„Die Venedig- und Rheinfahrt 1608“
Thomas Coryate sieht Remagen und Oberwinter
Hermann Bauer
In der wohltemperierten Luft eines anglikanischen Pfarrhauses wuchs Thomas auf. Sie formte ihn so, daß er keinen Schritt daneben trat. Religiöse Probleme gab es für ihn nicht. Wie die Eltern in der anglikanischen Kirche glaubten, so glaubte auch er. In Oxford pflegte er eifrig humanistische Studien. Die englische Oberschicht wurde auf Coryate aufmerksam, wie er mit ausgesuchten Manieren, mit dem Rüstzeug fundierten Wissens und mit der Sicherheit seines Glaubens seinen Weg ging. Dieser führte ihn an den Hof des englischen Kronprinzen, des Prinzen von Wales.
Da plötzlich brach etwas in ihm durch, das keiner bei ihm vermutete, vielleicht er selbst nicht. Ihn packte das Fernweh. Mit Wanderstab und Messer, mit Münsters Cosmogra-phia, mit viel Schreibzeug und spärlichem Reisegeld wanderte er wie ein früher Globetrotter zu Fuß fünf Monate durch Frankreich, die Schweiz und Norditalien, das Rheinland und die Niederlande. Im ganzen legte er 1975 Meilen, d. s. rd. 3000 km zurück, das entspricht einer durchschnittlichen Tagesleistung von 20 km.
Angetan mit dem schützenden Mantel der Rechtgläubigkeit durchmaß er mit prüfendem Blick, mit scharfem, kritischem Verstand die Länder, erforschte, was er nicht sah dank seiner großen Sprachkenntnisse und brachte mit Bienenfleiß seine geistige Ausbeute zu Papier. Seine Methode war auch im fröhlichen Rheinland nicht anders. Als Frucht
seiner Reise entstand das Buch: Thomas Coryate: Die Venedig- und Rheinfahrt 1608″, dessen Lektüre mir die Anregung zu dieser Arbeit gab. Vor einiger Zeit habe ich die Erlebnisse des italienischen Abbate di Bertolä am Rhein niedergeschrieben. Der Enthusiasmus dieses Theologen und Humanisten fand kaum eine Grenze. Auch der Engländer war Humanist und im theologischen Raum groß geworden, doch wie anders offenbarten sich ihm Land und Menschen. Der Engländer reiste mehr mit dem Verstand als mit dem Herzen, er ordnete am Abend, was er am Tage erarbeitet hatte. Der Italiener teilte mit, was die gelösten Zungen am Abend in fröhlicher Runde verrieten. Für philologische Studien der Nachwelt hat der Engländer besser gesorgt.
Es war auch gut, daß er mit geringen Mitteln reiste. Nach seiner Sympathie, die er in der englischen Gesellschaft genoß, wäre es ihm ein Leichtes gewesen, für seine Studienreise Mittel flüssig zu machen. Aber er liebte die Sparsamkeit aus Weltanschauung, wie sie sich in jener Zeit auch hier in Oberwinter zeigte. So mußte er wie einfache Leute reisen. Auf den Rheinschiffen zwischen Mainz und Köln und bisweilen bis in die Niederlande war es Sitte, daß nur der die Schiffe benutzen konnte, der sich für gewisse Zeitabschnitte auch zum Rudern verpflichtete. Der Bootsbesitzer heuerte keine Schiffsjungen an, die er bezahlen mußte, er bediente sich der Reisenden, die ihn bezahlten. So traten die Reisenden und der Bootsbesitzer paarweise an, und die Paare änderten sich, je mehr unterwegs dazukamen oder ausstiegen. So saßen alle mal nebeneinander, lernten sich kennen, sich bedauern, im Zorn, in der Freude, je nachdem, was sie aus dem Reisestil machten: Groll oder Spaß.
Unser Engländer war böse darob und verdarb sich die Laune. Er wurde noch verdrießlicher, als er bemerkte, wie sich manche vom Rudern loskauften, während seine Hände rauh wurden, und seine Augen nicht in die Ferne schweifen konnten. Zwar spürte er, daß er zu seiner angestrengten geistigen Arbeit eine gesunde schöpferische Pause durch die körperliche Anstrengung einlegte, aber daß er sie einlegen mußte, wurmte ihn zutiefst.
