Die Wunderblume auf der Hohen Acht
Dem Volksmunde nacherzählt
Andreas Breuer
Noch in den zwanziger Jahren dieses Jahrhunderts war es in den Dörfern rundum üblich, daß sich zur Winterzeit die Nachbarn jeweils in einem Hause zusammenfanden, wo dann die Frauen am Spinnrocken saßen oder mit »zwei rechts und zwei links« dicke Wollsocken strickten, derweil die Männer am Tisch den Bierhumpen kreisen ließen und die Kinder — soweit sie noch nicht auf dem Strohsack lagen und träumten — mit offenen Mündern dasaßen und staunend den Geschichten und Mären zuhörten, die ein kundiger Mund zur Unterhaltung darbot.
Und so geschah es also wieder an einem Winterabend, und sie hörten die Mär von der Wunderblume auf der Hohen Acht:
Es war in jener Zeit vor mehreren hundert Jahren, daß ein junger Ritter vom Kreuzzug gegen die Sarazenen wieder auf dem Heimweg zur angestammten Burg in der Eifel war. Der Ritter hing trübsinnigen Gedanken nach. Schon viele Monate war er unterwegs, sein Ränzel war in der langen Zeit gar leicht geworden, auch war sein Wams an vielen Stellen zerschlissen. So kam es, daß er den Weg nicht achtete, den ihn sein Roß trug. Da blieb sein Pferd plötzlich stehen und als der Ritter aufblickte, sah er vor sich die Hohe Acht. Ihm war, als spräche es in seinem Herzen: »Steig ab vom Pferd, laß dein Rößlein grasen und steig hinauf zur Bergesspitze!« Er tat wie ihm sein Herz geraten und stieg den Berg hinan.
Auf der Höhe leuchtete ihm schon von weitem eine wunderschöne blaue Blume entgegen, wie er noch nie eine gesehen hatte. Er eilte hinzu, beugte sich tief über sie, um ihren Duft einzuatmen und beschloß, diese einzigartige Blume mitzunehmen, um sie seiner Herzliebsten daheim zu überreichen. Also pflückte er sie ab und, o Wunder, kaum hielt er die Blume in seiner Hand, da sah er vor sich den Eingang zu einem unterirdischen Gewölbe. Dort, wo ursprünglich die blaue Blume gestanden hatte.
Zögernd stieg er, die Blume fest in der Hand haltend, in das Gewölbe hinab und erblickte darin eine weiße Jungfrau, die schweigend mit der rechten Hand auf einen Haufen Schätze zeigte, gleichsam als wolle sie ihn auffordern, davon zu nehmen. Der Ritter, seiner armseligen Kleidung und seiner Bedürftigkeit bewußt, legte die blaue Blume zur Seite auf die Erde nieder und griff mit beiden Händen in das Gold und die Schätze, um sich die Taschen zu füllen. Dann wandte er sich um und wollte sich entfernen. Da rief ihm eine Stimme zu: »Vergiß das Beste nicht!« Der Ritter aber dachte nicht mehr an die seltene Blume, sondern nur noch an die Schätze. All sein Sinnen und Trachten war nur noch auf den gefundenen Reichtum ausgerichtet.
Auf einmal war die Jungfrau samt den Schätzen verschwunden und der enttäuschte Ritter sah sich unerwartet wieder zwischen kahlem Gebüsch und nacktem Fels. Auch das Gold in seinen Taschen war spurlos verschwunden. Höhnisches, kaltes Gelächter ringsum schallte an sein Ohr und dröhnte in seinem Kopf. Hätte der Ritter die Blume mitgenommen, so würde er auch immer wieder aufs Neue den Zugang zu den Schätzen gefunden haben, der ihm nun durch seine Habgier verschlossen blieb. So sehr er sich auch mühte, er konnte den fraglichen Eingang und auch die Stelle, wo die blaue Blume gestanden hatte, nicht wiederfinden. Für ihn waren die Schätze auf Dauer verloren, denn die blaue Blume blüht erst wieder nach hundert Jahren.
Manch Spinnrocken war über diese Erzählung angehalten worden und manch fleißige Nadel hatte das Stricken eingestellt ob der Erkenntnis, daß schnöde Habsucht des Ritters Sinn und Verstand verdunkelt hatte, daß er das Wichtigste auf Erden, nämlich die Bescheidenheit in Form der blauen Blume, vergessen hatte. Und mir deucht, so schloß die Erzählerin, daß auch in unserer Zeit die blaue Blume erst in hundert Jahren wieder blühen wird. Dem ist nichts hinzuzufügen.