber durch diese häufig Mißhelligkeiten entstanden – die Versicherungsanstalten schickten wahllos ihre Kranken und Erholungsbedürftigen, von denen viele durchaus nicht ins Stift paßten – so wurde die Verbindung mit diesen Anstalten wieder abgebrochen, zumal die Kassenmitglieder leicht Unterkunft fanden in eigens ihren Bedürfnissen angepaßten Häusern. Durch Wegfall dieser Leute konnte fortan um so mehr einzelnen Mittellosen geholfen werden. Um die verschiedenen Vergünstigungen und Ermäßigungen zu erlangen, ist es erforderlich, daß die Gesuchsteller ein Mittellosigkeitsattest ihrer Heimatbehörde beibringen, was ihnen neben den großen Erleichterungen, die das Stift gewährt, Eisenbahnfahrt zu halbem Preise und Ermäßigung der Kurtaxe und Bäder verschafft. Häufig aber hilft das Stift auch im Stillen, ohne behördliche Ausweise.« Als Pastor Pliester im Jahre 1907 in den Ruhestand tritt, kommt es im Walburgisstift zur Einstellung eines Hausgeistlichen, »dem die seelsorgerliche Pflege der Gäste anvertraut ist, während er gleichzeitig seiner Kur leben kann.«

Der Vorstand des Walburgisstiftes achtete in den nachfolgenden Jahren streng darauf, daß im Sinne seiner Satzung das Haus weitergeführt würde, d. h. »einerseits Kranken und Schwachen, welche sorgsamste Pflege bedürfen, ein Kur- und Pflegehaus anzubieten, andererseits gegen mäßigen Pensionspreis seine Räume solchen Kurgästen zu öffnen, welche in einem vom christlichem Geist getragenen Hauswesen die Gewähr eines ruhigen, den Gebrauch der Kur in jeder Weise fördernden Aufenthaltes erkennen, endlich auch nach Kräften weniger Bemittelten, insbesondere evangelischen Kranken den Gebrauch der Kur zu erleichtern.« Die Ereignisse des 1. Weltkrieges gingen auch am Walburgisstift nicht spurlos vorüber. Es wurde zum Lazarett umfunktioniert. Zum gleichen Zweck wurde dann das Haus im 2. Weltkrieg benutzt.

Mit den zahlreichen Investitionen im Kurort Bad Neuenahr nach der Währungsreform und der Neugestaltung der Krankenversicherung erlebte das Walburgisstift zum erstenmal, daß sein Angebot nicht mehr als zeitgemäß angesehen werden konnte. Der Vorstand faßte deswegen den Beschluß, die Satzung um folgenden Passus zu ergänzen: »Das Walburgisstift betätigt sich auch auf anderen Gebieten evangelischer Liebestätigkeit, insbesondere durch die Unterhaltung eines evangelischen Mädcheninternates.« Damit war ein Weg eröffnet, den bei der Gründung niemand für möglich gehalten hätte, nämlich dem nach dem Kriege eröffneten Are-Gymnasium eine wichtige Hilfestellung zu gewähren. In dieser Schule wurden zu Beginn der 50er Jahre in der Form eines Aufbaugymnasiums Jungen und Mädchen zum Abitur geführt, auch solche, die damals aus der sowjetisch besetzten Zone mit ihren Eltern in den Westen geflüchtet waren. Mehr als 20 Jahre hat das Walburgisstift ein Angebot für 110 Schülerinnen bereithalten können.

Aber nicht nur für den Kurort gab und gibt es Veränderungen, sondern für die schulische Landschaft auch. So veränderte im Laufe der Jahre auch das Are-Gymnasium seine Struktur. Es wurde zum Vollzeitgymnasium ausgebaut und immer mehr zu einem Angebot für Schüler aus der Stadt und der näheren Umgebung. Von daher erübrigten sich das Jungen- und Mädcheninternat in der Stadt. Im Jahre 1975 wurde die letzte Runde für das Walburgisstift eingeläutet. In einem weit verbreiteten Aufruf der Rheinischen Gesellschaft für Innere Mission und Hilfswerk heißt es: »Daher besteht für das neue Schuljahr die Möglichkeit, das Walburgisstift mit Besuchern aller übrigen Schulen in Bad Neuenahr zu belegen, und zwar für Mädchen und gegebenenfalls auch für Jungen ab 10 Jahren.« Dieser Aufruf hatte fast keine Resonanz. Deshalb wurde im gleichen Jahr das Walburgisstift für immer geschlossen und nach einem geeigneten Käufer Ausschau gehalten. Der war bald gefunden. Die Kur-AG erwarb das gesamte Grundstück nebst dem aufstehenden Gebäude. Ein Jahr nach dem Erwerb wurde das Haus gesprengt, dem Erdboden gleichgemacht. Da, wo das Walburgisstift 95 Jahre gestanden hatte, ist jetzt eine Rasenfläche. Möge aber das Andenken an dieses Haus in der Bevölkerung lebendig bleiben.

Quelle: Archiv des Diakonischen Werkes der Ev. Kirche im Rheinland, Lenaustr. 41, 4000 Düsseldorf

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