Die Eiche mit dem Muttergottesbilde

im Maibachtale

Von Jakob Rausch

Unsere so mannigfaltige und lehrreiche Heimatgeschichte ist umrankt von einem Kranze geschichtlicher Sagen, die vom Volk als volkhafte Dichtung geformt und den kommenden Geschlechtern weitererzählt wurden.

Dieses wertvolle Volksgut ist nach Jakob Grimm für das Volk geradezu das Tor, das geschichtliches Interesse und Verständnis erschließt und zur eigentlichen Geschichte führt. In jeder geschichtlichen Sage ist durchweg ein geschichtlicher Wahrheitskern vorhanden. So hat nachstehende Sage als geschichtlichen Hintergrund die Tatsache, daß der letzte Besitzer der Burg Neuenahr als Raubritter ein Schrecken des Ahrtales war, bis die Ahrweiler Bürger im Jahre 1372 die Burg belagerten, eroberten und zerstörten. Zur Ehre der edlen Grafen von Neuenahr sei aber betont, daß dieser Raubritter einer Nebenlinie der Grafen von Neuenahr, denen von Neuenahr-Rösberg, entstammte.

Er setzte sich unrechtmäßig in den Besitz der Burg Neuenahr und geriet so in einen langjährigen Erbschaftsstreit mit seine Cousine Katharina, der letzten Gräfin von Neuenahr, die den Herrn von der Saffenburg geheiratet hatte, wodurch die Herrschaft Saffenburg mit der Grafschaft Neuenahr verbunden wurde. In diesem Erbschaftsstreit entwickelte sich Johann von Neuenahr-Rösberg allmählich zum Raubritter, bis die Ahrweiler Bürger ihm das Handwerk legten. Seit dieser Zeit ist nie mehr ein Raubritter im Ahrtal aufgetreten.

Drei Kilometer westlich der Ruine Neuenahr steht im lieblichen oberen Maibachtale, an dessen unterem Ende das Kloster Kalvarienberg liegt, am Waldrand auf einer Wiese eine alte ehrwürdige Eiche, zu deren Fuß eine Quelle ein kleines Brünnlein bildet. Die Eiche aber selbst birgt in einem halboffenen Schrein ein Muttergottesbild; darum wird die Eiche in alten Urkunden auch die „gebildete Eiche“ genannt. Um diese Eiche und die Burgruine Neuenahr rankt sich folgende Sage:

In einer lieblichen Maiennacht ging ein Jüngling von Staffel nach Ahrweiler. Als er über den Staffeler Sattel in den Buchenwald des Maibachtales gelangte, herrschte im Walde eine geheimnisvolle Stille. Es schwieg der Wind in den Baumwipfeln, das Rufen des Käuzchens war verstummt, und der Schlag der Nachtigall drang aus dem Wiesentale nicht bis zur Bergeshöhe. Behutsam, fast andächtig, schritt der Jüngling auf gewohntem Pfade, den das Mondlicht ihm erhellte. Da plötzlich hört er eine klagende menschliche Stimme, und als er awflauschte, gewahrte er eine weiße Gestalt, die auf ihn zuschwebte. Da erkannte er in der Gestalt eine Jungfrau im weißen Gewände. Sie sprach zu ihm: „Jüngling, folge mir!“ Wie gebannt, aber furchtlos, folgte der Jüngling der edlen Gestalt. Sie führt ihn talwärts, wo am Wald- und Wiesenrand eine alte Eiche stand, an deren Fuß eine Quelle entsprang. Hier unter dieser Eiche mit dem Brünnlein teilte die Jungfrau im weißen Gewande ihm folgendes Geheimnis mit: „Jüngling, ich bin die Tochter des letzten Grafen auf der Burg Neuenahr. Da mein Vater ein Raubritter und der Schrecken des Ahrtales war, muß ich für seine Sünden büßen. Und meine Buße ist hart und lang. Denn ich muß immer in diesem Brünnlein unter der Eiche als verwünschte Jungfrau in Froschgestalt leben. Nur in der Maiennacht löst sich der Zauber, dann darf ich im Walde Ausschau halten nach einem edlen, tapferen Jüngling, der den Zauber brechen kann. Aber nur der Jüngling kann mich erlösen, der an einem Sonntag geboren, in einer Wiege lag, deren Holz von dieser Eiche stammt und ein reines, braves Menschenkind ist. Du erfüllst alle drei Bedingungen. Darum kannst du mich erlösen, wenn du willst und den Mut dazu hast. Den Zauber brechen kannst du aber nur in der Geisterstunde der Johannisnacht. Dann mußt du um zwölf Uhr hier unter der Eiche sein. Im Brünnlein sitze ich als Frosch. Im Munde halte ich einen goldenen Schlüssel. Den mußt du mit deinen Lippen durch einen Kuß an dich nehmen. So bin ich entzaubert und stehe als Jungfrau vor dir. Dann ist mein und dein Glück sicher! Jüngling, willst du mich in der Johannisnacht erlösen?“

Aufmerksam und mitleidsvoll lauschte der Jüngling der Jungfrau, und gern und freudig antwortete er: „Jungfrau, ich will und werde dich erlösen.“

