Der Tod des Pontius Pilatus
EIFELNOVELLE VON ERNST KARL P L A C H N E R
Tullius Maximmus, der Oberbefehlshaber der nach Gallia belgica kommandierten römischen Truppen, hielt das Schreiben seines Freundes Pontius Pilatus in Händen und las:
„Pontius Pilatus grüßt seinen Freund Tullius Maximinus! Mögen die Götter Dir holder gesinnt sein, als sie es mir sind! Procia, mein Weib, ist mir mehr als gestorben: sie trat zur Sekte der Christen über. Ich selbst bin vor dem Thron des göttlichen Cäsar in Ungnade gefallen. Schenk mir die Gunst, in Deinem Landhaus am Gebirgssee neue Ruhe und Kraft zu suchen! Mögen die Götter sie mich finden lassen und Dich für Deine Freundschaft mit Ruhm überhäufen! Ich schicke den Brief durch einen eiligen Boten voraus, bin aber selbst schon aufgebrochen, wenn Du ihn erhältst. Heil Dir und mir, edler Tullius Maximus!“
Pontius Pilatus?, sann der Befehlshaber. Er hatte davon gehört, daß er nach seinem Amt in Palästina aus seiner einst aussichtsreichen Laufbahn geschleudert worden sei. Wann und warum, wußte er nicht. Um so mehr erinnerte er sich der gemeinsamen Dienstzeit. Sie wurden Kameraden und Freunde. Pilatu9 trat in den Verwaltungsdienst über, er selbst blieb Soldat . . . So, da mußte er wohl helfen! Selbstverständlich! Ob sein Landhaus am Bergsee wohl richtig war? Der Brief des alten Freundes machte einen seltsamen Eindruck. Irgendwie krank. Morbid. Zertrümmert.
Das paßte zum Bild des Pilatus nicht. Der war ein harter Kerl in seinen Dienstjahren gewesen. Damals hatte er ihn zwar hin und wieder in Verdacht, daß er mit der Stoa liebäugele. War eine verrückte Sekte, von Griechen importiert. Man hätte sie verbieten sollen und die Kerle aufhängen. Statt dessen war sie weitverbreitet.
Er hielt von alledem nichts. Der oberste Gott war der Cäsar. Alles andere ergab sich daraus von selbst. Wer dem Cäsar trotzte, lehnte sich gegen die Gottheit auf und wurde zerbrochen. So wie der göttliche Gaius Julius eben in diesem Gallien, darin er einer der führenden Kommandeure war, vor rund hundert Jahren die Priesterführer der Kelten erledigt hatte.
Er dachte, den Brief bald in der rechten, bald linken Hand wiegend, über den einstigen Waffengefährten nach. Ja, da wußte er es wieder, wie der manchmal — aber doch so, daß er es nicht vergaß — nach den Göttern, der Wahrheit fragte. Das schon hielt er für morbid. Ja, morbid, an einer Ecke, das war Pilatus schon damals! Dieses Fragen nach den Göttern und der Wahrheit, das eine wie das andere taugte nichts. Es mußte weiter in ihm gefressen haben; denn sonst wird so ein Kerl wie der doch nicht krank!
Aber vor allem dieses verfluchte Suchen nach Wahrheit! Es hatte Tullius Maximinus in jungen Jahren schon aufgeregt. Und jetzt stand eine Szene ganz deutlich vor ihm: sie lagen eines Abends vorm Zelt und tranken. Da kam dieser Pilatus wieder mit seinem philosophischen Unsinn und bohrte, als ob es eine Quelle zu erbohren galt: Was ist Wahrheit? Als er ein paarmal mit diesem Gewäsche gekommen war, kippte er ihm eine Kanne Wein über den Kopf und ging ins Zelt. Sie hatten zwar nie mehr solche Gespräche, aber das mußte in ihm weiter gefressen haben. Und nun war es so weit. Er war reif für seinen Bergsee.
Bei den oberen und unteren Göttern! Ich will ihn schütteln, wenn er kommt, und ihm noch eine Kanne Wein übergießen! So ein begabter, tüchtiger, verrückter Kerl! Was mochte denn bloß in Palästina losgewesen sein? Beim Mars, mit dem bißchen Juden war doch fertig zu werden! . . . Ach so, die Procia, seine Frau! Hm, hm! Was war sie geworden? Christin? Auch so eine Sekte! Erst die Stoa, die ihn verrückt machte, dann die Christen, die sein Weib verrückt machten!
Wohin kommst du, Rom, wenn es so weiter geht! sagte er halblaut zu sich und zerknüllte den Brief.
Dann entschloß er sich, in seiner Villa am See selber alles vorzubereiten. Es ging zum Frühjahr. Da war ohnehin die Zeit gekommen, alles zu ordnen. Die gröbste Arbeit war schon getan. Nun wollte er selbst hinauf. Wahrhaftig, die herbe Luft, das herbe Wasser, das herbe Land, — vielleicht half das dem Freund mehr als alle Therapeuten Roms.
Er übergab das Korhando dem Adjutanten und reiste.
