Die Geschichte vom Hirten, die ihr alle noch nicht kennt

VON HERMANN OTTO PENZ

In jener Nacht, in der Gott sich unserer Welt erbarmte, hatte der Kaufmann Atalja aus Jarim im Lande Judäa lange einer verspäteten Karawane entgegengewartet, die ihm von Joppe in der Ebene Saron hetauf durch das flachwellige, schluchtenreiche Hochland mancherlei kostbare Ägypterware bringen sollte. Als sie sich endlich nach Mitternacht durch die Flüche und Schreie der Kameltreiber schon von weither anmeldete, schmunzelte Atalja, denn er hatte schon Schlimmes gefürchtet, weil die vom Kaiser Augustus befohlene Volkszählung auch . allerlei lichtscheues Gesindel auf die Wanderschaft getrieben hatte. Er strich sich seinen borstigen Bart und überschlug die jetzt auf den Rücken der müde trottenden Kamele wippenden Bündel und Ballen, fuhr die trägen Treiber barsch an und musterte streng die bewaffnete Begleitung. Sodann befahl er schneidend die Entlastung der Tiere und deren sofortige Versorgung. Seine im Hause wachgehaltenen Diener und Knechte aber machten sich unter seiner Leitung sofort an das Ordnen und Umpacken der Warenbündel, die sich im Hofe zu Bergen türmten. Denn dies muß man wissen: Atalja war ein Kaufmann, der nicht gern Ware unbewegt wie faul oder tot herumliegen sah, Ware mußte möglichst schnell wandern und Besitzer wechseln, dann segnete sie seine Hände. Und wie konnte man überm Gähnen der knurrigen Knechte vergessen, daß der Kaiser durch seine schrullige Schätzung das ganze Volk zu Fahrenden gemacht hatte und deshalb das Geld in diesen Tagen auf der Straße lag, wenn man sich nur recht bückte, um es zu raffen. Schon morgen sollten bei aufgehender Sonne seine sieben Eselkolonnen das kostbare Gut, das gestern erst in Joppe über den Laufsteg an Land gebuckelt worden war; zu den sieben Schätzstellen der Umgebung tragen, um‘ dem Wahlspruch Ataljas Ehre zu machen: „Seht, ob ihr auch hastig lauft, hat Atalja schon verkauft!“ Während er sich so sein Schätzgeschäft ausmalte und mancherlei Zahlen tanzen ließ in seinem kühnen Kopf, fielen ihm einige hastende Hirten auf, unter denen er Zimri, den Schäfer seines Freundes Jehu, erkannte; und weil er wußte, daß Zimri nie ohne wichtigen Grund Herde und Hunde verließ und er ihn noch gestern an der Straße nach Ajalon bei seinen Schafen gesehen, dachte er bei sich: „Was ist das für eine wunderliche Nacht, in der die  Hirten die Herden verlassen und durch das Land laufen!“ Mehr aus Sorge um die schutzlosen Tiere Jehus als aus Neugier läuft er fort von Ballen und Bündeln, aus dem Licht des Hofes in das Dunkel der Gassen und Gärten. Er ruft Zimri und seine Gesellen an, er läuft, schreit, stolpert, hastet und droht – endlich hat er die eiligen Stummen erreicht. Da gewahrt er, daß Zimri ein Lamm unterm Umhang birgt, er sieht Wolle und Käserollen, frisches Fleisch, duftendes Heu und schafwarme Milch in den Händen der Genossen; und einige haben Flöten und Schalmeien dabei. Aber bevor er fragen kann, deutet Zimri, der Hirt Jehus, auf einen großen, blendenden Stern und sagt nur dies: „Atalja, der steht überm neugeborenen Königskind.“ Dabei leuchtet Zimris Gesicht wie das neue Sternwunder über ihm; und Atalja, der in tausend Reisen, in tausend Sternennächten zwischen Damaskus und Askalon, Caesarea und dem Gebirge Abarim die samtene, dunkelblaue Himmelsglocke voller glitzernder, wegweisender Sterne beobachtet hat, Atalja, der sich und seine Karawanen nach dem berechenbaren gesetzmäßigen Lauf der Gestirne zu richten gewohnt ist, erschaudert vor dem Zeichen des Himmels, das unbekümmert um die unverrückbaren Gesetze seine Bahn zieht, allen Wachenden sichtbar.

Während er voller Furcht sein entsetztes Gesicht in seinen Händen bergen will, trifft sein Blick die leuchtenden Augen Zimris, der ihm mit weit ausgebreiteten Armen entgegenkommt: „Fürchte dich nicht, dies ist der Stern der Freude, nicht der Stern der Furcht, eile mit uns, um das zu schauen, was uns verheißen ist.“ Und während er mit ihnen übers Land der Dornen und Disteln dem Ziele zuwandert, versinken Ballen und Bündel, Kamele und Kisten, Haus und Hof.

Atalja, der sich rühmte, nie mehr als tausend Schritte gegangen zu sein, er reitet nicht, er hastet mit den Hirten nach Osten, weil er den Stern gesehen hat, der die Menschen verzaubert.

Als gegen Morgen der Stern über Bethlehem stillesteht, gießt er all seine Lichtflut aus auf jenen Stall; der ihnen gewiesen wird. Da gewahren sie auch um die geöffnete Tür ein Geraune und eine Bewegung, ein Kommen und Gehen, ein Hin und Her: Alle hat sie die Botschaft dieser Nacht erreicht, alle, die wachten bei ihren Herden, alle die Hirten aus dem Gebirge Juda, aus den Bergen Ephraim, aus Galiläa und der Ebene Jezrae, von den Wassern des Jordan und den Quellen bei Lydda stehen und sehen, fallen nieder und küssen die Füße des Kindes.

Für Atalja öffnen sie eine Gasse; und dann sehen sie, wie Atalja vor Freude weint und wie in seinen Zügen der alte Atalja, der ein reicher Kaufmann war, stirbt, und ein neuer Atalja, der einer der Ihren ist, geboren wird, und dieser neue Atalja, geboren aus der Lichtflut des Wunders göttlicher Liebe, legt dem Kind nun einen Lederbeutel in die Krippe: Zuerst meinen alle, es sei nur ein Beutel voller Goldstücke, aber dann wissen sie, daß er auch sein Herz mitgegeben hat, denn, sich aufrichtend von dem Kinde, umarmt er Zimri und sagt nur: „Bruder, lieber Bruder!“ Da lächelt das Kind und segnet die beiden, denn jedesmal, wenn dieses eine Wort gesprochen wird, ist ein Hirte geboren, und Hirten hat das Kind besonders gern.Content-Disposition: form-data; name=“hjb1964.31.htm“; filename=““ Content-Type: application/octet-stream