Drei Geschichten mit und um „Hochwürden“

Friedhelm Schnitker

Hochwürden und Krümelchen

Einmal im Monat lud Hochwürden seine älteren Meßdiener zu Kaffee und Kuchen ein. So saßen wir an diesem wunderschönen Sommernachmittag auf der Terrasse hinter dem mächtigen Bruchsteinhaus, unter dem weiten Blätterdach des uralten Kastanienbaumes. Hochwürden verstand es, interessant und spannend aus der Zeit seiner Studienjahre zu erzählen, die ihn weit in Europas Landen herumgeführt hatten. Über diese »Verzellche« vergaß er aber nie, uns auch die Texte der Bibel vorzustellen und zu erschließen. »Et Klärche«, seine Haushälterin, hatte herrlich duftenden Kaffee und frischen Streuselkuchen aufgetragen. Der mächtige, zottelige Hektor lag vor sich hindösend unter dem Tisch und Hochwürden schaute zum Himmel empor, der sich wolkenlos über uns wölbte.

Auch des Pastors liebste Gäste, Krümelchen und Frau, Bruder, Schwager, mit dem Rest der großen Familie waren bereits versammelt. Wobei Hochwürden vorgab, sie alle genau zu kennen. Krümelchen, den dicken, auf den Deckfedern dunkel gefiederten, aufgeplusterten Spatz als Familienoberhaupt; dann seine schlanke, heller im Gefieder gezeichnete Frau; seinen fast schwarzköpfigen Bruder, und und und.

Und noch immer ließ Hochwürden uns Biblisches kosten; den Streuselkuchen aber, wie er uns hungrige Meßdiener anlächelte, jeder Streusel schien eine Sonne, ein Feuer der Verlockung. Aus unserem »Streukooche«-Traum riß uns Hochwürdens Stimme: »Seht doch, wie es bei den Vögeln ist. Sie säen nichts und ernten nichts und speichern nichts, aber euer Vater im Himmel sorgt für ihre Nahrung.« Hochwürdens laute, preisende Worte hatte Krümelchen wohl als endliche Aufforderung zum Mahl verstanden. Aus dem nahen Haselnußstrauch startete er einen verwegenen Sturzflug Richtung Streuselkuchen, Hochwürden zuckte vor dem heranjagenden Vogelknäuel zurück, der Tisch geriet ins Wanken, die dickbauchige Kaffeekanne tanzte gekonnt eine verzückte Runde, und Krümelchen? Er machte seinem Namen alle Ehre, hatte er doch ein Stück braunen Streusels zielsicher mit dem Schnabel erwischt und entführt. »Oose Pastue« schien wie vom Donner gerührt, doch dann donnerte seine Stimme; »Krümelche, dau Kleumattes, su hatt ech datt net jemähnt!« Den zotteligen Hektor traf ein strafender Blick wegen Nichtverhinderung eines Mundraubdeliktes, der ihn beleidigt ins Haus trotten ließ, wohl mit der kopfschüttelnden Feststellung, für Luftkämpfe nicht zuständig zu sein. Hochwürdens Wortgewalt beendet, die Schlacht um den »Streukooche« eröffnet – ein dreifach »stilles« Hoch auf Krümelchen sagte die dankbare Runde hungriger Meßdiener.

Hochwürden und des Küsters Fall

Von unserem Heimatort aus zog jedes Jahr eine Prozession als Fußwallfahrt zu einem zwei Nachbartäler entfernten Kirchlein mit einem weithin bekannten Mariengnadenbild.

Und seit langen Jahren war es guter Brauch, die abendliche Heimkehr der Pilgerschar durch Glockengeläute anzukündigen und die Wallfahrer zum feierlichen Schlußsegen in die heimatliche Pfarrkirche zu bitten. An der Gemarkungsgrenze angekommen läutete »de schwäe Glock«, am »Kapellche« stimmte »de zwäht« ein und an den ersten Häusern rundete »dat kläh Bimmelche« die Klangfülle ab.

Um diese Abfolge präzise zu gewährleisten, nutzte man einen hohen Lindenbaum als Signalposten, denn vom Pfarrkirchturm aus war auf direktem Weg wegen eines dazwischenliegenden Hügels die Gemarkungsgrenze mit dem Weg, den die Pilger seit altersher nahmen, nicht einzusehen.

Wir älteren Meßdiener hockten oben hoch im Kirchturm, ausgerüstet mit Hochwürdens Feldstecher. Im Lindenbaum hockte unser Küster, mit einer leuchtend gelben Fahne versehen, die er hin und her schwenken mußte, einmal für Gemarkungsgrenze, zweimal für »et Kapellche« und dreimal für die Dorfgrenze.

