DIE GLOCKE UNTERM DACH
An der Ahr liegt zwischen den größeren und bei allen Touristen und Weinkennern berühmten Orten Mayschoß und Altenahr das kleine Dörfchen Laach. Es sind nur ein paar niedrige Häuser, die bescheiden am Straßenrand stehen und, den Rücken an eine steile Felsenwand gelehnt, still und gelassen das Leben betrachten, das namentlich im Sommer allzu bunt und oft genug allzu übermütig an ihnen vorbeiflutet. Und das, was in diesen Häuschen lebt und webt, ist auch nichts Besonderes: Winzernot und die ewige Hoffnung auf einen reichen, vollen Herbst, der allen Schulden ein Ende macht. Dazu im Frühjahr, wenn hoch oben in der Eifel der Schnee zu schmelzen beginnt, die Angst vor dem Hochwasser der“ Ahr, das wie ein böses Verhängnis rasch und plötzlich kommt, die bangen, aufgeregten Nächte durchtost und durchschreit und ungeheure Mengen schmutziggelben Wassers über Wiesen und Felder, durch die Weingärten der niederen Hänge und durch die Gassen der bis in den Tod erschrockenen Dörfer wälzt. Überall an der Ahr, selbst im Tunnel von Altenahr, zeigen weiße Markierungsstriche an, wie hoch das Wasser gestanden hat, und unter dem Standbild des hl. Nepomuk auf der Recher Brücke ist ein Spruch zu lesen, dessen schlichtes Flehen in dem engen und tiefen Tal viel eher dem Heiligen des Wassers, das ihn nicht untergehen ließ, als dem Heiligen der Beichte gilt:
Vor bösen Zungen und Wassergefahr
Sankt Nepomuk uns immer bewahr‘!
Laach liegt nicht weit von Rech, und der Wanderer, der ein so inniges Verhältnis zur Landschaft gefunden hat, daß sie ihm nicht nur ihre Schönheit zeigt, sondern ihm auch die Nöte ihres innersten Herzens offenbart, wird bald gewahr werden, daß hier, wo die Ahr, gehemmt durch den Felsen der merkwürdigen Gucklay, einen weiten Bogen und Umweg macht, ein Hochwasser geradezu schrecklich und verheerend sein muß.
In Laach sind keine weißen Markierungsstriche. Es hat nicht wie das weiter aufwärts gelegene Dörfchen Schuld ein Massengrab, dessen Hügel nur ein armseliges Sinnbild der großen Welle sind, die eine ganze Reihe junger Menschenleben in ihren Strudel und Wirbel riß. Aber Laach hat seine Glocke, von der es talein und talaus heißt:
En Laach
Hängt de Glock onnerm Daach.
Ponsart: Idyll an der Guckley – In der Ferne Mayschoss und Saffenburg
Keine Kirche, keine Kapelle hat Laach, aber dicht unter dem Giebel des ersten Häuschens hängt die Glocke, die immer noch zum Angelus ruft, als hinge sie noch in dem Glockenstuhl einer Kirche. Wie seltsam ist ihr Klang, wie traurig, wenn er an den frühen Winterabenden den Wind durchhallt und wie ein verirrter Vogel von Felsenwand zu Felsenwand flattert! Wie tröstlich, wenn er immer wieder aus dem Rauschen des aufgewühlten und aufgepeitschten Wassers heraus tönt und dem Fremdling die sichere Straße leitet!
Nur wenige wissen die Geschichte dieser Glocke. Den meisten scheint sie ein Findling zu sein, über dessen Woher sie sich nicht den Kopf zerbrechen. Selbst der Dichter Gottfried Kinkel, der in seinem Ahrbuch so vieles von der Ahr zu erzählen weiß, geht achtlos an ihr vorüber. Von Laach weiß er nichts zu sagen, als daß es unbedeutend sei. Mehr als hundertmal stand ich vor dem kleinen Hause in Laach und betrachtete die Glocke unter dem Giebel. Ich höre sie allerwegen schwingen und klingen. In das leise Singen meines Blutes fällt der Klang, auch wenn sie für andere stumm ist. In den Ungewissen, aufrührerischen Nächten der ersten Frühlings, wenn der warme Talwind die Wege zu den verschneiten Eifelhö’hen hinaufklettert und Fichten und Tannen ihr weißes Gewand von sich tun, höre ich ihr Rufen und Warnen.
