Der Maler Boris Birger – Von Moskau an den Rhein nach Rolandseck
In welchen Zustand muß ein Land geraten sein, daß man es im Alter von 67 Jahren verläßt?!
Boris Birger nutzte die erste Gelegenheit nach dem Helsinki-Abkommen. sein freies Künstlertum außerhalb der Sowjetunion leben zu können. Auf Ausstellungen in Deutschland und durch den Kunstsammler Peter Ludwig war ihm eine deutsche Zuneigung aufgefallen. So fiel seine Wahl auf ausgerechnet das Land. das dem russischen Volk während des Zweiten Weltkrieges den allergrößten Schaden zugefügt hatte. Birger war selbst vier Jahre Soldat im Großen Vaterländischen Krieg gewesen, der während dieser Zeit den damals herrschenden und wütenden Stalinismus relativierte. Es gehörte eine gehörige Portion Mut zu diesem Entschluß des Auswanderns; wie überraschend aber dann doch die Vielzahl derer. die ebenso die Sowjetunion verlassen hatten oder bei der ersten Reisemöglichkeit weggeblieben waren! Der Zusammenhalt der Emigranten ist groß, ohne daß sie sich deshalb isoliert fühlen.
Boris Birger in seinem Atelier in Rolandseck
Gerade das Rheinland, genauer der Mittelrhein, ist jahrhundertelang auf Assimilation trainiert, das läßt den Fremden leichter angekommen sein als in anderen deutschen Landschaftsgebieten.
Wohnung und Atelier in Rolandseck
Daß er sich den Kreis Ahrweiler nach ersten Bonn-Versuchen als Wohnsitz erwählte, wird diesem mittelrheinischen Lebensraum einmal zur Ehre gereichen.
Daß er ausgerechnet im Gebäude der ehemaligen sowjetischen Botschaft an der Insel Nonnenwenh wohnt und arbeitet, ist die erneute Bestätigung von Ironie der Geschichte. Daß neben seinem Haus das ehemalige Hotel steht, in welchem zu Kaisers Zeiten wohl die heimliche Rückkehr Lenins aus der Schweiz beschlossen wurde, ist eine weitere Verquickung von eigentlich Unvorstellbarem. Aber im Rheinland gibt es kaum Hinweisschilder, die an all solche Ereignisse erinnern, zuviel hat sich an den Ufern dieses europäischen Lebensstromes ereignet.
Kein Maler der Moderne
Boris Birger ist von einer Bescheidenheit erfüllt, daß es nicht auffällt, ihn unter uns zu haben. Und Ausstellungen wurden ihm bisher nicht etwa im Bahnhof Rolandseck, was im doppelten Sinne nahe gelegen hätte oder im Europäischen Kulturzentrum (jener erwähnten „Lenin-Stätte“) gerichtet, sondern weiter stromaufwärts, wie beispielsweise zweimal seither im ZDF-Sendezentrum auf dem Lerchenberg in Mainz. Im Bahnhof Rolandseck kümmert man sich um einen DADA-Künstler und plant für viel Geld einen Museumsbau. Heutiges muß erst vergangen sein. um erkannt und anerkannt zu werden. Und da Boris Birger kein Maler der Moderne ist. geht das Feuilleton an ihm fast spurlos vorbei. Da Avantgarde vorreitet, ist also der Begriff des Avantgardistischen bei einem Künstler anders als bei einem Kunsthistoriker. Nachdem die Leinwand zum schwarzen Quadrat verkam, mußte wieder gemalt werden. Das zu begreifen, dauert freilich vermutlich ein volles Jahrhundert!
Boris Birgers Schaffen siedelt in der schmalen Schule des russischen Impressionismus. hatte etwa im Vater von Boris Pasternak einen Vorläufer. Folgerichtig gab es eine Freundschaft zu den Pasternaks. die bis heute und hier bei Besuchen am Rhein anhält.