Wir hatten es uns gemütlich gemacht hoch oben im Turm, nur Kurt hielt Ausschau, aber auch unten in der Sakristei war noch alles ruhig. Hochwürden, der eigenhändig die mächtigen Türflügel des Kirchenportals den Wallfahrern aufzustemmen pflegte, hatte seines Amtes noch nicht gewaltet; die bisherigen Erfahrungswerte hinsichtlich der Rückkehrzeit ließen uns noch in Ruhe im Getürm umschauen, als plötzlich Kurts Ausruf uns aufschreckte: »Et hätt dreimohl jell jewunke. Loot kritschele!« Wir hingen uns in die Seile, die ersten Klöppel schlugen an, Glocke um Glocke stimmte in das gemeinsame Willkommenslied ein. Hochwürden ordnete seine Meßdienerschar, stemmte die Türflügel auf und – wartete, wartete. Wir läuteten und läuteten. Bis endlich, nach verdächtig langer Zeit, der Pilgerzug in unser altes Gotteshaus einzog. Laut und mächtig erklangen die alten, vertrauten Kirchenweisen, gewaltig tönte der Klang der Orgel. Nur einer fehlte, Hochwürden hatte es schon stirnrunzelnd bemerkt. Wo war unser Küster? Das Rauchfaß enthielt nur schwache Glut, der Ständer für die Pilgerkerze fehlte. Sollte sein sonst so treuer und verläßlicher Mitarbeiter doch statt einer äußeren Anwendung mit Franzbranntwein eine innere mit Hefe, Korn oder »Waachhecke« vorgenommen haben? Nach dem Schlußsegen rauschte »de Hehr« in Festgewändern schnellen Schrittes in die Sakristei. Und da saß ein Häufchen Elend auf sonst Hochwürden vorbehaltenem Stuhl.

Verschwitzt, das Gesicht gerötet, die Haare wild zerzaust, äußerte eine leise Stimme: »Nix jedronke, op en dühre Ass jetrodde, durchjekraach von owe bess onne, op de Wiss opkumme. Hehr, hann ech stuhsjebett!« Hochwürden zeigte sich wahrhaft erleichtert. Einen Anschein von Lächeln vermeinten wir bei ihm zu erkennen. Und dann ordnete er an: »Nächstes Jahr – Baum untersuchen, Äste feste testen und – Stoßgebete üben, für alle Fälle!«

Hochwürden und »Dee Jott«

Hochwürden liebte die Macht des Feuers und die Gewalt des Donners. So erlaubte er jedes Jahr den älteren Schulkindern, die kircheneigenen Waldstücke von Knüppel- und Altholz zu säubern und es zu Ehren des hl. Martin Licht der Flammen spenden zu lassen. Das Osterfeuer mußte alljährlich mächtig lodern und auch die Glut im Rauchfaß hatte der Küster tüchtig zu schüren. Und dann war da noch St. Georg, der Drachentöter, Patron der kleinen Dorfkapelle.

Unser Pastor war streng mit uns. Am Sonntagnachmittag war die Christenlehre strengste Pflicht, doch manchmal kam uns die Zeit der geistlichen Erbauung kürzer vor als sonst üblich. Hing dies etwa mit der Vorliebe des Pastors für die Sonntagsnachmittagsfußballpunktespiele der dörflichen 1. Mannschaft oder gar mit seiner Neigung zum Wilden Westen zusammen? So konnte es geschehen, daß Hochwürden nach der Christenlehre ein jubiliere des »Auf geht’s«! erschallen ließ und los ging die Jagd auf hartgummibereiften Rädern, Hochwürden voran, seine Meßdienermeute dahinter, ins nahe Städtchen ins Kino und schon tobte Tom Mix im Wilden Westen über die Leinwand.

Am Namensfest des hl. Georg nun, während der Wandlung bei der »Kirmesmess«, donnerten in sich ballendem Echo drei Böllerschüsse mit gewaltiger Ladung über unser Dorf. Hochwürden strahlte, St. Georg hatte Feuerhilfe bekommen im Kampf mit dem Drachen. Die vom Vorabendschoppen noch nicht recht aufgewachten männlichen Meßbesucher waren endlich hellwach und die »annere«? – sie sollten endlich »aus de Bette falle«.

Nach dem Festgottesdienst aber gab es gar seltsame Begegnung in der Sakristei. Der neue »Schandarm«, die Verkörperung polizeilicher Allmacht in unserem Dorf, stand dort und forschte: »Wer hat geböllert? Das ist Ruhestörung. Also?« Hochwürden stand da wie verzückt, die Augen nach oben gerichtet. Wir Meßdiener blickten gebannt, im Hintergrund leuchtete das verschwitzte Gesicht unseres Küsters, zeigte verschmitztes Lächeln. Rauchfaß und Pistole schienen seltsamen Zweikampf zu kämpfen, Qualm gab es jedenfalls schon genug.

Da erscholl Hochwürdens Stimme, laut, klar und mächtig: »Es war de Jott!«.

Der Gendarm wollte es wohl mit einer der drei Allmächten unseres Dorfes nicht verderben, glaubte eine hilfreiche Brücke der Verständigung angeboten und gab kurz und knapp Kommentar: »Also, für himmliche Ruhestörer sind wir nicht zuständig. Wünsche noch einen schönen Festverlauf!«. Tür auf, Gendarm raus, Tür zu, Augen groß, Mund auf. Hochwürden und die Unwahrheit? Er ließ uns zappeln, der Küster setzte an: »Awe, Herr Pastue, dat wor doch de Jüpp!«.

Hochwürden lächelte, schwieg, lächelte, dann räusperte er sich: »Das war Dee Jott – Dynamit-Joe, wobei das »Dee« uns nun nur ein wenig, ein kleinwenig anders zu klingen schien. Hochwürden hatte seine ganze Wildwesterfahrung mit Tom Mix, Tom Prox und Billy Jenkins ausgespielt und aus Jüpp, dem Sprengmeister im nahen Steinbruch und Schießmeister der Schützen, einen wildwesterfahrenen, kirchlichen Böllerschuß – und Pulverqualmnothelfer mit himmlischen Initialen gemacht.

Und nun flog das silberne Rauchfaß in den Händen von Hochwürden hin und her, Feuer und Qualm, Qualm und Feuer – Freudenfeuer, Feuerfreuden -. Hochwürden hatte Spaß an »Dee Jott« gefunden.

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