Der Speierling, eine große Seltenheit unserer Heimat

VON WERNER LINDENBEIN

Wandert man von Karweiler den Feldweg über die Bengener Heide nach Bad Neuenahr, den alten Weg, auf dem einst die Bewohner von Hemmessen, Beuel und Wadenheim allsonntäglich zu ihrer Pfarrkirche gingen, so kommt man bald, noch ehe man das Kapellchen erreicht, an die Ecke eines Feldgehölzes. I lier steht rechts am Wege der Speierling. Es ist ein mächtiger Baum, von Wuchs fast wie ein Kastanienbaum. Etwa 15 m reckt er sich empor, und der Umfang seines Stammes mißt unten 3 m. Der säulenartige Stamm verjüngt sich nur wenig und teilt sich in 4,5 m Höhe in etwa 8 starke Äste, die durch weitere Verzweigung eine gewaltige Baumkrone ergeben.

Der Speierling, von den Botanikern Sorbus domestica, vom Volke auch Speier-, Sperber-, Spierlings-Vogelbeerbaum., Sperberbaum, zahme oder Haus-Eberesche genannt, ist ein naher Verwandter der gemeinen Eberesche, Sorbus aucuparia, auch Vogelbeerbaum genannt, von lat. aucupium = der Vogelfang. Die Unterscheidung beider Arten ist bei jungen Bäumen gar nicht so leicht. Die gefiederten Blätter und die doldenartigen Blütenstände gleichen sich sehr. Die sichersten Unterscheidungsmerkmale bieten die schon im Sommer angelegten Winterknospen, deren Schuppenblätter beim Speierling kahl und klebrig, bei der Eberesche behaart und trocken sind, und die Früchte. Diese, bei der Eberesche, die bekannten erbsengroßen roten „Vogelbeeren“, sind beim Speierling wie kleine Äpfel oder Birnen gestaltet, gelb, mit roten Bak-ken an der Sonnenseite. Auch die Samen unterscheiden sich erheblich: Bei der Eberesche sind sie dick, 2 mm breit und 4 mm lang, beim Speierling flachgedrückt, 6 min breit und 7 mm lang; das Verhältnis Länge:Breite ist also sehr verschieden.

