Dorferneuerung – Eine Zukunftschance für den ländlichen Raum
Kurt Weber
Von der durch den Europarat und seinen 21 Mitgliedsstaaten 1987/88 initiierten »Europäischen Kampagne für den ländlichen Raum« werden wichtige Entwicklungsimpulse für die ländlichen Gebiete in ganz Europa erwartet. Durch die Kampagne sollen die lange vernachlässigten Probleme des ländlichen Raumes einer breiten Öffentlicheit verdeutlicht und nähergebracht werden. Dieses plötzlich auch in der Bundesrepublik dem ländlichen Raum entgegengebrachte Interesse ist vor dem Hintergrund der in den letzten Jahren immer problematischer werdenden Situation in den ländlichen Gebieten zu sehen.
Die Ausgangslage
Nach den heutigen demographischen Rahmenbedingungen ist in den nächsten Jahrzehnten mit einem weiteren gravierenden Bevölkerungsrückgang zu rechnen. Am stärksten davon werden die peripheren ländlichen Gebiete betroffen sein, wo neben dem Geburtendefizit mit einer verstärkten Abwanderung vor allem jüngerer und qualifiziert ausgebildeter Bevölkerungsgruppen zu rechnen ist. Wegen fehlender Fühlungsvorteile des ländlichen Raumes sind nennenswerte Innovationsanstöße von außen, wie z. B. größere Ansiedlungen von Industrie, Gewerbe und Dienstleistungen, nicht oder nur in Einzelfällen zu erwarten. Das örtliche Entwicklungspotential ist also begrenzt. Aber auch in ihrem Erscheinungsbild haben sich die ländlichen Orte verändert. Etwa bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts waren auf dem Land weder einschneidende Veränderungen in der Gesellschaftsstruktur noch im baulichräumlichen Gefüge der Dörfer zu verzeichnen. Der in den letzten Jahrzehnten erfolgte soziale Wandel und die gestalterische Orientierung an städtischen Vorbildern haben insofern zu einem deutlichen Identitätsverlust in unseren Dörfern geführt, als das äußere Erscheinungsbild der Orte immer anonymer geworden ist.
In der Vergangenheit ist oft das Grün aus dem Straßenraum der Dörfer verschwunden.
Wie sieht es heute in unseren Dörfern aus?
An den Ortsrändern sind Neubaugebiete entstanden, während ortsbildprägende Bausubstanz in den Dorfkernen verkommt. Durch die in der Vergangenheit von einem vordergründigen Effizienzdenken geprägte Verkehrsplanung haben sich visuelle Belastungen des Ortsbildes, Lärmbelästigungen und Gefahren, insbesondere für alte Leute und Kinder, ergeben.
Mit dem Anwachsen des Verkehrs hat der öffentliche Raum auch seine für das Dorf unersetzliche Kommunikationsfunktion eingebüßt. Durch maßstabstörende und mit artfremden Materialien errichtete Gebäude sind die vertrauten Ortsbilder zum Teil zerstört worden. Dorf und Landschaft bildeten früher eine Einheit. Heute ist das Grün in und um unsere Dörfer weitgehendst anderen Ansprüchen geopfert worden.
Das Absinken der Lebensqualität in den Ortskernen hat zum Wachstum der Neubaugebiete am Ortsrand beigetragen. Nicht nur Bewohner, sondern auch Zentralität ist aus den Kernzonen fortgezogen. Alte Traditionen sind zum Teil aufgegeben worden, woraus sich wiederum erhebliche Funktionsverluste in den Ortsmittelpunkten ergeben. Festzustellen bleibt, daß heute erhebliche Gestaltungsdefizite sowohl in den Kernbereichen als auch in den Neubaugebieten zu verzeichnen sind.
Neben dem Entwickeln und dem Gestalten darf auch das »Bewahren« nicht vergessen werden. Die Ortsbilder unserer Dörfer sind in jahrhundertelanger Auseinandersetzung mit der Natur, durch geschichtliche Einflußfaktoren und die Wohn- und Wirtschaftsweisen ihrer Bewohner entstanden. Zu den Kulturdenkmälern zählen nicht nur herausragende Bauten; auch alte Dortstrukturen und bescheidene bäuerliche Anwesen vermitteln einen Einblick in vergangene Lebensweisen. Auf den Erfahrungsschatz, den historische Bauwerke und Dortstrukturen bereithalten, kann ohne Schaden für das gegenwärtige und zukünftige Leben, Wohnen und Wirtschaften nicht verzichtet werden. Zugleich müssen geschichtlich geprägte Bauten und Bereiche genutzt werden können, um lebensfähig zu bleiben. Das bedeutet Anpassung an sich wandelnde Bedürfnisse.