Maximinus war noch keine drei Tage oben, da traf Pilatus schon ein. Sie hatten sich viele Jahre nicht gesehen, aber die alte Waffenbrüderschaft bewährte sich. Maximmus faßte ihn, der noch staubig und feucht vom Ritt war, — denn Pilatus wollte schnell zum Bergsitz des nie vergessenen Freundes — mit beiden muskelfesten und wettergebräunten Armen und rüttelte und schüttelte ihn in echter, aus den klaren Augen blitzender Freude: „Beim Jupiter und seinen Göttern, sofern noch einige davon übriggeblieben sind!“ rief er mehr als er sprach, „Pilatus, alter Junge, daß wir uns überhaupt und hier wiedersehen!“
„Danke ich deiner Großmut!“ war die Antwort.
„Gut! Gut!“ wehrte Maximinus ab und suchte, wie ein Feldherr die Stellungen des gegnerischen Heeres beobachtet, im Gesicht des Freundes zu lesen. Das war auch braun, doch unter der Bräune war ein fahles Grau. Das Spiel der Augen flackerte unstet, und die im ersten Wiedersehensfeuer gestrafften Arme und Hände griffen jetzt hier und dort am Gewand umher, als suchten sie, ohne zu wissen, was sie suchen sollten.
Am Totenmaar in der Eifel
Foto: J. Alex Klein
Morbid! Zertrümmert! durchzuckte 69 das Hirn des Kriegers, der laut sagte; „Komm! Du bist müde vom Ritt! Die Sklaven haben das Warmbad bereitet! Im See ist es zu kalt für einen Palästinenser! Ich bade hin und wieder auch im Winter drin!“
Dabei zeigte er ihm am seewärts abfallenden Hang die gemauerte Treppe, die vom Landhaus unter den Wasserspiegel führte.
„Palästinenser!“ wiederholte der Gast und preßte die Lippen zusammen. „Wäre ich bloß nie in dieses Judenland gegangen!“
„Na, also doch!“ nahm Maximinus es mutig und fast mit ein wenig Heiterkeit auf — doch war in dieser Heiterkeit etwas von dem Helferwillen gegenüber einem kranken, vielleicht sehr kranken Menschen. — „Also doch! Ich habe es mir so gedacht! Doch das kommt später! Was es auch sei, mein lieber alter Freund und Waffenbruder, — hier wirst du gesund, woran du auch erkrankt bist! Alles ist hier anders als in Palästina, anders als in Rom, anders als im ganzen Weltreich der ewigen Roma. Hier wird jeder anders, wie krank er auch sei, und was ihn auch verfolge, quäle oder narre!“
Der Gast hatte sich gesetzt und seufzte. „Oder narre . . .“ sprach er leise, wie vor sich hin.
„Ja, ja!“ lachte Maximinus heiter und ernst zugleich, „das meiste, was uns quält, verfolgt, krank macht, — narrt uns! Narrt uns, sag‘ ich dir!“
„Bis in die Träume?“ fragte Pilatus.
„Bis in die Träume!“, donnerte der Feldherr. „Da sitzt die Narrheit am allerschlimmsten!
Glaub es mir!“
Er saß ihm jetzt gegenüber. Die marsch= und rittgeübten Schenkel standen wie unerschütterliche Säulen auf dem mosaikgezierten Boden. Die Hände ballten sich im Willensspiel des Kommandeurs: „Träume? Was gibt ein moderner Römer noch auf Träume? Wir hocken doch nicht mehr als Sibyllen bei Cumä und jagen uns Angst der unterweltlichen Dämonen ein!“
„Nein, nicht der Unterwelt, Maximinus“, antwortete Pilatus ernst, „vielleicht der Götter, der oberen Götter!“
Maximinus machte eine wegwerfende Gebärde: „Angst der Götter? Das fehlte uns gerade noch, Pilatus! Götter, die uns Angst einjagen, können wir nicht gebrauchen! Darum haben wir die obersten Götter aller Völker im Pantheon gesammelt. Da stehen sie alle. Kreise, weite Kreise! Und in ihrer Mitte steht der Cäsar. Der beherrscht sie. Alle! Angst — das fehlte uns Römern gerade noch, nachdem wir den Erdkreis, furchtlos vor Göttern und Dämonen, zum ewigen Ring zu schmieden unternommen haben!“ „Du bist ein echter Römer, Maximinus!“ sagte Pilatus aus müder Bewunderung. „Und du?“ blitzte Maximinus‘ Wort, wie ein Schwert im Streit aufblitzt. „Bist du kein Römer mehr?“ Dann wurde seine Stimme plötzlich weich. So mochte er schwerverwundete Legionäre nach der Schlacht trösten, wie er jetzt sprach: „Und was für Träume, sag, was für Träume sind so schwer, so furchtbar schwer, daß sie meinen Freund Pilatus vernichten könnten?“
Pilatus nahm die Güte des Wortes, wie ein Verdurstender den Wasserbecher an die Lippen setzt. Sein Blick ging über die Fläche des vor dem Landsitz sich eiförmig zwischen trichterartig fallenden Hängen dehnenden Sees. Dann kehrte er wie aus unermeßlicher Ferne zurück und sank in die kraftflutenden Augen des Freundes: „Proclas Träume zuerst . . . und dann die eigenen …“
„Hm! Hm! Nun ja!“ beschwichtigte Maximinus.
