Ein eigentümlicher Gerichtsbrauch in Remagen
Ein eigentümlicher Gerichtsbrauch in Remagen
VON DR. PAUL KRAHFORST
Im Stadtarchiv Remagen befindet sich eine in lateinischer Sprache abgefaßte Urkunde aus Pergament vom 18. September 1289. Graf Adolf von Berg stellte als damaliger Landesherr diese Urkunde, die mit zwei Siegeln versehen war, den Bürgern seiner Stadt Remagen aus. Der wesentliche Inhalt besagt, daß vor dem Gericht in Remagen bislang die unvernünftige und ungerechte Gewohnheit angewandt wurde, wonach bei einer Gewalttat der Kläger zu Beginn des Prozesses dem Beklagten die Worte zurufen mußte: „Kragt inde Gewalt“. Entgegnete daraufhin der Beklagte nicht sofort mit den Worten: „Kragt inde Gewalt bin ig unschuldig“, so verfiel er in eine Strafe von fünf Mark. Graf Adolf änderte diese Gewohnheit dahin ab, daß der Beklagte mit einer erheblich geringeren Strafe belegt wurde, wenn er es unterließ, sogleich mit den Worten zu antworten: „Kragt inde Gewalt bin ig unschuldig“. Die geringere Strafe wurde „gemude“ genannt und betrug ein Sester „Wein (= 9,5 l, die einen Wert von 1 Mark hatten).
Wie ist das beschriebene Verfahren vor Gericht zu verstehen? Welches ist der Sinn der zunächst in Remagen vor Gericht geübten Gewohnheit, und welche Bedeutung hat die durch Graf Adolf vorgenommene Änderung? Ein Vergleich mit der heutigen Gerichtspraxis ist nicht geeignet, diese Fragen zu klären. Es ist vielmehr erforderlich, einen kurzen Rückblick auf die vorherige Entwicklung des Gerichtsverfahrens in unserem Heimatgebiet zu werfen.
Wie in den übrigen Orten des Ahrgaues war auch in Remagen die damalige Rechtsordnung weitgehend durch das aus fränkischer Zeit überkommene Gewohnheitsrecht geprägt. Starken Einfluß übte auch das einzige im hiesigen Raum bestehende Gesetz aus, die Lex Ribuaria. Das Recht der Franken stellte seinerseits eine Fortentwicklung des germanischen Rechts dar. Das Recht der Germanen war Gewohnheitsrecht kraft mündlicher Überlieferung. In fränkischer Zeit fand dagegen — beeinflußt durch die Berührung mit den Römern, die bereits 459 vor Christus mit dem Zwölftafelgesetz ihr erstes umfassendes Gesetzgebungswerk geschaffen hatten — der Übergang zur schriftlichen Aufzeichnung des Rechts statt.
Kragt inde Gewalt bin ig unschuldig
So kam es zur Entstehung der sogenannten Volksrechte, wie der Lex Salica, der Lcx Bajuvariorum und der Lex Saxonum. In diesen ersten Gesetzeswerken der germanischen Stämme wurde das geltende Recht nicht in erschöpfender Weise dargestellt. Es wurden einzelne Rechtssätze zur Aufzeichnung gebracht, in denen überliefertes Recht festgehalten wird. Die Lex Ribuaria war das Volksrecht der ribuarischen Franken. Die Franken, die sich aus den salischen und den ribuarischen Frankenstämmen zusammensetzten, waren zur Zeit der Völkerwanderung aus dem westfälischen Raum zum Rhein vorgestoßen. Während die salischen Franken sich des niederrheinischen Raumes, des nördlichen Hollands und des südlichen Belgiens bemächtigten, ließen sich die Ribuarier im Bereich des Mittelrheins nieder. Um 460 eroberten die ribuarischen Franken Köln, das sie zur Hauptstadt des Königreiches Ripuarien erwählten. Sigibert war ihr erster König mit Regierungssitz in Köln.