Und wieder kam die Reihe an ihn. Zu ihm gesellte sich ein junger Student aus Altdorf bei Nürnberg. Er war ein gar lustiger Geselle, und ihn störten auch nicht die Schauergeschichter die hinter jedem Busch am Strand und jedes Geräusch vom Land die Rotte der Freibeutervermuteten. Man nannte sie Freibeuter, „diese liderlichen und mörderischen Schurken, die vom Berauben und Plündern der Reisenden leben, zuletzt, weil sie ihre Beute von den Überfallenen frei bekamen, es sei denn, man würde sie gefangen nehmen.“ In Remagen gingen sie kurz an Land. Coryate bewaffnete sich mit Stift und Papier und sah sich um. Und er erfuhr, daß 1598, also gerade vor zehn Jahren, 3000 Freibeuter Remagen geplündert hatten. Zwar hatten sie die Stadt nicht zerstört, aber die Bewohner ihrer Habe beraubt und „in größtes Verderben und bittere Armut gestürzt“. Des feingeistigen Engländers düsteres Bild erhielt auch hier wieder neue Nahrung.
In Oberwinter wurde länger Station gemacht. Hier waren die Voraussetzungen dafür. In der Pferdegrasse waren die Stallungen, wo die Pferde ausruhten oder ausgewechselt wurden. Im Anker am Rhein hatten die Flözer und Schiffer ihre Bleibe für die Nacht und Speise und Trank nach der Last der Tage. In der Kirche hatten sie ihre eigene Bank mit entsprechendem Hinweis. Sie ist noch heute zu sehen. Wo die Gesellschaft unseres Engländers einkehrte, geht aus den Aufzeichnungen nicht hervor. Es war nicht der „Schwanen“ und es war nicht das Haus zum Anker, beide sind später gebaut worden. Sicher ist nur, daß sie in Oberwinter einkehrten, und hier wuchs damals noch ein guter Tropfen. Trotzdem vergaß unser Engländer seine Bildung und Erziehung nicht. Der Wein belebte mehr seinen Geist, als er das Herz erwärmte, und seine Zunge leckte nicht in schmutzigen Gefäßen, wie es bisweilen beim Obergenuß geschieht. Man tauschte Erlebnisse und Erkenntnisse aus, stellte auch sein Licht nicht unter den Scheffel, und so kam auch der junge Student aus Nürnberg zu Wort, der am Schluß mit einem lateinischen Zitat aufwartete. „Ein Bischof“, so erzählte der Nürnberger, „hatte in seinem Keller zwei Sorten Wein. Den guten nannte er NOLI ME TANGERE (Rühre mich nicht an, oder: sei vorsichtig mit mir und mit dem, der mich genießen soll), den anderen nannte er UTCUNQUE (wie nur immer oder: Es geht, man kann ihn trinken). Nun hatte der Bischof einen Gast, von dem er glaubte, daß er mehr vom Latein als vom Wein verstünde und setzte ihm die zweite Sorte vor. Als nun der Diener kam und das Lob des Weins hören wollte, der immerhin ja auch dem Bischof mundete und bestimmt kein Säuerling war, erhielt er die klassische Antwort: Si das Utcunque, daemon vos tollat utrunque.
Ibis ad astra poli, si fers Me tangere noli. (Wenn du mir einschenkst Utcunque, dann hole der Teufel euch beide. Bringst du Me tangere noli, entrückst du zu himmlischen Sternen). Am folgenden Tage durchstreiften sie die Wälder, wo die „blutdürstigen Diebe, die wahrhaftigen Werwölfe Deutschlands, auf Beute lauerten, und es war selten, daß sie nur den Mann beraubten, ohne ihm auch gleichzeitig die Gurgel durchzuschneiden.“ Es ist gut vorstellbar, daß Coryate mit Genugtuung daran dachte, daß er in weiser Vorsicht keine Reichtümer mit auf die Reise nahm.
Doch sein zürnender Gott ist ein, gerechter Gott. „Wenn man sie fängt, werden sie auf das grausamste gefoltert und auf das Rad geflochten wie in Frankreich. — An den -Galgen sah ich oft Mörder in Ketten hängen, eine Bestrafung, die fast noch zu gut ist für die kyklopischen Antropophagen“. Er bekommt Mitleid mit sich, daß er auf seinen Streifzügen noch so viele Gebeine auf den Rädern sah, ein „fürwahr grausiger Anblick für einen versöhnlichen Christenmenschen“. Kurz vor Köln fand er sogar mehr Galgen und Räder „als je zuvor auf einer so kurzen Strecke“.
In Bonn machte ein Mitreisender ihn auf das kurfürstliche Schloß, die heutige Universität, aufmerksam. So etwas gäbe es doch in England nicht. Aber Coryate war sichtlich durch ein solches Urteil getroffen, denn das Bonner Schloß könne sich mit den Palästen des englischen Königs James und denen vieler Mitglieder der englischen Aristokratie gar nicht messen, wodurch das kurz gestörte Gleichgewicht wieder hergestellt ist.