„Aber am hellen Tag!“ rief Pilatus.
„Die Deinen?“
„Arn hellen Tag!“ wiederholte Pilatus und war aufgestanden.
Jetzt stand auch der Freund auf. Er führte den offenbar doch schwerkranken Mann ans Fenster und deutete auf das Bergwasser: „Die Luft, das Wasser, alles hier wird dich gesund machen! Sogar die Menschen! Nachdem Gaius Julius die Eburonen ausgerottet hat, wohnen friedliche Germanen hier. Ich habe eine Helferin von ihrem Stamm im Haus.
Übrigens sind sie hier alle treu zu deinen Diensten! Du kannst vertrauen. Auch wenn ich dienstlich fort bin. Es dauert lange, bis der Frühling kommt. Wir sind im Nordland:
Nebel, Schnee und Eis — daran muß man sich gewöhnen. Aber die Luft, die Erde, das Wasser macht dich gesund, Pilatus! Ich habe mich hier von schweren Wunden völlig erholt. Ich liebe den Bergsitz. Darum habe ich ihn ja gebaut!“
„Gesunden!“ hauchte Pilatus. „Wieder ein Römer werden wie du!“
Der Freund faßte ihn wieder mit beiden Armen, nur merklich behutsamer als zuvor, und fragte nach einem stumm forschenden Blick: „Sag, hattest du unter den Juden Feinde?“
Pilatus nickte. Dann fiel es schwer von seinem Mund: „Viele! Viele! Das ist es ja! Das war ja mein Verderben! Bis nach Rom haben sie mich verdächtigt!“
Ganz langsam, Wort für Wort sprach Maximinus da aus, was jäh in ihm aufgestiegen war: „Die Juden haben dich vielleicht vergiftet!“
Daran hatte Pilatus noch nicht gedacht. Vergiftet? Ja, etwas fraß in ihm. Hörte nicht auf.
War immer in ihm, wie die Luft immer da ist, die uns umgibt. Gift? War das Gift? Dann gäbe es vielleicht noch eine Hoffnung für ihn. Und wenn es keine gab, so gab es doch eine Erklärung für seinen Untergang. Und einmal wenigstens hätte er die Wahrheit gewußt. Wenigstens die Wahrheit über seinen Tod.
„Maximinus!“ sagte er, und in seinen irgendwie vom Schatten schwerer Melancholie und Verzweiflung durchwölkten Augen schimmerte es wie ein allerletzter Funke neuen Hoffens, „Maximinus! Hältst du das für möglich, daß ich vergiftet bin?“
„Ich bin ganz sicher, daß du es bist!“
Da nahm Pilatus den Freund in die Arme und küßte seine Stirn.
Maximinus lachte, wie er lachte, wenn der Feind vor dem Prall seiner Legionäre zu fliehen begann, und rief ins Haus: „Terzinus! Hast du dem Gast das Bad bereitet?“ „Ja, Herr!“ kam gedämpfte Antwort.
„Komm! Komm!“ drängte Maximinus. „Wisch alles ab! Den Staub! Den Schweiß! Nimm alles als gutes Omen! Das Gift wäscht dir die Luft, das Land, das Wasser aus dem Leib! Und tut es not, weiß ich noch einen Therapeuten! Komm, Freund! Hier, hier wird alles gut!“
Am Abend saßen sie beim Mahl. Den schweren südgallischen Wein nippte Pilatus nur. Von der Speise des auf des Hausherrn Geheiß ein wenig festlich angerichteten Mahles nahm er nur ein Nötigstes. Maximinus sagte kaum ein Wort darüber. Er war nun doch erschrocken und erkannte die Symptome einer schweren, wenn nicht lebensgefährlichen Gemütszerrüttung in dem irgendwie hochgeschätzten und auch geliebten Freund. Maximinus war selbst im Innersten kein Barbar. Er las den Klassiker modernen Feldherrenschrifttums, den unvergeßlichen Gaius Julius Cäsar, also den ersten Cäsar der Weltgeschichte, „Über den Krieg in Gallien“, darin die Eroberungszüge durch dieses Land, darin auch er jetzt Kommandeur war, geschildert wurden. Er las auch Livius, den großen Historiker jener Tage. Selbst nach Vergil griff er hin und wieder, wobei er freilich oft den Kopf schüttelte und seufzte: „Ach, diese Dichter!“ Und doch schien es ihn auf unwägbare Weise zu fesseln, was der erst vor einigen Jahrzehnten verstorbene, ruhmvolle Mann aus Erden=, Götter= und Dämonenwelten zu verkünden hatte.
