Der Flüchtling

VON JAKOB KNEIP

Sie zogen ein Leiterwägelchen hinter sich her, das sie sich von ihrem letzten Gelde in Altenahr erstanden hatten. In dem Wägelchen schlief ihr Kind, und dahinter stand ein Koffer. Die junge Mutter hatte das Kind vor sieben Wochen in dem Flüchtlingslager zu Uelzen geboren, und der Koffer barg all ihre Habe.

So war Werner Riedel mit seiner Frau Margret und dem Kinde um die Mittagszeit nach Kronert hinaufgezogen. Das kleine arme Eifeldorf lag hoch über dem Ahrtal zwischen den Wäldern. Die Frau hatte gehofft, daß sie hier bei einer verwitweten Schwester ihrer Mutter Unterkommen fänden. Denn nach allen Strapazen und Leiden, die sie seit der Flucht aus Allenstein erduldet hatten, fühlte sie sich am Ende ihrer Kräfte. Oft hatte ihre verstorbene Mutter von der guten Tante Katharina erzählt. Das Dorf Kronert, wo sie ihre Jugend verbracht hatte, war seither auch der Tochter in schöner Verklärung vor der Seele geblieben.

Und morgen sollte das Christfest sein! Margret hatte den ganzen Weg über davon geträumt, wie glücklich sie sein würde, an diesem Abend mit ihrem Kinde unter einem Lichterbaum am warmen Herd der Tante ihre Weihnacht zu feiern. Doch als sie droben ankamen, fanden sie ein Dorf, das halb in Trümmern lag: selbst diesen entlegenen Ort hatte der Krieg erreicht. Dazu fegte ein eisiger Wind über die Höhe.

Nun mußten sie hören: die Tante war vor zwei Jahren gestorben. Ihr Haus lag zertrümmert. Ihr Sohn war in Rußland geblieben, zwei Töchter hatten sich irgendwo am Rhein verheiratet, wie ihnen die Dorfbewohner sagten; und keine Verwandten oder Freunde fanden sich im Dorfe, die sich ihrer angenommen und ihnen Obdach gewährt hätten. Man riet ihnen, in der Stadt Münstereifel, die hinter den Wäldern, drunten im Tale läge, ein Unterkommen zu suchen. Die Stadt habe große Gebäude für die Flüchtlinge eingerichtet. Da entschlossen sie sich, dies letzte zu versuchen. Ein Bauer ging mit ihnen bis vor das Dorf und beschrieb ihnen den Weg. Er sei kaum drei Stunden weit und leicht zu finden. Von einer Anhöhe zeigte er ihnen die Richtung: „Drüben vom Hang“, sagte er, „wo die hohen Tannen stehen, geht es, nach einem kurzen Anstieg, immerfort bergab.“ In dunklem Gewölk ging vor ihnen die Sonne unter. So fuhren sie, gegen einen scharfen Westwind, auf das Abendrot zu in die dämmernden Wälder. Das Kind lag, in eine Wolldecke gehüllt, im Wagen und schlief. — Kurz hinter dem Dorfe fing es an zu schneien. Werner sah, daß Margret sehr blaß war und fror. Ihr Mantel war dünn und ihre Schuhe ließen die Nässe durch. Ihre Hände und Lippen waren blau. Aber nie hatte er von ihr eine Klage gehört. — Er hängte ihr seinen Soldatenmantel um die Schultern, und um sie aufzumuntern und ihre Lebensgeister wieder zu wecken, summte er nun gar im Marschtempo das Lied vom „lieben Augustin“, das Margret früher so gern mitgesungen hatte. Doch diesmal schaute sie nur mit erzwungenem Lächeln zu ihm auf. Der Schneefall hatte zugenommen, und die Augen von Margret gingen immer wieder zu ihrem Kinde, dem die Flocken ins Gesicht trieben. Nun hielt sie an und meinte: „Wir müssen ein Tuch über das Wägelchen legen, der kalte Schnee fällt zu dicht. Das ganze Köpfchen wird ihm naß.“ Dann öffneten sie den Koffer und nahmen eine Schürze heraus, die sie über den Wagen knüpften. Doch das Schneetreiben wurde immer stärker; ihr Weg umdunkelte sich, und sie konnten kaum noch zehn Schritt weit sehen. Darüber waren sie tief in die Wälder gekommen. Es waren hohe Tannen= und Buchenwälder, und nirgends bot sich ihnen ein Ausblick ins Tal oder über die Berge. Bald senkte sich, mit dem Schneetreiben, schweres Dunkel in die Wälder. Der Weg wurde weich und schlüpfrig. Nur mit Mühe kamen sie vorwärts. Wie spät es darüber geworden war, konnten sie nicht feststellen: sie besaßen keine Uhr; russische Soldaten hatten ihnen alle Wertsachen abgenommen. Zuweilen hielten sie nun an, um ein wenig zu verschnaufen und ins Tal zu lauschen. Aber keine Glocke, kein Laut war zu hören, der ihnen die Nähe der Stadt oder eines Dorfes angekündigt hätte. Nur der Wind rauschte in den Bäumen, auch ein Eulenruf ertönte nahe am Wege; ab und zu fiel ein Ast, und ein Wasser rauschte irgendwo aus der Tiefe zu ihnen herauf. Nun begann auch das Kind zu weinen. „Es wird Hunger haben“, meinte Margret; „aber wie soll ich es stillen? Wo können wir hier Rast halten?“