Vor langen Jahren hing sie in dem kleinen Türmchen der Laacher Kapelle, läutete Glück und Freude, läutete Schmerz und Weh über die armseligen Häuser und über die wenigen Menschen, die sich tagsüber in den Weinbergen abrackerten und mühten und sich abends hinter ihrem Glase Wein froh und glücklich priesen. Bis die Nacht kam, wo das Raubtier von den Bergen sprang, wo in Rinnen und Rinnsalen die Wasser rauschten und die kleine Ahr zu einem wilden Flusse anschwoll. Die Frühlingsnacht, die dem Regiment eines allzu langen und allzu harten Winters ein schreckliches und grausiges Ende bereitete, in Laach war niemand wach, übermüdet schliefen sie alle. Nur sie, die Ahne, saß, als ob sie den Tod erwarte, in ihrem Bett aufrecht und lauschte mit großen Augen hinaus in den Sturm und den tollen Wirbel dieser unheimlichen Nacht. Sie kannte dieses Brausen und dieses Rauschen, das näher und näher kam, unterging und wieder aufbegehrte, als wollten Teiche und Mühlenwerke überlaufen. Sie kannte dies;: Glucksen, das aus dem Innern der Berge zu kommen schien und nun zischend um das Haus schlich. Die Pfosten bebten, und klapp-klapp lief über das Schieferdach ein vielfüßiges Schlurfen und Getrappel. Da sprang die Ahne auf und, mehr vom Sturm als von ihren mageren Beinen getragen, fand sie den Weg in die Kapells. Da, der Strang der Glocke! Als gerade ein „Wind durch die Luken und Schalllöcher fegte und ihn hin und her schaukeln ließ, griffen ihn die tastenden Hände der Greisin. Ein Gewimmer stöhnte und heulte auf, ein gellender Ruf schrie in die Finsternis der Nacht, schrie und schrie. Die Alte läutete und läutete, dann sank sie auf die Fliesen nieder und glaubte, inmitten des Tobens der Elemente eines gottseligen Todes gestorben zu sein, Im Dorf aber klirrten die Fenster, und die Türen sprangen auf. Abgerissene Stimmen und Laute wehten wie Fetzen hierhin und dorthin.
Die Laacher flüchteten, von der Ahne geführt, den Berg ‚hinauf. Die Füße bluteten von den scharfen Steinen, die Knie stießen sich im Dunkel wund an den Weinbergstreppen. Brüllend und verängstigt drängte das Vieh nach. Hoch oben, am überhängenden Grat des Berges, erwarteten sie zitternd und betend, vom Regen triefend und vom Sturm durchfroren, den Morgen. In der Tiefe rauschte und gurgelte das Wasser. Ein Meer wogte und bedrohte die Insel. Fahl und zögernd kam der Tag. Um die Häuser von Laach trieb die schmutzige Flut, lief in Keller und Stuben und warf die Mauern hohnlachend um. Zuletzt sank die Kapelle. Der Glocke Wehgeschrei verstummte im mitleidlosen Schwall der Wellen.
LAACH BEI MAYSCHOSS
Haus mit der Glocke der 1804 durch Hochwasser zerstörten Kapelle Foto : Kreisarchiv
Die Laacher bauten ihr Dorf wieder auf, ärmer und kleiner, als es je gewesen. Für eine Kapelle langte das Geld nicht. Steine und Balken waren fortgeschwemmt. Aber die Glocke gruben sie aus all dem Schutt und Geröll und hingen sie unter den Giebel des ersten Hauses, das neu erstand. Sie ruft zum Angelus, als hinge sie hoch m dem Glockenstuhl einer Kirche.
Mir läutet sie immer, lauter als die Klage ‚um Vater und Ahn läutet sie. Denn die Greisin, die sie in jener unheilvollen Nacht mit ihren alten Händen, von denen der harte Strang die welke Haut in Fetzen riß, läutete, war aus dem Geschlecht, in dessen Kette auch ich ein Glied bin. Wer weiß es in Laach, wenn ich als einsamer Wanderer sinnend vor der Glocke stehe? Wer weiß, wie mir das Herz schwillt und hinüberdrängt zu der tapferen alten Frau, die ein ganzes Ahrdörfchen aus verderbenbringenden Fluten rettete? Ihr Andenken ist vergessen. Sie fand nicht, wie Johanna Sebus, einen Goethe, der es für ewige Zeiten verherrlichte. Ein später Enkel hütet es und bewahrt er wie ein köstliches Vermächtnis.
Aus: Heinrich Ruland „Land der Maare“, Erzählungen und Gedichte. Are-Verlag, Ahrweiler Rhld.