Ein Gespenst aus dem Tartarus, wie Vergil einen Teil der Unterwelt nannte, hat diesen Pontius Pilatus verwirrt, dachte er. Und zugleich sah er, daß eine Ausgabe der „Aeneide“ worin dies und vieles mehr aufgezeichnet war, mit anderen Schriftstellerwerken im Raum lag. Blitzartig, wie er selbst in großen Schlachten höchst gefährliche Befehle wagemutig zu geben gelernt hatte, entschloß er sich auch hier zu einem entscheidenden Wort. Pilatus nippte an einem süßen Gebäck, das die germanische Köchin, die Maximinus hier oben auch das Haus versorgte, nach echt römischem Rezept sehr gut zu backen gelernt hatte, als der Freund den entscheidenden Angriff gegen die Tartarusgeister vortrug. Ruhig und sicher wie im Kampf kamen die Worte von seinem Mund: „Du hast, scheint mir, mein lieber Freund, zu viel Vergilius gelesen! Der Mann war, wie man zu sagen pflegt, von den Göttern gesegnet, doch ist er auch gefährlich. Seine Hadesschilderungen sind so großartig gestaltete Phantasiestücke, daß man sie bei bedrücktem Gemütszustand für wirklich halten könnte.“
Schon aus den ersten Antwortsätzen des Filatus durchschaute er mit der scharfen Beobachtungsabe, die ihm eignete, wie ungünstig sich die Gefechtslage gestaltete. Pilatus lächelte nur müde und sagte: „Nein! Nein! Das ist es ja, Maximinus, was kaum einer versteht, was du aber, so hoffe ich, verstehen wirst: es sind keine Phantasiestücke! Es muß so etwas wie einen Hades geben. Und es muß diesen finstersten Abgrund im Hades geben, den sie Tartarus nennen. Ich habe gehört, daß die Christensekte, die sich nach dem Tod dieses seltsamen Mannes, den ich habe kreuzigen lassen, gebildet hat, auch eine solche Unterwelt lehrt, die sie nur anders nennen — nämlich Hölle!“ „Und das soll es in Wahrheit geben, meinst du?“ staunte der Feldherr, nicht entsetzt vor der Hölle, an die er ebenso wenig glaubte wie an den heidnischen Hades, sondern vor der Antwort des Freundes.
„In Wahrheit geben?“ sagte Pilatus, der mit einemmal wie in einem Halbtraum versunken saß und mehr murmelte als sprach: „Was ist Wahrheit?“ Dann sprang er auf und schien völlig verwandelt. Seine Stimme klang noch müde, aber doch laut; als er wiederholte: „Was ist Wahrheit?“ Und Wie zu einem anderen Römer, der neben ihm stand, sagte er unwirsch: „Wie diese Juden schreien! Hör nur, Tertullius!“ Dann machte er eine Gebärde, die großen Ekel ausdrückte, und schrie: „Ich hasse dieses Volk! Aber komm, begleite mich! Ich muß wieder zu ihnen sprechen!“ Er schritt, völlig im Traum, zum Flur. Maximinus war rasch an seiner Seite, daß ihm kein Unheil widerfahre, und schien nun selbst als Tertullius zu gelten, der ihn begleiten sollte. Pilatus hob die Rechte, als gebiete er einem großen Haufen lärmenden Volkes Schweigen, und sprach: „Ich finde keine Schuld an ihm!“
Ein Grauen, das der Feldherr in der blutigsten Schlacht nicht empfunden hatte, kroch aus allen Winkeln des Speisezimmers. Über den See zogen sich drehende Abenddünste. Am Westufer flammte die schon unsichtbare Sonnenscheibe blutrot.
Pilatus war wie magisch gezogen rasch ans Fenster getreten. Er rüttelte Maximinus mit zitternden Händen und deutete dann über den See in das wogende Feuer über dem auf= steigenden Ufer: „Siehst du?! — Siehst du dort in dem furchtbaren Sonnenbrand das Kreuz?! — Das ist es! Das ist es, was mich nicht mehr ruhen läßt!“ . . . Jetzt schien er den Freund wiederzuerkennen. Die wogende Volksmenge hatte sich wohl verlaufen. Die für Maximinus nur zu erahnende fremde Landschaft mußte versunken sein, als Pilatus völlig ermattet und noch bleicher als zuvor ihm in die Arme sank. Indessen straffte er sich unerwartet rasch. Maximinus sah beglückt, wie urrömische Willenskraft auch noch in dem schwerkranken Mann zu Hause war, und begann schon wieder zu hoffen. Die Hauswalterin brachte auf seine Erklärung hin ein Gefäß, daraus warme Hauche stiegen. Die im Sud sich lind und mächtig lösenden Pflanzen riefen die Lebensgeister herbei und verliehen der schwindenden Besinnlichkeit klärende Kräfte. Pilatus eratmete sich immer tiefer und sagte schließlich, wieder das müde Lächeln wie eben um den Mund: „Das ist es, — du weißt es nun!“