Die Lex Ribuaria ist jahrhundertelang das einzige Gesetzeswerk gewesen, das bei der Rechtsprechung der Gerichte des Ahrgaues zur Anwendung gelangte. Die Rechtssätze befaßten sich überwiegend mit strafrechtlichen und prozessualen Fragen. Für unsere anfangs behandelte Remagener Urkunde vom 18. 9. 1289 ist die Regelung in Titel 67, 5 der Lex Ribuaria von aufhellender Bedeutung, wonach die Erklärungen im Rechtsstreit „cum verborum contemplatione“ abgegeben werden mußten. Hier finden wir den Hinweis auf die besondere Formenstrenge, der das Gerichtsverfahren unterlag. Wurden die Verfahrensformen nicht streng eingehalten, so ergab sich die Gefahr des Prozeßverlustes. Die Formenstrenge wurde selbst als „Gefahr“ bezeichnet. Vom Beklagten wurde vor Gericht verlangt, daß er den vollen Wortlaut der Klage bis aufs Wort zugab oder bestritt. Wurden besondere formelhafte Stichworte verwendet, so mußten diese in der Antwort genau wiederkehren. Dabei wurde Übereinstimmung in den Worten bis auf die Silben herab verlangt. Um dem strengen Formalismus zu genügen, mußte der Beklagte so antworten, wie der Kläger gesprochen. Das vor Gericht gesprochene Wort war verbindlich. Ein Mann ein Wort! Trat eine Abweichung in den Worten auf, so trug der Abweichende die Gefahr. Er ging seines Rechtsverlustig, ohne daß es zur Prüfung in der Sache kam. Es trat Sachfälligkeit ein. Diese für unsere heutigen Begriffe kaum vorstellbare Formstrenge im Strafverfahren ist es, die mit der Urkunde vom 18. 9. 1289 in Remagen eine Abänderung erfährt. Bis zum Jahre 1289 konnte der wegen einer Gewalttat vor Gericht Geladene, wenn er auf die Worte des Klägers „Kragt inde Gewalt“ (d. h. Kraft und Gewalt) nicht rief „Kragt inde Gewalt bin ig unschuldig“, sofort zu der damals hohen Strafe von fünf Mark verurteilt werden, ohne daß es einer Aufklärung und Prüfung in der Angelegenheit selbst bedurfte. Nur wenn der Beklagte sofort die Tat mit der genannten Formel Wort für Wort abstritt, kam es zur Ermittlung des Sachverhaltes durch ein Beweisverfahren mit Hilfe von Zeugen oder Gottesurteilen (Ordalien) und je nach Ausgang des Beweisverfahrens zur Verurteilung des Beklagten zur Strafe von fünf Mark. Die Bedeutung der Verfahrensänderung liegt also darin, daß die bisherige Formstrenge des Verfahrens zu Gunsten einer gerechten Sachentscheidung durchbrochen wird. Es trat keine Sachfälligkeit, also keine sofortige Verurteilung im Sinne der Beschuldigung, ein, wenn der Beklagte nicht oder nicht richtig mit der Formel „Kragt inde Gewalt bin ig unschuldig“ antwortete. Ein solcher Formverstoß in der Antwort hinderte nun nicht mehr die Aufklärung des Tatgeschehens durch ein Beweis verfahren, er löste lediglich zu Lasten des Beklagten eine geringe Bußstrafe von etwa einem Schoppen Wein aus. Der Beklagte wurde in diesem Falle wegen Mißachtung der Form zur Strafe von einem Sester Wein verurteilt, das Verfahren selbst wurde jedoch fortgesetzt. Damit zeigt uns die Urkunde deutlich, daß der vom Gerichtsherrn und von den Bürgern als allzu streng und unbillig empfundene Formzwang des Prozesses in eine solche Verfahrensart abgeändert wurde, die es dem Gericht ermöglichte, in jedem Falle eine gerechte Entscheidung in der Sache selbst zu erstreben. Wie der bekannte Erforscher der deutschen Rechtsgeschichte Ulrich Stutz (ZRG 19,17, 367) zürn Ausdruck brachte, wird durch diese Remagener Urkunde die Milderung der Formstrenge im Strafverfahren in ein helles Licht gesetzt