„Sei unbesorgt“, sagte Werner. „Ich werde uns unter Tannen aus dürren Reisern einen trockenen Sitz schaffen. Sogar ein Feuer werde ich machen. Das kenne ich vom Kriege her. Und dann wollen wir auch selbst ein wenig essen. Das wird uns gut tun.“ —

Bald hatte er unter einer hohen Tanne den rechten Platz gefunden und aus trockenen Tannenästen einen Sitz bereitet. Darauf saß nun Margret und gab ihrem Kinde die Brust; bald brannte auch vor ihren Füßen ein Feuer.

Werner nahm derweilen Brot und Wurst aus dem Rucksack. Dann setzte er sich neben Margret. Als das Kind gestillt war, lag es mit rosigem Gesichtchen, von der Flamme beleuchtet, auf dem Schoß der Mutter. Da kam in ihre Augen wieder ein froher Glanz. Dann aßen sie beide, freuten sich an ihrem Kinde und tranken dazu von dem Milchkaffee, den eine alte Bäuerin ihnen mitgegeben hatte. Doch nun sahen sie im Schein der Flammen auch, daß sie völlige Finsternis umgab. Und immer wieder fiel der Schnee, un dein scharfer Wind stob vom Westen heran. „Wie sollen wir aus diesen Wäldern herausfinden?“ meinte Margret. „Mir scheint, wir sind schon mehr als drei Stunden unterwegs.“

„Mach dir keine Sorge“, tröstete Werner, „ich habe in Rußland schlimmere Märsche gemacht, durch endlose Wälder und Steppen, und immer in Gefahr vor dem Feind.“ „Ich fürchte nur, wir werden erst in der Nacht die Stadt erreichen. Wer wird uns dann noch aufnehmen?“ Doch Werner verlor nicht den Mut: „Heute ist Weihnachtsabend.“ Er ermunterte sich selbst, indem er das sagte: „Da wird in einer Stadt viel Leben sein; und der Pastor und der Bürgermeister sind gewiß noch zu sprechen, wenn wir ankommen. Auch denke ich, daß noch Gasthäuser offen sind.“ Dann erhob er sich und rüstete zum Aufbruch. Sie nahmen eine zweite Decke, die im Koffer lag; dann betteten sie das Kind, warm eingehüllt, wieder in den Wagen und zogen weiter. Doch als der Feuerschein ihren Weg nicht mehr erhellte, sahen sie sich völlig von Dunkel umgeben; und der Schnee lag schon so hoch, daß er ihnen bis über die Knöchel ging. Auch die Räder des Wagens wurden durch den Schnee gehemmt, und der Weg schien nun sehr rauh und holprig zu werden. Immer wieder tappten sie in Löcher, die der Schnee verdeckte, und der Wagen hinter ihnen flog hin und her.