„Nichts weiß ich, soviel ich auch gesehen habe!“ antwortete Maximinus ernst und fast streng. „Hast du jemand kreuzigen lassen, — und ist es das, was dich verfolgt? — Weißt du denn nicht, daß Crassus sechstausend rebellische Sklaven die Appische Straße ent= lang auf einmal ans Kreuz schlagen ließ? Und du wirst wegen eines Mannes krank und —“
Er verschluckte das Wort, aber Pilatus ergänzte: „— närrisch, nicht wahr? —“ Dann bat er, noch müder denn bisher in Gebärde und Ton: „Ich danke dir, Maximinus, für deine Gastfreundschaft. Ich habe es gewußt, du hältst mir Treue! — Hab etwas Geduld mit mir! Ich glaube selber, daß ich sehr krank bin. Jetzt möchte ich mich niederlegen dürfen, Freund! Schlafen, — das wage ich nicht zu sagen!“
„Doch, auch schlafen! Diese Germaninnen wissen Zaubertränke. Auch zum schlafen. Im übrigen, du darfst hier tun, was du willst! Und — ja, ich bin dir treu! Du weißt es. Und: meine Sklaven haben wache Ohren, auch im Schlaf. Ein Schlag auf das Metall genügt!“
*
Andern Tags kamen eilige Reiter mit drängender Kunde. Maximinus befahl dem Hausgesinde strenge Sorge für Pilatus und bereitete sich. Die Pferde hatten kaum die nötigste Ruhe, als sie ritten. Es war Schnee gefallen, und die Boten hatten in den Ardennen, die sie durchreiten mußten, Wölfe gehört. Sie nahmen frisches, vergiftetes Fleisch mit, das sie im Ritt hinter sich warfen, um die Bestien abzulenken und zu vergiften. Das Gesinde mühte sich zu jeder Stunde um den seltsamen, kranken Mann. Darunter war Inis, eine Keltin Anfang der dreißig. Sie war schon lange in römischen Diensten und sprach ganz gut lateinisch. Pilatus lauschte gerne auf die Sprache ihres Volkes. Vor allem aber hatte ihr stiller Gesang es ihm angetan, der wie beruhigendes Rauschen eines fernen Wassers in ihn drang. Ja, als flögen zauberhafte Schwäne über ein wunderbares, aber ach so fernes Meer, war ihm einmal, als Inis wieder bei der Arbeit sang:
We = mi = o = ro = wano! We = mi = o = ro = wani!“ In seltsamen Tonfolgen klangen die seltsamen Silben oder Worte, und er nahm es gerne in sich auf, wie eine gütige Arznei. Inis erzählte ihm viel. Sie kannte das Land in weitem Umkreis und berichtete, was ihr Volk davon, wußte. Von weit waren sie hergekommen. Große Heiligtümer hatten sie zur Pflege von den Göttern anvertraut erhalten. Aber die Römer hatten ihre Führer getötet. Warum, daß wußte sie nicht. Doch lebten noch hier und dort verborgen Nachkömmlinge der Druiden, wie die Führer geheißen hatten. Das Land, in dem sie hier wohnten und wo die Villa des Tullius Maximinus stand, war einst ein Feuerland. Die unterirdischen Götter formten es mit Rauch und Flammen zu dem, was es jetzt war. Aus den Trichtern der Bergseen, die wie melancholische Augen nun überall im Lande schimmerten, waren einst die unterirdischen Gewalten mit Donnergetöse in feurigen Gewändern aufgefahren und hatten das Land gestaltet.
„So ist auch dieser Bergsee, daran wir wohnen, ein Weg zu den unteren Göttern?“ fragte Pilatus.
„Das wird er wohl sein“, antwortete Inis, „und wer ihn im Herbst erlebt, sieht die Gewaltigen heute noch aufsteigen bis in die Lüfte. Doch davon kann Aram noch mehr sagen, Herr!“ „Aram? Wer ist Aram?“
„Ein Nachkömmling der hohen Druiden. Er wohnt zwei Fußstunden von uns in einer Höhle. Ja, der weiß wohl auch Rat wider euer Leiden, denn er weiß vieles!“ Pilatus entschloß sich rasch, und sie gingen. Laublos stand noch der in den warmen Zeiten so heitere Buchenwald. Reif lag zwischen den Stämmen auf Moos und dürrem Heidekraut.
„Fürchtest du dich nicht vor den Wölfen?“ fragte Pilatus.
„Ich weiß einen Zauberspruch wider sie“, antwortete Inis, „und seitdem Bovemal sie mit Fion und uns befreundet hat, fürchten wir sie nicht mehr!“ „Wer ist Bovemal und Fion?“ fragte der Römer. „Eine große Heldin und ein großer Held!“
„Ihr seid ein seltsames Volk!“ sagte Pilatus. Inis verstand das nicht und lachte. Aram, der weise Druidensprößling, erwartete sie schon. „Ich habe euch kommen gesehen!“ begrüßte er sie.
