» . . . denn wir fahren gegen Engeland«-»Maria, breit den Mantel aus« »Kahdähm, Sallemahbitsch, Muckefucke Seh . . .«
Hochwürdens Kampf gegen Disharmonie im Dreiklang
Friedhelm Schnitker
Wir waren vier junge, ungestüme „Böckelche“ in der Herde von Hochwürden Karl, die dem getreuen Hirten in unserem Eifeldörfchen in schwerer, leidvoller Zeit gegen Ende des Zweiten Weltkrieges anvertraut war.
Jüppche und Kläusche, Bernhardche und der Stadtjunge, der wegen der Kriegswirren im Ruhrgebiet unter die Einheimischen eingeschleust worden war.
Wir waren Meßdiener; stolz, dem wortgewaltigen, grauhaarigen Gottesmann dienen zu dürfen. Es gab keine schönere Zeit für uns, als vor der heiligen Messe oder den Andachten den Worten von Hochwürden zu lauschen. Nein, es war nicht mehr Hochwürden, er schien Gottvater ähnlich, so wie wir ihn uns vorstellten. Mit gewaltiger, tiefer Stimme, eisgrauen Haaren, groß von Statur, oft ein scherzendes Wort in schwerer Zeit auf den Lippen, so saß er vor uns auf dem »Schabellche«, dem Fußbänkchen für den kleingewachsenen Küster. Wir lauschten seinen »Geschichtchen« aus der Passion, seinen Darlegungen zu den Heiligenlegenden. Immer wieder aber tönte es, wie eherner Klang auf uns niederhallend, »Gott liebt alle, auch die Irrenden.“ Seine Predigten waren, in reicher Bildersprache theologische Mysterien aufschließend, voller Anspielungen in bedachter Wortwahl auf die schwere Jetztzeit der Jahre 1944/45.
Die »Weihwasserkesselkompanie« der örtlichen Parteiprominenz folgte aufmerksam lauschend, aber stumm mißbilligend seinen Darlegungen, die ihnen zuweilen die Röte des Zorns oder der Scham ins Gesicht trieben. Aber diese »Kompanie« blieb eingebunden in die festgefügte Ordnung und schützende Geborgenheit des Eifeldorfes; kein Wort drang über sie hinaus in die nahe Stadt und dortige Parteizentrale.
Hochwürden führte, um den Segen für die Früchte des Feldes zu erflehen, zuweilen kleine Prozessionen durch den Ort, dessen Kirche von steiler Höhe herabgrüßt, an. Das abwechselnd von uns vier »Böckelche« vorangetragene Holzkreuz mußte vor dem Haus der örtlichen Parteispitze höher emporgereckt werden. »Höher, höher! Eropp met em!«, so tönte Hochwürden, zwar etwas gedämpft, aber unüberhörbar. Und hinter der Gardine stehend mußte man mitanschauen, wie das Kreuz die lang herabhängende Hakenkreuzfahne vorsichtig, aber unübersehbar zur Seite drückte. War es Vermessenheit angesichts des übermächtig scheinenden, allgegenwärtigen Gegners? Oder wohl kalkuliertes Risiko verbunden mit felsenfestem Gottvertrauen? Oder die Gewißheit der Rückendeckung durch Lisa, die Ehefrau des Parteiobersten des Dorfes, die, sich der Haushälterin Pauline als »Botschafterin« bedienend, zuweilen ausrichten ließ oder lassen mußte: »Er soll et net üwedreiwe, de Hehr! Net ze vill deuwele!«
Nach der morgendlichen Frühmesse, Apfel oder Birne aus Hochwürdens pfarrlichem Obstgarten in den Hosentaschen, eilten wir vier zur Schule. Neben drei unverehelichten »Frolleins« unterrichtete uns Lehrer Heinz. »Gau Moselland (unsere Fibel) bleibt heute zu.
