Dienstfahrt rheinabwärts
Vom »Rittersturz« zur »Lochmühle« vor vierzig Jahren Egon H. Rakette
In diesem Sommer sind es vierzig Jahre, daß die Ministerpräsidenten der westdeutschen Besatzungszonen auf Grund der Londoner Dokumente von den Militärgouverneuren Lucius D. Clay, Sir Brian Robertson und General Pierre Koenig ermächtigt wurden, Vorbereitungen für die Bildung eines westdeutschen Staatswesens einzuleiten. Der Münchener Versuch einer Konferenz aller auf altem Reichsgebiet tätigen Regierungschefs war gescheitert. Nach dem Ausscheiden der Ministerpräsidenten der Sowjetzone kamen die alliierten Gouverneure zu übereinstimmendem Consens. Auch General Koenig als Chef der französichen Zone gab sein Zögern auf. Der hohenzollernsche Staatsrat Prof. Dr. Carlo Schmid (Tübingen) erklärte erleichtert: »Der Krampf hat sich gelöst!« Mit ihm stimmten auch Staatspräsident Leo Wohleb (Baden) und Ministerpräsident Peter Altmeier (Rheinland-Pfalz) der Errichtung des »Büros der Ministerpräsidenten des amerikanischen, britischen und französischen Besatzungsgebietes« mit dem Sitz in Wiesbadens Staatskanzlei zu.
Meine erste Aufgabe war die Vorbereitung der Konferenz im Jagdschloß Niederwald bei Rüdesheim, unweit des Denkmals gelegen, dessen allegorische Figuren »Krieg« und »Frieden« darstellen. Die Besucher konnten nachdenken, warum wir diesen noch nicht besaßen, nachdem wir den Krieg mit so viel Leid und Schrecken hinter uns gebracht hatten. Die folgenden Monate reihte sich Konferenz an Konferenz.
Die Arbeitsstäbe der Regierungschefs vergrößerten sich für Organisationsausschuß und Demontagekommission. In der noch so beklommenen Zeit von Benzingutscheinen und Lebensmittelkarten wurde manches improvisiert, mußte einiges gezaubert werden. Zum Gelingen des Auftrags waren nicht nur guter Wille, sondern ebensoviel Geduld und Disziplin vonnöten. Von den Nachrichten über Millionen Flüchtlinge, brache Zechen, Hunger in den Städten und steigenden Arbeitslosenzahlen belastet, schien der Anblick der Ministerpräsidenten am langen Konferenztisch fast unwirklich. Prof. Reuter (Berlin) und der massige Ministerpräsident von Niedersachsen Hinrich Wilhelm Kopf neben dem in sich gekehrten Staatspräsident Leo Wohleb (Baden), Bürgermeister Brauer (Hamburg), Ministerpräsident Dr. Ehard (Bayern) und Dr. Lüdemann (Schleswig-Holstein). Unter ihnen der bedächtige Hesse Christian Stock, später Konrad Adenauer gegenüber sitzend, der prüfend und überlegt die Wogen der Debatten glättete. Adenauer schien sich seines Weges bewußt. Unterschwellig klang Entschuldigung durch, als er, Ministerpräsident Dr. Maier widersprechend, der in der Hauptstadtfrage erneut für Frankfurt plädierte, zu ihm meinte: »Herr Ministerpräsident, wenn ein Anwalt gegen den anderen steht und versucht, die Sache zu retten, dann könnte man mit so kleinen Kniffen kommen, – das betrachte ich als kleinlichen Kniff, der unwürdig ist«. Als der einstmalige Oberpräsident von Schlesien Lüdemann für eine bessere und gleichmäßigere Unterbringung der Flüchtlinge aus den Ostprovinzen sprach, – im Badeort Timmendorfer Strand lebten inzwischen bei rund 10 000 Einwohnern sechstausend Flüchtlinge, – wandte der Staatspräsident Dr. Gebhard Müller (Württemberg-Hohenzollern) ein, daß »die 1945 angewandten Methoden der Unterbringung nicht mehr möglich seien«, und Adenauer unterstützte ihn mit den an Lüdemann gerichteten Worten: »Wenn Sie es nicht wären, Herr Lüdemann. . .«. In der Tat ging nicht mehr an, die heimatentwurzelten Deutschen aus Königsberg und Breslau von Baracke zu Baracke umzusiedeln.
In unserem Büro gingen die alliierten Verbindungsoffiziere Lefebvre de Laboulay und der Brite Claput de Saintonge ein und aus. Die Fabrikdemontagen machten die Beratung einer Eingabe an den US-Kongreß nötig. Der Abbau der Hörder Grobblechstraße betraf nicht n das Ruhrgebiet, sondern beschwor die Gemeinsamkeit aller Länder herauf. Von Europa war noch nicht die Rede. Nach der Annahme des Wahlgesetzes durch die Landtage hat auch Ministerpräsident Altmeier die rheinland-pfälzische Urkunde unterschrieben und uns‘ rem Büro zugestellt.