„Aram“, sagte Inis, „hilf diesem Mann, er ist ein Freund meines Herrn!“ Aram, der seine Abstammung in der Tat auf die von Gaius Julius Cäsar hingerichteten führenden Druiden zurückführte, sah Pilatus mit Augen an, aus denen es wie Flammen schlug. Pilatus war entsetzt, doch sogleich sprang trotz seiner Schwäche und Schwermut der römische Wille in ihm auf und wehrte den furchtbaren Blick des Kelten ab. Aram fühlte es und sagte, sich sofort mildernd: „Römer, ich weiß nicht, wie du heißt, noch ob du reich oder arm, ob du ein hohes Amt trägst mit trügerischen Titeln oder die Straße wie ein Wurm kriechst in Not und Angst, weil der nächste Wanderer dich zertreten kann — aber ich sehe, daß du ein kranker Mann bist!“
Pilatus atmete schwer, wie unter unsichtbaren Lasten. Während die Augen des keltischen Sehers wie im gestaltenden Umkreis des Römers suchten, sagte Inis hastig: „Der Gast meines edlen Herrn befürchtet, daß die Juden ihn vergiftet haben! Kannst du es sehen?“ Arams Leib saß wie von seiner Seele verlassen, und doch spürten die Besucher gerade jetzt eine gewaltige Kraft von ihm ausgehend. Wie entfernt klang dann zunächst seine Stimme, doch immer näher, bis sie wieder wie zu Anfang ganz ihm zu gehören schien.
„Gift trägst du in dir, Römer, aber nicht die Juden haben dich vergiftet. Du selbst erzeugst das Gift in dir. Du kennst die Götter nicht und ihre Wahrheit . . . Als ich in den Abgrund deiner Seele tauchte, sah ich eine edle Frau, die dich warnte und sich um dich quält und sorgt …“
„Procia!“ hauchte Pilatus und zerbiß sich die Lippen, fest zu bleiben.
„. . . und ich sah drei Kreuze“, fuhr der Kelte fort, „drei Kreuze auf einem fernen Hügel, in einem fernen, fernen Land . . .“ Und nach einer grauenvollen Pause fielen seine Worte, kaum vernehmlich, dennoch unterirdischem Donnerrollen gleich von seinem Mund:
„Römer, du hast einen Gott an das Kreuz schlagen lassen! Das ist das Gift, das du in dir trägst! Davon bist du krank!“
Inis stand wie eine verwelkte keltische Narde im Hochgebirge stehen kann. Pilatus Hände hatten sich verkrampft. Dann rief er mehr als er sprach: „Du Zauberer, was du nicht sehen kannst! Wenn du alles weißt, dann weißt du auch den Zauber, der mich löst und frei macht! Sprich ihn über mich, und ich will glauben, daß Gaius Julius Cäsar deine Vorfahren alle zu Unrecht töten ließ!“
In voller Ruhe antwortete ihm der Kelte: „Ihr Römer kennt nur Gewalt. Aber es gibt ein Reich, daß sich eurer Gewalt entzieht! Auch mich kannst du nicht zwingen. Doch dann auch, wenn ich wollte, wüßte ich keine Hilfe für den, der einen Gott ans Kreuzholz schlagen ließ. Ein Gott nur löst dich von so großer Schuld. Den suche, der so viel vermag! Ich ahne ihn, doch darf ich ihn vor dir nicht nennen. — Geh jetzt, Römer, geh! Ich kann dich länger nicht ertragen!“
Pilatus lachte laut, während der Seher in die Höhle ging.
„Pah!“ rief er, „Gaukler seid ihr keltischen Schwätzer! Ich sehe wohl, warum Cäsar euch zertrat! Nur schade, daß du dabei fehltest!“
Weinend, die Arme ausstreckend, wie höhere Hilfe erflehend/ bat Inis: „O edler Herr!
Verwehrt dem Dämon eurer Worte den Austritt aus dem Munde! Schlimmes rufen euere Worte aus der verborgenen Welt! Ihr ruft euch selbst die Geister der Verfluchung her!“
Pilatus geriet nur immer mehr in den Zustand maßlosen Rasens, der sich Jahre hindurch bei ihm ausgebildet hatte. Wie von unsichtbaren, doch schrecklichen Gewalten geschüttelt schrie er in die Höhle: „Fluch über dich, Aram! Fluch und Untergang den keltischen Gauklern!“
Jetzt trat Aram wieder in den Ausgang seiner Berghausung. Er machte mit der Rechten groß und gelassen ein Zeichen in die Luft und sprach: „Nur der stärkste der Götter kann dich aus dem Abgrund retten, der dich zu verschlingen schon begonnen hat!“ . . . Es war fast dunkel, als die beiden wieder im Haus am Bergsee waren. Über die Wasserfläche fegte ein eisiger Wind.
Inis lief an einem der nächsten Tage so schnell wie sie nur konnte wieder zu Aram.
Allein. Sie hatte sich fortgeschlichen. Nur die Köchin wußte davon. Alle anderen im Hausgesind aber waren mit ihr voll Entsetzen und Furcht; denn der Gast des ihnen anvertrauten Hauses war ihnen unheimlich geworden.
Schon in der Nacht nach dem Besuch bei Aram hatte er gelacht und geschrien, daß sie alle Götter und Genien anriefen, deren Namen sie je gehört. Am anderen Morgen hatte der Fremde bis gegen die Mittagsstunde bleich wie ein dem Tode naher Mann und regungslos gelegen. Als er aufgestanden war und sich durch Bad und Massagen, durch Salben hatte erfrischen lassen, schien er von nichts zu wissen.