Plötzlich stutzte Werner und meinte: „Mir scheint, wir haben den Weg verfehlt; wir sind auf einen Waldweg geraten.“ Margret tat einen leisen Schrei: „Dann müssen wir also zurück?“

„Der Feuerschein hatte uns geblendet. Dadurch werden wir vom Wege abgekommen sein“, meinte Werner. So kehrten sie um. Doch da, wo sie vorher abwärts gegangen waren, mußten sie nun bergan. Das war auf der schlechten Wegstrecke doppelt mühsam. Werner zog nun allein den Wagen und suchte seine Frau zu stützen. Oft hielt er an und sprach ihr Mut zu. So gelangten sie schließlich wieder bis zu der Feuerstelle. Glühende Holzstücke leuchteten noch aus der Asche. Werner fühlte, wie Margret sich auf ihn stützen mußte und wankte: „Wir wollen noch einmal rasten“, sagte er und führte sie unter die Tanne zu ihrem Reisigsitz, holte dann eilig trockenes Holz herbei und entfachte wieder die Glut. Das Kind lag noch ruhig in seinen Decken. Werner schob den Wagen nahe ans Feuer. — Margret aber saß nun mit geschlossenen Augen, an eine Tanne gelehnt, die hinter dem Reisighaufen stand. Da setzte er sich an ihre Seite und bot ihr Halt. Bald merkte er: sie wir eingeschlafen. Ihr Kopf sank schwer auf seine Schulter.

So saßen sie, bis das Feuer herabgebrannt war. Da mußte er sich von ihr lösen, um trockenes Holz nachzulegen. Darüber erwachte Margret. Sie schaute verwundert um sich: „Sitzen wir wieder beim Feuer?“ Da sah sie den Wagen und ihr Kind und war völlig wach. Sie sprang von ihrem Sitz, bückte sich und hob das Kind aus dem Wagen. Dann saß sie wieder am Feuer und gab ihm die Brust. Werner brachte neues Holz heran; dann stand er, schaute nachdenklich auf Frau und Kind und sagte: „Das soll nun unser Weihnachtsabend sein!“ Da hob Margret den Blick. Sie drückte das Kind an die Brust — ihr Gesicht war ganz von Glück überstrahlt: „Sei zufrieden, Werner — Maria und Josef hatten es nicht schöner als wir!“

Da trat Werner zu ihr heran, legte den Arm um ihre Schulter und sagte: „Nein, wir wollen nicht klagen, Margret. Millionen, die heute Nacht in großen und schönen Häusern wohnen, sind nicht so glücklich wie wir.“ Dann blickte er um sich und meinte: „Zudem, der Schneefall hat aufgehört. Der Weg wird heller. Wir wollen den Rest unserer Vorräte aufzehren und uns wieder auf den Weg machen.“ Und er öffnete den Rucksack und breitete aus, was noch an Brot und Wurst vorhanden war, auf ein Stück Papier neben Margrets Sitz. Wie sie nun aßen und dazu den Rest des Kaffees tranken, meinte Werner: „Wir dürfen jetzt nicht wieder den Weg verfehlen. Bevor wir aufbrechen, möchte ich ohne den Wagen ein Stück voraus gehen und feststellen, wo wir abbiegen müssen. Dann komme ich zurück und hole dich ab. Wir werden wohl bald ins Tal hinabfinden.“ Margret stimmte zu, und während Werner nun voraufging, vim den rechten Weg ausfindig zu machen, der ins Tal hinabführte, bettete sie ihr Kind in den Wagen, packte den Rucksack zusammen und machte alles zur Abfahrt bereit.

Plötzlich kam Werner eiligen Schrittes zurück und rief: „Eine Glocke — hörst du? — eine Glocke läutet im Tal — und ich glaube, daß ich auch den richtigen Weg entdeckt habe.“

Ja, nun hörte auch Margret die Glocke. In ruhigem Schwünge klang sie herauf.

„Der Schall kommt zwar nicht aus der Richtung, in der ich die Stadt suchte; aber wir wollen nun dem Ruf der Glocke folgen. Sind wir einmal auf der großen Straße im Tal, dann werden wir auch nach Münstereifel gelangen“, meinte Werner.