Am 1. September 1948 eröffnete Ministerpräsident Dr. Arnold (Nordrhein-Westfalen) den Parlamentarischen Rat als Gesetzgebungskörperschaft in Bonn mit den Worten: »Noch nie war der geistige Zusammenklang der Deutsche aus allen Schichten, Stämmen und Landschaften so tief und feierlich wie in dieser Stunde. Den Abgeordneten aus Leer und Moosburg aus Celle und Gaggenau, die sich als Vertreter aller Deutschen empfanden, lag mit der Fes mappe der Länder meine Erwartung vor: »Und so mag ein jedes Gewerk noch beginnen mit Liebe!. . . Und warten auf die Verkündung der Liebe als unser Gesetz, das auf ewig einschließt in sich jenen Frieden, das Recht und die Einheit des Lebens!«
Damals wurde die später oft genug und auch spöttisch verbrämte Frage geboren »Was gibt’s aus Bonn?« Die Distanz Bonn-Wiesbaden war zu verkleinern. Eine erste Dienstfahrt den Rhein abwärts, vorbei an Bacharach und Andernach zu unserer Verbindungsstelle im besatzungsbefreiten Hotel »Zum Adler« in Bad Godesberg, wurde zur Dauereinrichtung. Die zügig vorangehenden Gesetzgebungsarbeiter stießen eine Menge von Papier aus, Drucksachen über Vorschläge für eine neue Nationalhymne und Flagge, über die Institution von Bundesrat und Bundestag. Kaum hatte sich der bereits altersschwache Dienst-Mercedes das linke Rheinufer am Bingener Mäuseturm und der immer wieder an der Erhebung zur Reichsstadt verhinderten Stadt Boppard vorbeigequält, fuhr er, den Kofferraum voll mit Drucksachen des Parlamentarischen Rates, am ehemaligen riesigen Kriegsgefangenenlager »Goldene Meile« bei Remagen vorbei, dessen zerstörte Pfeiler der 1916 begonnenen und 1919 fertiggestellten Eisenbahnbrücke als klagende Stümpfe zur Besinnung mahnten.
In Erinnerung an Ferdinand Freiligrath speisten wir kurz vor Überschreiten der dem Namen nach noch bestehenden Zonengrenzen, hier der französischen, unter dem Rolandsbogen. Jemand erinnerte an des Dichters Verse: »Wo das Recht ist, da wohnen von selber schon Freie,/ und immer, wo Freie sind, waltet das Recht!«.
Ein Jahr später Ende August tagte die Ministerpräsidentenkonferenz auf dem Koblenzer »Rittersturz«. Am Tage darauf startete unser Wagen zur Fahrt nach Godesberg. Über Nacht hatte unser Arbeitgeber gewechselt. Am 1. September 1949 morgens acht Uhr nahm ich für den Bundesrat sein Dienstgebäude, den Nordflügel des Bundeshauses, in Besitz. Eine Episode deutscher Geschichte näherte sich seinem Ende, eine neue begann.
Die letzten Besprechungen mit Ministerpräsident Christian Stock, dessen geheime Erwartung, nach seiner Arbeit als Vorsitzender der Konferenzen als erster Präsident des Bundesrates in die Geschichte einzugehen, sich in Unkel, bei den Beratungen im Haus der Länder, nicht erfüllt hatten, liefen ab. Enttäuschung war ihm anzusehen. Politische Strategie und Taktik gewannen die Überhand. Die Mitarbeiter des »Büros«, eben noch in russischen und französischen Gefangenenlagern, Emigrierte und Vertriebene, empfanden das Geschehen kaum in ganzer Kraft. Es war ein Umbruch.
Plötzlich kam bei allen der Wunsch auf, Abschied zu nehmen. Stock war des Umtriebs müde. Das Büro sollte sich nicht in Luft auflösen. »Lochmühle«, das war das Ziel der Wagenkolonne. Jäh hatten wir alle das Gefühl von Trennung und Abschied. Die Dämmerung des Ahrtales wirkte versöhnlich.
Das Bewußtsein, in entscheidenden Stunden am Werden dieser Republik seinen Anteil gehabt zu haben, wird nicht durch manchen späteren Schmerz gemindert. Von meinem Hause in Oberwinters Rheinhöhe geht öfters der Blick nach dem über dem Rhein liegenden Rhöndorf. Und oft genug sind in meinem Haus frühere Mitarbeiter zu Gast, um rückblickend Einkehr zu halten.
Erinnerungen an das Gestern verbinden sich mit Bedauern über das noch nicht Erreichte und mit Sehnsüchten nach dem Erhofften.