Malunterricht
Für Boris Birger war es stets selbstverständlich, begabten Kindern seiner Freunde Mal-unterricht zu erteilen. Teilweise fand dieser Unterricht in Moskau in den größeren Wohnräumen der Pasternaks statt oder auf der Datscha Pasternaks im berühmten Pe-redelkino bei Moskau, wo die Enkel des Nobelpreisträgers Pjotr und Boris sowie Birgers 1960 geborener Sohn Aljoscha aus erster Ehe Unterricht erhielten. Zwar ist Aljoscha Schriftsteller geworden und lebt in Moskau, illustriert aber immerhin seine Publikationen selber. In Deutschland gruppierte Birger wiederum um seine 1983 geborene jüngste Tochter Mascha andere Kinder von Freunden und unterrichtet erneut jeden Samstag oder Sonnlag in der Schulzeit. Es handelt sich dabei um eine selbstlose „Sonntagsschule“ ohne Schulgeld. Dieses Opfer eines Tages jeder Woche ist das ungeheure Geschenk an eine übernächste Künstlergeneration, da die Ausbildung an deutschen Kunsthochschulen derzeit so gut wie ohne Handwerksvermittlung auskommen muß, weil man an den Akademien über viele Jahre süchtig war, Tradition zugunsten einer Materialmoderne zu zerstören. Dort müßte eigentlich Boris Birger in der Ausbildung von Kunststudenten seinen Platz einnehmen, aber Künstler werden an Kunsthochschulen als Lehrer immer noch beamtlich bestallt, und dafür ist Birger mit 75 Lebensjahren inzwischen einfach zu alt. Boris Birger unterrichtet nicht nur „seine“ Kinder im Malen und Zeichnen, er versorgt sie auch in den Pausen mit Essen und Süßigkeiten, plant Nikolausfeiern. Puppenspiele und Ausstellungen im Oberwinterer Rathaus.
Porträt Tilo Medek – Kohlezeichnung von Boris Birger.
Der Künstler und sein Werk
Wir können nur bedauern, daß er nicht früher hierher an den Rhein gekommen ist, sonst gäbe es sicherlich viele Motive unserer Landschaft auf seinen Ölbildern und Aquarellen zu sehen. Das fehlt nun, aber es gibt Motive aus der Eifel, in die es ihn durch Freunde zieht und wohin auch die Kindermalklasse ab und an „auswandert“.
Boris Birger sagt in seinem Kurztext „Von Rußland ins Rheinland“ folgendes über seine Person:
„Ich bin mit 75 schon zu alt, um in den neuen Kämpfen mitzustreiten und muß, weil ich anders nicht kann. endlich jene Bilder malen, die sich seit langem in mir regen.
Mit Deutschland verbinden mich nicht nur meine treuen deutschen Freunde, sondern auch die Tradition meiner Familie. in der von Kindheit an Goethe und Heine mir ebenso nahe waren wie Puschkin und Tolstoi, Mozart und Schumann so nahe wie Glinka und Tschaikowsky.
Ich werde mein Leben in Deutschland nicht umsonst gelebt haben, wenn es mir gelingt, mit meiner Kunst, die jetzt so eng mit dem Rheinland verbunden ist, einen kleinen Beitrag auch zur deutschen Kultur zu leisten.“
Die deutsche Sprache erreichte ihn schon früh als Kind in Moskau durch eine Hausangestellte. die aus dem Baltikum kam und nur schlecht Russisch sprechen konnte, wohl aber Deutsch. So fiel es ihm leicht, in diesem hohen Alter nicht nur das Land. sondern auch die Sprache zu wechseln. Hört man ihn Russisch sprechen, so spürt man dabei die Geschwindigkeit der Gedanken. man ahnt den Reichtum seines Sprechens, die Fähigkeit zum Witz und zum Sprachspiel. Das freilich ist im Deutschen verkürzt und wird durch liebevollen Blick, neugieriges Zuhören und sein sympathisches auf die Freundschaft Toasten ausgeglichen. Möge es ihm noch lange vergönnt sein, hier zum Arbeiten angekommen zu sein im Lande seiner einstigen Feinde, um Freundschaft zu säen!