Speierlingsbaum
Foto: Bruno Hersel

Der Speierling ist, wie sein botanischer Name sagt, eine domestizierte, d. h. „gezähmte“ Pflanze, also eine Kulturpflanze, und zwar eine uralte. Seine Heimat ist das Mittelmeergebiet von Spanien über Italien, die Balkanhalbinsel bis Kleinasien und Südrußland; auch in Nordafrika kommt er noch selten vor. In den spanischen Gebirgen z. B. wächst der Baum wild, eingestreut in die Bergwälder der Korkeiche und der Seeföhre. Bereits Theophrast, ein Schüler des Aristoteles, unterscheidet in Griechenland im 4. Jahrhundert v. Chr. die angebauten Bäume von den wilden, welche viel seltener Früchte trügen, und diese seien auch viel weniger schmackhaft, aber aromatischer im Geruch. In seinen botanischen Werken erwähnt er unseren Baum etwa zehnmal unter seinem alten griechischen Namen Oa oder Oe. Die Früchte wurden als Obst geschätzt, von den Römern auch eingemacht, wie wir durch den landwirtschaftlichen Schriftsteller Cato wissen. Wann der Baum nach Deutschland kam, ist unbekannt. Um das Jahr 800 a. Chr. wird sein Anbau durch Karl den Großen befohlen, und 820 führt ihn der Gartenplan des Klosters St. Gallen auf. Eine große Bedeutung als Obstbaum wird der Speierling allerdings in Mitteleuropa nie erlangt haben. Die Früchte sind sehr herbe und erst im überreifen Zustand oder wenn sie Frost bekommen haben, werden sie wohlschmeckend „wie die Mispel. Daß sie mancherorts, so im Odenwald und im Rheingau, dem Apfelmost zugesetzt wurden und wohl auch heute noch werden, ist sicher. Vermöge ihres Gerbstoffgehaltes verleihen sie dem Most einen kräftigen Geschmack und eine klare Farbe, auch wird seine Haltbarkeit erhöht. Auch wurde der „Spierapfel“ früher aus dem gleichen Grunde dem Traubenmost bei der Weinbereitung zugesetzt, wie heute noch in Südeuropa und Kleinasien. Auch wird dort noch das ungemein schwere, feste, elastische, dauerhafte und schwer spaltbare Holz zu den sog. Trottbäumen in Weinpressen, auch zu Walzen, Schrauben und dergleichen verwendet. Sicherlich war das Holz auch bei uns das ganze Mittelalter hindurch von Drechslern, Tischlern und Holzbildhauern sehr begehrt. Heute ist der Baum nur sehr selten in Deutschland noch in Kultur, dagegen finden wir ihn eingebürgert in lichten Eichen- und Hainbuchenwäldern an sonnigen Hängen des Hügellandes und der Mittelgebirge auf kalkreicher Unterlage in West-, Mittel- und besonders Süddeutschland. Der norddeutschen Tiefebene fehlt er ganz. Die Mehrzahl der bekannten Fundorte liegt in Bayern und Baden-Württemberg. Doch auch in Rheinland-Pfalz ist eine ganze Reihe von Standorten bekannt, so Neustadt, Königsbach, Leistadt, Nahetal, Sobernheim, Meisenheim, Hanweilerhof am Donnersberg, Moseltal und als nordwestlicher Fundort Karweiler. In Ahrweler gibt es heute noch eine Flurbezeichnung „Am Sperrbaum“. Im 17. Jahrhundert heißt es noch „Am Spierbaum“. In Mitteldeutschland geht das Verbreitungsgebiet durch Hessen und Thüringen bis an den Nordrand des Harzes, wo ein sehr starker Baum bei Hakeborn am Hackel, einem Muschclkalkrücken am Südrandc der Magdeburger Börde, den nördlichsten Standort überhaupt, einnimmt, der in den 90ger Jahren bekannt wurde und nach dem 1. Weltkrieg jedenfalls noch vorhanden war. Daß der Speierling früher in unseren Wäldern viel häufiger war als heute, ist sicher; ungewiß dagegen, ob er nur aus Kulturen verwildert war oder ob er, wie Oberdorf er wenigstens für Süddeutschland meint, vielleicht auch urwüchsig ist in anspruchsvollen Eichen-Trockenwäldern und Eichen-Hainbuchenwäldern. Die Flora von Deutschland von Garcke bezeichnet den Baum schon 1895 als „sehr selten“. Wegen seines ungemein langsamen Wuchses ist der Speierling ohne forstwirtschaftliche Bedeutung und wurde deshalb in früheren Zeiten vom Forstmann ausgehauen. In Unterfranken z. B. wurde der Baum nachweislich von der Forstbehörde ausgerottet, wie wir in den Berichten der Bayerischen Botanischen Gesellschaft lesen. Heute dagegen gilt, was wir in den Lehrbüchern des Waldbaues finden, daß nämlich die Erhaltung und Pflege dieser Holzart, wo sie vorkommt, vom Standpunkt des Naturschutzes erwünscht und geboten ist.

So verdient auch unser Baum von Karweiler allen nur erdenklichen Schutz, zumal es sich um einen sehr starken Baum, ja vielleicht um den z. Z. stärksten Baum in Deutschland handelt. Ein Versuch, aus dem Stammumfang auf das Alter eines Baumes zu schließen, kann nur ein unsicheres Ergebnis bringen. Ein sehr langsam wachsender Baum, wie etwa der Wacholder, hat nach Kanngießer bei einem Umfang von 2,5 m ein Alter von ungefähr 2000 Jahren; eine Eiche dieses Alters mißt etwa 16 bis 18 m im Umfang und eine Buche von 6 bis 8 m Umfang ist 600 bis 900 Jahre alt. Für unseren Speierling dürfen wir vielleicht ein Alter von 300 bis 500 Jahren annehmen.

Wie dem auch sei, der Speierling von Karweiler gehört zu den merkwürdigsten, verehrungswürdigsten und daher schutzbedürftigsten Bäumen unseres Kreises und steht als Naturdenkmal unter Naturschutz.