„Ich habe schwere Träume gehabt“, erzählte er dem Badesklaven. „Ich glaube, daß die Luft mir hier so zusetzt.“
„Das ist im Anfang oft hier so, Herr“, sagte der Sklave. „Ich bin ein Südgallier und habe selbst darunter gelitten. Nur die Kelten und Germanen, die lange hier sind, spüren es nicht.“
„Ich habe auch von Inis geträumt“, erzählte Pilatus ruhig weiter, „und was war da sonst noch? Von einer Höhle und einem Wahrsager darin, der mir sagte, daß ich krank sei. Aber das weiß ich ja selbst!“
„Auf Träume soll man nicht allzu viel geben!“ sagte der Sklave rasch und klug. ‚ „Hm!“ machte Pilatus und sagte nur: „Sie können furchtbar sein! Sie können furchtbar sein!“
„Gerade darum soll man nichts auf sie geben, Herr!“ wiederholte der Diener so sicher wie ein römischer Gelehrter.
„Vielleicht hast du recht! Du bist ein guter Masseur! Und dein Salböl ist gut!“
„Es wird meinen Herrn erfreuen, das zu hören. Kommt erst die neue Kraft in euren kranken Leib, so wird es täglich mit euch besser, wie wir alle wünschen!“
„Ihr alle wünscht das?“ staunte Pilatus ein wenig.
„Ja!“
„Das ist sehr schön! Das ist sehr schön!“ Pilatus flüsterte es fast.
„Fast fühle ich mich schon ein wenig froh . . . Wenn nur die Träume nicht wären!
Träume können furchtbar sein!“
„Ich will sie wegmassieren“ sagte der Sklave, der mit dem Salböl seine eigene Lebenskraft in den erschlafften Organismus seines seltsamen Patienten rieb.
Pilatus lachte. Und er lachte mit.
Ini-s war währenddem durch den Wald gerannt, ohne auch nur die kleinste Pause zu machen.
Aram sprach mit großem Ernst zu ihr: „Dein Gast ist ein verlorener Mann! Ich habe Baiars finstere Scharen in seinem Umkreis gesehen. Furchtbare Schuld hat er auf sich geladen, und die Rachegeister werden ihn stürzen. Es ist ein unerschütterliches Gesetz der Druiden, die Geheimnisse zu verschweigen, Inis. Dir aber muß ich dies sagen — mit dem Befehl, es selber schweigend in den Tod zu tragen, wenn du dem Fluch der Götter nicht verfallen willst: die Druiden erwarten seit langem die Geburt des höchsten Gottes.
Dieser, den ihr umsorgt, hat ihn kreuzigen lassen!“
Inis zitterte wie ein hüllenloses zartes Kind im Eissturm. Dann kam ein Klagelaut aus ihrem Mund, als klage ein todwundes edles Wild.
„Helft ihm, soviel ihr könnt! Der Abgrund ist schon auf getan, ihn zu verschlingen. Helft ihm! Ich bin bei euch mit meiner Kraft. Und komm wieder, wenn der Weg durch das Zeitendunkel dich zu sehr verwirrt! — Inis, hast du mich gehört!“
Die nickte nur, tränenschluckend und um die Labe des Odems ringend. Dann entglitt sie lauflos wie ein Reh zwischen den Stämmen.
*
Pilatus hatte nach dem Bad und der therapeutischen Salbung geruht, während der Sklave, dessen Nähe ihm wohltat, bei ihm saß. Er war sogar eingeschlafen und lag traumlos eine günstige Weile. Danach fühlte er sich belebter denn seit langem und wünschte, einen Weg über den hoch gelegenen Bergrand des Sees zu machen.
Er war nicht lange gegangen, da überfiel ihn das alte Übel. Er hörte Stimmen in der Luft, und aus dem Wasser stieg eine magische Saugkraft wie ein lebendiges Wesen auf. Der fremdländische Wanderer stand jetzt hoch über dem See auf einer abfallenden Felswand. Er war hierher gegangen, um zum ersten Mal mit weitem Blick das eigenartige, herbe Land zu genießen, wo der alte Waffengefährte so gern hauste und für ihn Genesung erhoffte. Da gewahrte sein Blick in der Tiefe des Wassers einen schwärzlichen Grund, wie er ihn noch bei keinem anderen See bemerkt hatte. Und dieses Schwarz stieg mit der Saugkraft des Sees zu ihm herauf und streckte Polypenarme nach ihm aus. Das sah er ganz deutlich. Und da wußte er auch, daß der schwarze Grund des Sees ein geheimes Tor zur Unterwelt war! Ja, da donnerte die grauenvolle Tiefe, und unter den Wassern begann es zu glühen. Und worüber er eben noch in dem wohligen Bad bei dem freundlichen Sklaven gelächelt hatte, das wurde nun vernichtende Wirklichkeit: Flammen schlugen herauf. Es zischte und brodelte. Die Erde ringsher schmolz wie in einem infernalischen Feuerofen. Und das Zischen und Brodeln wurde zu heulenden Chören. Und die dampfenden Wasser und prasselnden Flammen wurden zu Hadesfratzen. Für Pilatus gab es nicht Nord und Süd mehr, nicht Ost und West, nicht Oben und Unten. Da war kein Wasser, kein Himmel, kein Bergsee, kein Landhaus des Feldherrn Tullius Maximinus mehr. Nur Hölle, Hades, Tartaros war um ihn. Und er fühlte nicht einmal, wie er ins Wasser stürzte, das nur Flammen war, wie Land und Luft und alles zu Flammen wurde . . .
