DIE MISTEL
Immergrüner Strauch auf winterkahlen Ästen
VON GERDA BUNGARD
Es ist nicht von ungefähr, daß die Mistel seit alter Zeit als besonders geheimnisvolle Pflanze gilt und auch wegen ihrer Zauberkraft verehrt wurde. In manchen Ländern wird sie auch heute noch zusammen mit der Stechpalme als Weihnachtsschmuck verwandt. Ihre eigenartige Lebensweise und ihr fremdartiger Anblick heben sie aus der Gemeinschaft mit anderen Pflanzen heraus und geben ihr den Reiz des Besonderen, der wohl unsere Vorfahren bewogen haben mag, ihr mythische Kräfte zuzusprechen. Uralt wie ihre Mythen ist auch ihr Name, der aus dem Altgermanischen stammt.
Hoch oben in den Wipfeln der Bäume hat sie ihren Sitz, und im winterkahlen Wald üben ihre graugrünen Kugelbüsche einen eigenartigen Reiz auf den Betrachter aus. Sie wurzelt nicht in der Erde wie die meisten anderen Pflanzen, sondern treibt sogenannte Senker in den Wirtsbaum und entzieht so dem aufsteigenden Säftestrom des Baumes ihre Nahrung. Zwar besitzt sie grüne Blätter, durch die sie sich teilweise selbst ernähren kann; aber alle Stoffe, die eine Pflanze durch ihr Wurzelwerk aufnimmt, muß sie dem Wirtsbaum entnehmen. Sie ist also ein typischer Halbschmarotzer. Bricht man ihre Zweige ab, so wächst sie mit Hilfe von Stockausschlägen aus den „Wurzeln“ nach und wird in ihrem Strauchwerk dichter und üppiger als zuvor. Auf der Grafschaft und in der Rheineifel wird die Mistel auch Ästrich genannt, weil ihr Reich auf den Ästen ist.
Ist es nicht reizvoll, einen fruchttragenden Mistelzweig zu betrachten?
Wächsern glänzen die weißlichen Beeren in dem mattgrünen Laub. Sie reifen gerade in der Weihnachtszeit. Welch ein Widerspruch zu allen anderen Früchten, die Sonne und Wärme des Sommers und Herbstes zum Wachstum brauchen. Die zarten Beeren erscheinen fast durchsichtig. Ein feines Aderwerk schimmert durch ihre farblose Haut. Die Blüten dagegen sind unscheinbar und klein. Männliche und weibliche Blüten wachsen auf verschiedenen Sträuchern. Sie blühen schon im März oder April.
Das Geäst, dessen Grün etwas dunkler ist als das der ledrigen Blätter, hat einen eigentümlichen Bau. Der Mistelstrauch ist gabelzweigig, eine Verzweigungsform, die bei höher entwickelten Pflanzen selten vorkommt und deren klare Einfachheit uns beeindruckt. Es ist zwar genau genommen keine ganz echte Gabelzweigigkeit, sieht ihr aber täuschend ähnlich. Ihr verdankt der Strauch auch den merkwürdigen Kugelwuchs, der oft dazu führt, daß er mit Hexenbesenbildungen verwechselt wird.
Die Samen der Mistel werden auf höchst originelle Weise verbreitet. Amseln fressen die weißen Beeren in der kargen Winterszeit gern in größeren Mengen. Dabei bleiben oft einzelne Samen mit dem zähen, klebrigen Leim des Fruchtfleisches am Schnäbel hängen. Der Vogel streift sie am Baum ab und der Same kann keimen. Aber auch durch den Vogelkot wird er verbreitet, denn die Samenschalen sind so widerstandsfähig, daß sie den Verdauungsweg ohne Schaden durchlaufen können.
Seit alters her hat der Mensch sich dieses Gewächs zunutze gemacht. So stammte der Vogelleim, mit dem die Leimruten bestrichen wurden, aus dem klebrigen Fruchtfleisch der Mistel.
Auch die Arzneikunde hat in den Blättern und Früchten heilende Kräfte entdeckt, und das uralte Wissen um diese Dinge finden wir schon in den Kräuterbüchern des Mittelalters. Sie berichten von der krampflösenden Wirkung bei Epilepsie. Auch sollen sie ein blutstillendes Mittel sein. Als Krebsmittel wird sie seit alters her benutzt. In neuerer Zeit hat man dieses alte Mittel wieder erprobt; es wird von Heilerfolgen bei bösartigen Gewächsen berichtet.
Eine weitere Wirkung der Mistelsäfte beruht auf ihrem Gehalt an blutdrucksenkenden Wirkstoffen.
Da dieser eigenartige Strauch hoch oben in den Bäumen noch viele andere Besonderheiten besitzt, hat er seit jeher die Menschen beschäftigt. Volksglaube und Fabel haben seine geheimnisvolle Gestalt umsponnen; manche alte Sage und viele verstaubte Kräuterbücher wissen von der Heil- und Zauberkraft der Mistel zu berichten.
Wenn manches auch schon fast in Vergessenheit geraten ist, so hat sich doch ihr geheimer Zauber noch nicht ganz verloren. In der Weihnachtszeit, die ja noch am stärksten die alten Bräuche bewahrt hat, schmückt sie unser Heim als Symbol des wiederkehrenden Lichtes. In England wird zu dieser Zeit ein Mistelzweig über der Türe befestigt, und verliebte Paare küssen sich unter seinem Grün.
Wer aber erinnert sich schon daran, daß dieses Brauchtum auf einen alten keltischen Kult zurückgeht, in dem die Mistel zur Zeit der Wintersonnenwende eine große Rolle spielte. Als sich das Christentum bei den germanischen Völkern ausbreitete, wurde an die Stelle des heidnischen Festes des wiederkehrenden Lichtes das Weihnachtsfest gelegt, das auch die heidnischen Bräuche mit neuem christlichem Inhalt erfüllte.
Die nordische Sage erzählt, daß Freyja allen Geschöpfen den Eid abnahm, dem Lichtgott Baldur kein Leid zuzufügen. Es war nämlich geweissagt, daß er durch sie sterben müsse. Die Mistel aber, hoch oben im Geäst der Bäume, hatte sie vergessen. So kam es, daß Hödur, der blinde Wintergott, einen Pfeil aus Mistelholz abschoß, der Baldur tötete. Seinen Tod aber beklagten alle Geschöpfe, denn mit ihm starb das Licht.
Aus dieser Sage und vielen anderen Erzählungen geht hervor, wie sehr der ursprüngliche, naturverbundene Mensch die einzigartige Sonderstellung dieses Gewächses empfunden hat. Er schrieb ihm in seiner noch von Zauberei und Geisterglauben durchdrungenen Vorstellungswelt magische Kräfte zu. Auch wir können uns ihrem Zauber nicht ganz entziehen.