Aufgabenstellung
Damit ergibt sich für die Dorterneuerung ein Aufgabenfeld, das wie folgt umrissen werden kann:
– ENTWICKELN
– GESTALTEN
– ERHALTEN.
Dorferneuerung bedeutet das Aufzeigen einer Zukunftsperspektive für die im Strukturwandel begriffenen Dörfer, wobei durch Entwicklung, Gestaltung und Erhaltung der eigenständige Charakter der Orte zu bewahren ist und gleichzeitig das historische Erbe der Vergangenheit mit den zukünftigen Anforderungen verknüpft werden muß.
Dorfentwicklung
Bei der Ortsentwicklung im Rahmen der Dorterneuerung sind die unterschiedlichen Strukturen und Funktionen der Gemeinden nicht weniger wichtig zu betrachten, als die gestaltende und erhaltende Dorterneuerung. Denn was nützt uns ein Dorf mit musealem Charakter, wenn es nicht lebendig ist, wenn sich vor allem auf Dauer die jüngere Bevölkerung nicht mit ihrem Ort identifiziert. Wenn das Dort eine Zukunftsperspektive haben soll, müssen neben einem attraktiven Wohnumfeld, einem Arbeitsplatz im Ort oder in erreichbarer Nähe ebenso die entsprechenden kulturellen und sozialen Infrastruktureinrichtungen zur Verfügung stehen. In den vorrangig zu erhaltenden und revi-talisierenden Ortskernen muß sich ein Nebeneinander von Wohnen, Arbeiten, Versorgen und Kommunikation ermöglichen lassen. Landwirtschaftliche und gewerbliche Betriebe, private und öffentliche Dienstleistungseinrichtungen und auch gemeindliche Kommunikations- und Infrastruktureinrichtungen gehören bedarfsorientiert in die Kernzonen der Dörfer.
Als Ort der Begegnung wurde der neu geschaffene Dorfplatz in Wershofen gestaltet.
Im Rahmen der Dorferneuerung muß daher, sofern unsere Dörfer eine Zukunft haben sollen, die strukturelle Weiterentwicklung der Orte eine wichtige Zielsetzung sein. Dabei werden die Dörfer und ihre Bewohner aber primär auf ihre eigenen Entwicklungskräfte vertrauen müssen, weil staatliche Hilfe und Unterstützung immer nur begrenzt sein können. Darauf zu vertrauen, daß allein von außen die Zukunft des Lebensraumes Dort entscheidend gesteuert werden kann, wäre falsch. Aus eigener Kraft muß die Zukunft der Dörfer gestaltet werden. Zur Strukturverbesserung ist in allererster Linie privates Engagement erforderlich, wobei der Staat nur flankierend stützen kann. Für alle Beteiligten gilt es, das gesamte Repertoire privaten und öffentlichen Engagements einzusetzen, um unseren Dörfern eine dauerhafte Chance zu gewährleisten.
Zur Dortentwicklung gehört auch die Steuerung durch geeignete Planungsinstrumentarien. Die Ortsentwicklung und Dorterneuerung kann nicht losgelöst von der überörtlichen und örtlichen Planung betrachtet werden. Bereits durch die vorbereitende Bauleitplanung wird die zukünftige strukturelle und gestalterische Ortsentwicklung gesteuert. Der aus dem Flächennutzungsplan zu entwickelnde Bebauungsplan, der als Ortssatzung verbindliches Recht setzt, enthält konkrete Aussagen über Art und Maß der baulichen Nutzung, Bauweise, überbau.bare Grundstücksflächen und gestalterische Festsetzungen.
Dorferneuerung und Ortsplanung müssen also miteinander verknüpft werden. Beispielsweise ist das Dorf als ein Teil des umgebenden Landschaftsraumes zu begreifen, daher müssen bei Siedlungsflächenerweiterungen auch die ökologischen Grundvoraussetzungen berücksichtigt werden. Bebauungspläne, die in den letzten Jahrzehnten landauf und landab an der Reißschiene entwickelt worden sind, sollten sich auch wieder mehr an den alten Ortsstrukturen orientieren. Es muß also nicht so sein, daß ein neues Baugebiet weder einen Bezug zur Landschaft noch zum alten Ortsgrundriß und zu lokalen Bauformen aufweist. Was für die Bebauung gilt, ist natürlich ebenso für die Straßenraumgestaltung zutreffend. Auch hier sollten bestehende Straßenraumtypen aufgenommen und entsprechend den bestehenden örtlichen Gegebenheiten ausgeformt und gestaltet werden.
