Die alte Spieluhr

VON CARL LANGE

Oft ist es ein Lied, ein unscheinbares Erlebnis, ein kleines Bild, das unsere Seelen am tiefsten beglückt und uns unvergeßlich in Erinnerung bleibt. So war es für mich die alte Spieluhr aus der Großväter Zeiten. In ihrer schlichten Melodie ist der zarte, zu Herzen gehende Ton enthalten, der lange nachklingt und vergangene Zeiten wachruft . . . Da ich als Knabe schon den geheimnisvollen Klängen lauschte und das alte Instrument, das fast vergessen war, liebte, schenkten es mir meine Eltern. Keine größere Freude konnte mir widerfahren. So wurde die alte Spieluhr mein ständiger Begleiter. Kindheit und Jugendzeit waren mit ihr aufs innigste verknüpft. Eines meiner ersten Gedichte widmete ich der alten Spieluhr als Dank für all das Schöne, das sie mir in stillen Stunden schenkte.

In meinem Zimmer hab‘ ich
ein altes Instrument,
das nur ein allbekanntes,
ein einzig Liedlein kennt.
Und doch hör ich so gerne
das einz’ge kleine Lied,
weil dann vergangene Zeiten
mein sehnend Auge sieht.
Und weil ein tiefer Friede
das alte Bild verschönt,
und aus dem Lied die Sprache
der lieben Mutter tönt . . .

In leidvollen Zeiten war ihr Lied lindernder Trost und in frohen Zeiten besinnliche Mahnung. Das alte Instrument wanderte vom Meeresstüblein an der See zum trauten Kämmerlein in der Großstadt und hin zum selbstgebauten Bunker im Weltkrieg. Immer und immer war es ein Gruß der Heimat in der Fremde. Als ein Volltreffer unser Quartier vernichtete, hatte die Spieluhr noch, hervorgerufen durch die Erschütterung, ihr leises Lied gespielt. Unter Schutt und Geröll fand ich sie völlig unversehrt. Wie einen lieben Freund nahm ich sie in meinen Arm, und — welch ein Wunder! — die vertraute Melodie erklang durch den verwüsteten Raum . . .

Schon am frühen Morgen ertönte ihr Lied, das uns immer vertrauter wurde und das den müden, nach Ruhe sich sehnenden Seelen ein Gefühl der Verbundenheit mit der Heimat gab. Sprach zu uns nicht das tiefe Schweigen der Lauschenden mehr als viele Worte? Zauberte nicht das Lied glanzumsponnene Bilder der Erinnerung vor das Auge? Und immer begleitete mich die alte Spieluhr, wohin mich das Schicksal auch führte. Ihr Klang umgab mich in stillen Schaffensnächten wie das Ticken der Uhr aus dem Hause meiner Eltern, das ich von Kindheit an gehört hatte und nie vergessen konnte . . . War es nun nicht mit den eigenen Kindern das Gleiche geworden? In stillen Feierstunden umstanden sie meinen Schreibtisch. Ihre bittenden Augen sahen auf die alte Spieluhr und erstrahlten, als die ersten Töne des Liedes erklangen. So blieb sie Freundin, Trösterin, Beglückerin zu allen Zeiten, ein Bindeglied von den Großeltern bis hin zu den Enkeln. Andächtige Stille erfüllte den Raum. Die Seelen waren ergriffen, wenn die letzten Klänge des Liedes leise verhallten. Wann wirst Du einmal den letzten Ton der alten Spieluhr hören? — — — In wessen Hände wird sie einst gelegt? Darf sie noch künden von sorgsamer Hut und pflegender Liebe, von dem reichen Erleben, das ihr geschenkt? Nun ist die Spieluhr ein Opfer des zweiten Weltkrieges geworden. In meinem Herzen und Ohr ist ihr Klang geblieben, und unvergessen steht vor mir der Augenblick, als ich sie einst von den Eltern empfing. Der Segen, den sie gebracht hat, wird er nicht auch weiter wirken? Und Du, Mutter, die Du die Kraft Deiner Liebe dem alten Instrument schenktest, laß das alte Lied nie in meiner Seele verklingen; es wird weiter sein ein Segen, ein Schutz, der das Gefühl des Geborgenseins gibt in der Sprache der Herzen, die keiner Worte bedarf, die zum Klang, zum Ton, zum Lied wird:

„UND AUS DEM DIE SPRACHE DER LIEBEN MUTTER TÖNT . . .“