Dann nahm der Jüngling Abschied von der Jungfrau und der geheimnisvollen Eiche. Unten im Tale wartete er mit Sehnsucht auf die Johannisnacht. Und als die Mondsichel sich wieder zum Vollmond füllte, da war die Johannisnacht da. Frühzeitig vor Beginn der Geisterstunde trat der Jüngling den Weg zur Eiche an. Schon von weitem sah er ein Leuchten des goldenen Schlüssels. Klopfenden Herzens näherte er sich der Eiche. Richtig, im Brünnlein saß der Frosch mit dem goldenen Schlüssel im Munde. Da schlug die Glocke der Ahrweiler Stadtkirche die zwölfte Stunde. Rasch bückte sich der Jüngling, um durch den Kuß die Jungfrau zu erlösen. Als er aber sein Antlitz dem Frosch näherte und er genau das schleimerfüllte Maul des Frosches gewahrte und einen kalten Hauch verspürte, da ekelte es den Jüngling. Hastig und unüberlegt sprang er auf und stieß das verhängnisvolle Wort aus: „Ich kann es nicht!“ In demselben Augenblick erlosch das Leuchten des goldenen Schlüssels, und ein Donnerschlag ertönte, und ein Windstoß fuhr durch die stöhnende Eiche. Entsetzt wollte der Jüngling dem geheimnisvollen Orte entweichen. Doch eine gebietende Stimme rief: „Feigling, bleibe stehen!“ Da stand vor ihm im Mondenschein am Brunnenrande unter der Eiche die Jungfrau im schwarzen Trauergewande. Bitterlich klagend, sprach sie: „Jüngling, warum hast du mich nicht erlöst? Es wäre dein und mein Glück gewesen. Siehe, mit dem goldenen Schlüssel konntest du die verborgenen Keller- und Schatzgewölbe in den Ruinen der Burg Neuenahr öffnen. In den Räumen hättest du die ungeheuren Schätze gefunden, die mein Vater den Kirchen, Klöstern und Bewohnern des Ahrtales geraubt hat. Diese Schätze mußtest du in drei gleiche Teile zerlegen. Der erste Teil sollt den Armen, der zweite Teil den beraubten Klöstern und Kirchen und der dritte Teil dir gehören. Ich liebe dich, und hättest du um meine Hand angehalten, so hätte ich sie dir gegeben, weil mein Herz seit jener Maiennacht schon dir gehört. Nun muß ich weiter als Frosch verzaubert leben, noch lange, lange — bange, bange! Denn als eben der Windstoß durch die Eiche fuhr, entfiel eine vorigjährige Eichel einer Astritze, und diese Eichel muß in der Erde keimen und zur Eiche werden. Aus diesem Eichbaume muß ein Schreiner eine Wiege zimmern; in dieser Wiege muß ein Sonntagsknäblein liegen; das Sonntagskind muß auch als Jüngling seine kindliche Unschuld bewahren und in der Maiennacht durch den Buchenwald wandern. Dann werde ich den braven Jüngling wieder um Erlösung bitten, so wie ich dich so innig und so sehnsuchtsvoll bat! Wird er auch im letzten Augenblick mutlos verzagen? O, ich muß nun wieder warten, lange, lange — bange, bange! Jüngling, lebe wohl!“ Bei diesem Worte verschwand die Jungfrau, und im trüben Wasser verbarg sich ein Frosch im Schilfgrase.

Tiefbetrübt und traurig ging der Jüngling nach Hause! Er mied das frohe Spiel und die scherzenden Kameraden. Auch bei der Arbeit wurde er nie mehr froh. Da schnitzte er aus Eichenholz ein Muttergottesbild und stellte es in die Eiche. Und jeden Sonntag ging er einsamen Weges zur Eiche und betete: „Maria, du Himmelskönigin, du Trösterin der Betrübten, du Hilfe der Verbannten, hilf du dem verzauberten Menschenkinde aus Not und Bann, da ich es nicht vollbrachte, obwohl ich die Macht dazu hatte!“ Dann ging er wieder traurig nach Hause und ist seines Eebens nie mehr fro’h geworden.

So weit die Sage!

Ein Vergleich mit der bekannten Sage vom „Goldenen Pfluge“, die ja auch von der Burgruine Neuenahr handelt, drängt sich auf. Bei beiden bleibt der Besitz des Goldschatzes verwehrt. Aber das Ehepaar in der Sage vom „Goldenen Pflug“ bringt es durch Arbeit und Gebet zu Wohlstand, Zufriedenheit und Glück!

Durch unsere Sage geht ein pessimistischer Zug; die Sage nimmt einen traurigen Ausgang, und die Erlösung wird in die weiteste Ferne gerückt..

Sie spiegelt die Stimmung der Ahrbewohner in der Entstehungszeit der Sage wider. Die „gebildete Eiche“ wird im Jahre 1712 zuerst erwähnt. Vorbei waren die Schrecken des 30jährigen Krieges, der Pestzeit und der französischen Raubkriege. Ahrweiler lag durchweg noch in Schutt und Trümmern. Dabei wütete schon über zehn Jahre der Spanische Erbfolgekrieg im Lande. Da wurde das Volk fast hoffnungs- und mutlos, da es so lange, lange — bange, bange auf Frieden und Wohlstand warten mußte. So ist uns die Sage ein Zeitspiegel der ersten Zeit des 18. Jahrhunderts. Aber bald kam doch der Friede, und ein neues Ahrweiler entstand aus Schutt und Trümmern, und neues Leben blühte aus den Ruinen.

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