Gestaltende Dorferneuerung
Bei der gestaltenden Dorferneuerung ist darauf hinzuwirken, daß die in den letzten Jahrzehnten bereits in vielen Fällen verlorene unverwechselbare Eigenart gewahrt wird. Von der Bausubstanz und den Straßenräumen, die sich zum Teil an städtischen Vorbildern orientieren, bis zur mangelnden innerörtlichen Durchgrü-nung ergeben sich heute in unseren Dörfern Gestaltungsdefizite, die Identifikationsverluste und Anonymität bewirken. Prägende Gestaltsmerkmale und typische Ortsarchitektur müssen daher bei allen Dorferneuerungsüberlegungen in den Vordergrund gestellt werden.
Das »sich einfügen« in die Umgebungsbebauung, die dörfliche Gestaltung von Straßenräumen und die Wiederbelebung der Orte durch mehr »Grün« im Dorf sind allgemeine gestalterische Aspekte, die praktisch für alle Dörfer zutreffen. Natürlich ist dabei letztendlich die charakteristische Eigenschaft eines jeden Dorfes, vom Ortsgrundriß über den Gebäudetyp mit Dach. Fassade und Fenster bis zum Dorfstraßenraum zu beachten. Differenziertere Raumbildungen, dorfgerechtere Materialien und Details müssen wieder mehr als bisher das Dorfbild bestimmen.
Von der landschaftsgliedernden Bepflanzung bis zur Ortsrandgestaltung ist zukünftig wieder mehr zu tun. Statt Blumenkübel art- und standortgerechte innerörtliche Bepflanzung, so könnte die Devise lauten, wodurch »totbetonierte« Hof- und Straßenräume wiederbelebt werden können. Nur in wechselseitiger Ergänzung aller Erfordernisse werden sich die Ortsbilder wieder attraktiver gestalten lassen.
Bewahrung des historischen Erbes
Alten Bauten und Bereichen ist durch ihre geschichtliche Bedeutung ein entscheidendes Merkmal zu eigen, das unverwechselbare Ortsindividualität begründet. Die Echtheit der historischen Quellen, ihr dokumentarischer Wert, bleibt aber nur dann präsent, wenn die originale Substanz einschließlich ihrer geschichtlich sprechenden Veränderungen erhalten bleibt.
Kulturdenkmäler und zusammenhängende Bereiche können jedoch nur dann auf Dauer erhalten werden, wenn sie in die Entwicklung der Gemeinden eingebunden bleiben und Funktionen erfüllen, die mit heutigen Erfordernissen im Einklang stehen. Dorferneuerung und Denkmalpflege können daher – müssen aber nicht -in einem Spannungsverhältnis zueinander stehen, sofern der Erhaltungsgedanke bei der Dorferneuerung nicht in den Vordergrund gerückt wird. Eine wesentliche Zielsetzung der Dorferneuerung besteht jedoch darin, die charakteristischen Eigenarten und die historischen Grundstrukturen unserer Dörfer zu wahren. Generell ist bei Dorferneuerungsmaßnahmen darauf zu achten, daß bei Veränderungen an Kulturdenkmälern und ortsbildprägender Bausubstanz zunächst die Reparatur absolute Priorität vor Neubauten bzw. bei Baudetails vor Neuanfertigungen hat. Maßnahmen in historisch gewachsenen Dorfbereichen dürfen auch nicht nach städtischen Maßstäben und Vorbildern geplant, sondern müssen ausschließlich an der historischen gewachsenen individuellen Struktur des jeweiligen Dorfes orientiert werden.
Dorferneuerungsprogramm und Dorferneuerungskonzept
In Rheinland-Pfalz gibt es seit Anfang/Mitte der 80er Jahre ein Dorferneuerungsprogramm, das im weitesten Sinne als Hilfe des Landes zur Selbsthilfe in den Gemeinden gedacht ist. Neben der ideellen Unterstützung, wie beispielsweise Beratung, fördert das Land subsidiär in den Gemeinden, wo Dorferneuerung erforderlich, aber aus eigener Kraft nicht zu bewältigen ist. Die Landesregierung Rheinland-Pfalz sieht Dorferneuerung als kommunale Selbstverwaltungsaufgabe, die letztendlich von den Gemeinden in eigener Regie durchzuführen ist.