Der Weg, den er entdeckt hatte, führte in großen Windungen zutal. Sie gelangten dann zu einer Stelle, wo der Wald abgeholzt war; da sahen sie bei der Wendung des Weges, wie tief im Tal ein paar Lichter aufblinkten.

Wieder klang nun auch die Glocke herauf. Ihr Schall kam aus der gleichen Richtung. Bald fiel eine zweite Glocke in ihr Geläute. „Jetzt sind wir gerettet“, rief Werner. Sie hatten nun beide die Deichsel des Wagens erfaßt, und in eiliger Fahrt ging es weiter hinab ins Tal. Als sie nach der letzten Kehre aus dem Walde bogen, lag da ein kleines Dorf vor ihren Augen. Nur wenige Fenster waren erhellt; aber auf einer sanften Anhöhe hinter dem Dorfe stand hell erleuchtet die Kirche.

„Das ist nicht die Stadt“, rief Margret.

„Ganz gleich“, gab Werner zurück. „Hier werden wir bleiben. Wir steigen zur Kirche hinauf. Irgend eine Seele wird sich schon finden, die mit uns Erbarmen hat.“ Dann hüb die Orgel an, und nun schallte in freudigem Aufschwung das Lied zu ihnen herab:

„Heiligste Nacht, heiligste Nacht,
Finsternis weichet,
es strahlet hinieden
lieblich und prächtig
vom Himmel ein Licht.“

Als das Lied verklungen war, hielten sie vor der Pforte der Kirche. Margret hob das Kind aus dem Wägelchen; dann öffneten sie beide das Tor und trafen in die kleine Turmhalle. Hier standen die Menschen dichtgedrängt. Eben war der greise Pfarrer auf die Kanzel gestiegen und begann das Weihnachtsevangelium zu verlesen. Nun war er bei der Stelle angelangt: „Und sie gebar ihren Sohn, wickelte ihn in Windeln und legte ihn in eine Krippe; denn sie hatten keinen Platz gefunden in der Herberge.“ Da fiel sein Blick auf die junge blasse Mutter, die ihr Kind, in Decken gehüllt, im Arm hielt. Sie trug noch den alten Soldatenmantcl um die Schultern; er sah, wie sie erschöpft am Arm ihres Mannes hing — und auch diesem stand die bittere Not des Flüchtlings in den Zügen. Da stieg der Pfarrer von der Kanzel und schritt durch die Kirche hinab zur Turmhalle. Viele Augen folgten ihm. Und sieh: er nahm die junge Mutter bei der Hand und führte sie und ihren Mann hinauf vor die Krippe, die rechts neben dem Hochaltar stand. Er ließ sie dort niedersitzen. Darauf wandte er sich zur Gemeinde und las das Evangelium zu Ende. Die Mutter saß derweilen, über ihr Kind gebeugt, neben dem Manne bei der Krippe. Der Pfarrer und solche, die in ihrer Nähe waren, sahen, wie ihr die Tränen rannen. Da sprach der Pfarrer: „Den Sinn der Weihnachtsbotschaft, die ich euch soeben verlesen habe, liebe Pfarrkinder, brauche ich euch diesmal nicht auszulegen. Der Herr selber hat uns in dieser Stunde ein sichtbares Zeichen und eine Mahnung gegeben, wie wir Maria und Josef bei uns aufnehmen sollen. Wir wollen ihnen nicht, wie die Leute von Bethlehem, die Türen und Herzen verschließen. Wir wollen sie heute brüderlich an unserem Herde sitzen lassen und Leid und Not mit ihnen teilen. Dann wird auch Gnade, Friede und Freude unserem Hause zuteil werden! Amen.“ Dann stieg der Pfarrer wieder zum Altar und feierte mit der Gemeinde die Mette zu Ende.

Danach führte er das junge Paar in sein Haus und bot alles auf, um ihnen mit Speise und Trank und einem warmen Lager eine gute Herberge zu bereiten. In den nächsten Tagen aber wetteiferten Frauen und Kinder mit ihrem Pfarrer, um ihnen mit Gaben aller Art ein wirkliches Weihnachtsfest zu schaffen.

(Aus Jakob Kneip: „Bergweihnacht“)