Im Sommer 1998 malt Boris Birger als privates Auftragswerk das Doppelporträt eines Ehepaares, das sich an einem kleinen runden Tisch mit Weinpokalen zuprostet. Das ist doch eigentlich eine rheinische Idylle, ohne daß der Künstler vordergründig so etwas geplant hätte.
Sieht man zu diesem Werk seine Federskizzen, die große Zeichnung als Vorarbeit auf der Staffelei, dann begreift man, hier wird nicht nur ein privater Auftrag einfach erledigt, sondern der künstlerische Eigenanspruch bleibt oberste Maxime, auch wenn das Ölbild vielleicht nie auf eine Ausstellung gelangen wird. Im Atelier befinden sich schöne Moskauer Gruppenbilder von Treffen in Birgers Atelier, von Kostümfesten und Trinkgelagen. Die darauf vereinten Künstler und Wissenschaftler sind zum Teil in alle Welt verstreut. Es wäre ein Gewinn, wenn diese Bilder eines Tages in einem rheinischen Museum ausgestellt blieben, ehe sie sonst vermutlich im nächsten Jahrhundert nach Rußland zurückkehren werden, um widerständige Kreise mit künstlerischen Ausdrucksmitteln zu dokumentieren. Gewiß können solche eindrucksvollen Werke dies besser als es Fotos je zu leisten imstande wären. Zu den frühen Verehren von Birgers Kunst zählte Heinrich Böll. der die Lichtkraft/ Leuchtkraft Birgerscher Bilder eindrucksvoll beschrieb. Und noch heute kommt regelmäßig die hochbetagte Annemarie Böll in Birgers Atelier in die Mainzer Straße, um nicht prosaisch B 9 zu sagen. Künstler, Musiker. Wissenschaftler. Journalisten und Korrespondenten zählen zu seinem gehegten Freundeskreis. Und wenn die Erben der Sammlung Ludwig jetzt das Sacharow-Porträt nach St. Petersburg gaben, so zeugt es davon, daß ohne die Weitsicht Ludwigs Rußland nie auf seinem Territorium ein Porträt seines schärfsten Kritikers zeigen könnte!
Boris Birger holte mit seinem Auto einst Sacharow am Bahnhof ab, als dieser aus der Verbannung zurückkehren durfte.
Nikita Chruschtschow beschimpfte Birgers Bilder 1962, weil er spürte, daß Birgers Realismus kein sozialistischer war. So hat die Sowjetunion nicht nur beargwöhnte abstrakte Kunst gehabt, sondern auch beargwöhnte realistische, was heute leicht übersehen wird.
Boris Birger
1. April 1923: Geburt in Moskau
ab 1933: Unterricht in einer Kindermalschule: nach Schulabschluß Studium am Surikov-lnstitut der Akademie der Künste in Moskau 1941-1945: Kriegsteilnahme
1946-1951: Fortsetzung des Studiums
1953-1955: zahlreiche Ausstellungen: Bildankäufe durch staatliche Stellen
1956: Gesamtausstellung durch den Moskauer Künstlerverband: Boris Birger vernichtet anschließend fast alle Bilder, weil er nicht von der offiziellen sowjetischen Kunst vereinnahmt werden wollte
1962: Teilnahme an der Ausstellung „30 Jahre Moskauer Künstlerverband“. Birgers Bild Mutter mit Kind wurde von Chruschtschow beschimpft. Ausschluß aus dem Künstlerverband
1966: Wiederaufnahme in den Künstlerverband
1968: erneuter Ausschluß. keine Ausstellungen bis 1989/90
Mai 1990: Übersiedlung nach Deutschland. Boris Birger lebt und arbeitet in Rolandseck.
Die Werke von Boris Birger wurden in zahlreichen Ausstellungen gezeigt. Bilder befinden sich in in- und ausländischen Privatsammlungen und Museen.
Literatur:
Ausstellungskatalog Boris Birger. Austellung anläßlich seines 75. Geburtstages im ZDF-Sendezentrum Mainz, Mainz 1998