Noch intaktes Fachwerkhaus in Insul.
Freigelegte Fachwerkfassade in Adenau (ohne originale Fenstersubstanz).
Die Dorferneuerung in Rheinland-Pfalz vollzieht sich auf der Grundlage eines Dorferneuerungskonzeptes. Ein solches Dorferneuerungskonzept kann als langfristiger gemeindlicher Entwicklungs- und Handlungsrahmen, auf den auch die zukünftige Finanzplanung abgestimmt werden sollte, bezeichnet werden. Als dynamischer Plan konzipiert muß ein solches Dorferneuerungskonzept vor dem Hintergrund zukünftiger privater Investitionsentscheidungen und veränderter gemeindlicher Rahmenbedingungen so flexibel sein, daß es jederzeit fortschreibbar ist.
In einem qualifizierten ganzheitlichen Konzept, das den staatlichen Behörden u. a. als Basis für die Förderung dient, sind die örtlichen und überörtlichen Entwicklungsvorstellungen untereinander und miteinander abzustimmen.
Die Initiative zur Aufstellung eines Konzeptes muß jedoch vom Rat der Gemeinde unter enger Beteiligung der Bürgerschaft ausgehen, wobei immer der Gedanke im Vordergrund stehen muß, daß ohne vertrauensvolles Miteinander die Dorferneuerung nicht zu verwirklichen ist.
In einem permanenten Diskussionprozeß müssen Rat, Bürgerschaft und von der Gemeinde beauftragter Planer den Inhalt des Konzeptes ausformen und an seiner Realisierung mitwirken.
Aus dem konzeptionellen Rahmen werden entsprechend den finanziellen Möglichkeiten der Gemeinde die öffentlichen Planungen im Detail entwickelt. Auch bei diesen Einzelprojekten sollte bereits im Vorfeld eine gemeinschaftliche Willensbildung zwischen Rat und Bürgerschaft erfolgen, um eine Akzeptanz in der Bevölkerung zu erzielen.
Möglichst frühzeitig müssen Gemeindevertretung, Bürgerschaft und Planer das beabsichtigte Einzelprojekt ausdiskutieren, um den Antrag ordnungsgemäß auf den staatlichen Förderungsweg zu bringen.
Private Maßnahmen, die ebenfalls mit staatlichen Geldern gefördert werden können, leisten wohl den entscheidendsten Beitrag zur Dorferneuerung. Denn nur unter der Voraussetzung, daß alle Bürgerinnen und Bürger mitwirken, kann es gelingen, unsere Dörfer auf Dauer lebenswert zu gestalten.
Dorferneuerung im Kreis Ahrweiler
Im Landkreis Ahrweiler sind derzeit 44 Gemeinden mit 87 Stadt- und Ortsteilen, das sind fast 60 % aller Kreisgemeinden, in der Dorterneuerung engagiert. Weitere 9 Gemeinden wollen noch kurzfristig in die Dorferneuerung einsteigen.
Für die Dorferneuerung und die Denkmalpflege hat neben den gewährten Landesmitteln der Landkreis Ahrweiler in den letzten Jahren Finanzmittel in mehrfacher Millionenhöhe zur Verfügung gestellt. Daraus ist zu ersehen, welcher Stellenwert der Entwicklung, Gestaltung und Erhaltung unserer Dörfer seitens der Kreisgremien eingeräumt wird. Die Kreisverwaltung unterstützt und berät aber auch die Ortsgemeinden bereits im Vorfeld der Dorterneuerung, sie hilft bei der Erstellung des Dorferneuerungskonzeptes und koordiniert die durchzuführenden Dorferneuerungsmaßnahmen. Für den Bürger und die Gemeinden steht die Kreisverwaltung immer als Ansprechpartner zur Verfügung.
In der Anfang 1988 herausgegebenen Dorferneuerungsbroschüre hat der Landrat des Kreises Ahrweiler alle an der Dorferneuerung Beteiligten, von der Bürgerschaft über die Vereine bis zu den Kommunalpolitikern, dazu aufgerufen, aktiv in der Dorferneuerung mitzuwirken.
Denn nur durch eine engagierte Mitarbeit wird es gelingen, den ländlichen Raum zu stabilisieren und die Zukunft unserer Dörfer zu sichern.