Am Abend trieben die Wellen den Leichnam des Pontius Pilatus an die Treppe, die vom Landhaus des Freundes zum Gestade führte. Einer der Hunde des Hauses verbellte ihn, bis sie ihn fanden. Inis weinte die ganze Nacht.
*
Viele Jahre waren vergangen. Maximinus hatte das Haus am See verlassen. Es ging ein furchtbares Gerücht um. Bei den Kelten und Germanen. Die Erde habe den Leichnam aus dem Grab, das Maximinus ihm bei seinem Landsitz gab, immer wieder ausgestoßen. Der See, in den man ihn entsetzt versenkte, habe ihn ausgespien. Schließlich habe man ihn liegen lassen, wo immer Erde und Wasser ihn hingeworfen. Maximinus habe sein Haus nicht mehr betreten. Es sei langsam zerfallen. Die Leute begannen den Ort zu meiden. Das Waffengerassel der römischen Legionäre erklang hier oben nicht mehr. Nicht mehr der harte, klare Ruf der gewappneten Wächter, wenn der Feldherr oben weilte. Die Arbeit der Sklaven war hier vorbei, und Inis‘ keltische Lieder, die Pilajus so liebte, waren verstummt.
Eines Tages sei ein fremder Mann gekommen. Der habe als Wanderstab einen Kreuzstab getragen und in der Ruine der Römervilla gehaust. Er habe Stein um Stein neu gefügt, so daß schließlich alles verwandelt gewesen sei und ein Haus wie ein kleines Heiligtum an Stelle des Maximinschen Berghauses da gestanden habe. Ganz oben auf dem höchsten Dachfirst sei ein Kreuz gewesen.
Die dunklen Wasser des Sees, davon man erzählte, sie seien nach dem schaurigen Untergang des Pontius Pilatus schwärzer denn je gewesen, hellten sich auf. Und mochte bislang, wie das Wort ringsum ging, kein Fisch darin leben, die Fische, die der Siedler einsetzte, lebten und tummelten sich. Und war bislang das Ufer verwaist und vom Fluggetier verlassen, ja, überflog nicht einmal ein krächzender Winterrabe die verwunschene Stätte — jetzt sang und klang die Luft vom schwirrenden Völklein. Der ruhlose Römer soll noch lange gewandert sein. Freilich, wer nicht mit dem inneren Ohr zu lauschen vermochte, hörte nur das Stöhnen des Herbstwindes. Wer nicht mit dem inneren Auge zu schauen vermochte, sah nur die ziehenden Nebel.
Es mag im Mittelalter geschehen sein, daß die Seele des Pilatus eingehen durfte in die Reiche der Gnade. Die Mächte der Unterwelt sollen sich damals wie tobende Untiere gegen die Freigabe der Römerseele gewehrt und am Ufer Verderben ausgesät haben. Damals stand hier ein Dorf. Langsam war Siedlung um Siedlung um die kleine Kirche gewachsen, die aus der Kapelle des heiligen Mannes entstanden war, der einst wie ein Sendbote des Auferstandenen hierher zog. Man weiß nicht recht, was geschah, doch geschah etwas. Die Bauern verließen das Dorf. Es wurde zur Wüstung. Sie siedelten sich an einem benachbarten Bergsee an, der die göttliche Heiterkeit aus Urschöpfungstagen bewahrt hatte. Nur die Kirche blieb vom verlassenen Dorf — Weinfeld hieß es — übrig. Sie steht noch immer. Über den Resten des Landhauses des Römers Tullius Maximinus.
Sie ist die Friedhofskirche des neuen Dorfes am Nachbarsee, das Schalkenmehren heißt, geworden. Gerne ruhen die Eifelbauern aus Schalkenmehren hier bei der einsamen Kirche am Weinfelder Maar, wie der Bergsee jetzt heißt, von ihrer Lebensarbeit aus. Den Toten sind See und Ufer geweiht. Darum heißt das Weinfelder Maar auch Totenmaar. Vom Tor der Unterwelt, das Pilatus im schwärzlichen Grund des Sees schaudernd erkannte, hat der Auferstandene längst alle Schrecken hinweggenommen. Sein Sieg über die Hölle hat auch die Schrecken aus der Pilatusseele genommen. Im Ginstergold am Rande des schönen, ernsten Eifelmaars leuchtet in jedem Jahr nach der Osterzeit das Himmelsgold des Erlösungswunders.
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