Wir fahren singend – wohin?« – und schon schallte es aus voller Kehle, kernig-kräftig bei den Jungen und hell-zart bei den Mädchen:
»Denn wir fahren, denn wir fahren, denn wir fahren gegen Engeland.«
Und dann folgte die Darstellung der Schlachtenabschnitte und Kampfzonen an großer Wandkarte. Für besonders aufmerksame Zuhörer gab es, nicht wie bei den »Frolleins« stimmungsvolle Fleißkärtchen, sondern kleiner geratene Büchlein des »Winterhilfswerks des Deutschen Volkes« mit den Titeln »Des Führers Kampf im Osten«, »Des Führers. . .«, »Des Führers.. .« Nur eines Tages versagte Lehrer Heinz in seiner sonst so glänzenden Inszenierung. Kläusche stellte verwundert die kurze, aber tiefschürfende Frage: »Herr Lehrer, Deutschland wird ja immer kleiner? Wieso?« Statt einer Erklärung tönte es nach sich dehnender Stille: »Wir schlagen auf: >Gau Moselland <.«
Gegen England – dort sollten schlimme Gesellen hausen. Wir stellten sie uns vor: wie Rübezahl von Gestalt, wie menschenfressende Monster voller Blutgier, auf Drachen reitend. Hochwürden murrte, knurrte, es gewitterte in seinem Gesicht, dann brach der Sturm los: »Unsinn, ihr Schafsköppe, das sind Menschen wie eure Eltern und ich. Kinder wie ihr. Gott schuf sie alle. Er liebt sie alle. Sie und uns.« Und dann kam der Tag, an dem Hochwürden fast zerbrach. Dem jeweiligen Pfarrer des Eifeldorfes gehörte ein riesengroßer, von hohen Mauern umgebener Garten, in dem Obstbäume mit herrlichen Früchten einträchtig neben mächtigen, alten Laubbäumen standen. Am schönsten schien uns allen eine hochgewachsene Rotbuche, ein herrlicher Baum. Aus diesem »Pastuhrs Bunget« versorgten Paulinchen und Hochwürden Mütter und Alte, Jugend und uns Meßdiener mit köstlichem Obst.
Es war spät im Jahr 1944, ein schöner Altweibersommertag mit blauem, leicht dunstüberzogenem Himmel. Wir vier erprobten uns auf dem kleinen Dorfplatz im »Flössche« als Deichbauer. Hochwürden Karl trat zu uns, begutachtete unsere Werke und gab Rat: »Mih Matsch holle!« Ob wegen Hochwürdens Nähe oder aus himmlischer Eingebung, Bernhardche und ich ließen unsere Blicke zum Himmel schweifen, da zuckt Bernhards Finger empor, schrill tönt es: »Angriffszeichen! Da oben!« Dort stehen sie, gesetzt als Angriffsmarkierungen für die »stählernen Drachen aus Engeland«. »Siegelten dem Städtchen«, und doch, Hochwürden treibt uns vor sich her, zielgerichtet auf Bauer Franzens Haus zu, stößt uns die Treppe zum Keller hinunter. Dort unten, tief unter dem mächtigen Bauerngut liegt der kühle Keller aus mächtigen Quadern. Die Nachbarn eilen herbei. Dann schließt der Bauer die mächtige Eisentür. Schon pfeift und rauscht es, dumpf polternd setzt sich der Lärm fort, es wankt die Erde.
Hochwürden sitzt auf einem Sack Kartoffeln. Sonst würden wir lachen, nun aber hocken wir um ihn herum; zu uns kauern sich Fritz und Regina, die Kinder des Bauern und suchen wie wir die Nähe des Gottesmannes. Und nun sitzt nicht mehr »de Pastue« auf einem Sack Kartoffeln, sondern der Mann Gottes auf einem Thron und aus seinem Mund ertönt mit wohlvertrauter, fester Stimme: »Unter deinem Schutz und Schirm flehen wir, oh heilige Gottesgebärerin. Verschmähe nicht unser Gebet in unseren Nöten, sondern.. .«.
Diese flehenden Worte übertönt ein ohrenbetäubendes Krachen, die Kellerwände scheinen zu schwanken, Mörtel rieselt von Wänden und Decke, dann Totenstille, kein Laut. Hochwürden erhebt sich langsam, schüttelt den Mörtelstaub aus dem Haar und vom Priestergewand. Mit Bauer Franzen und dem Knecht entriegelt er die mächtige Tür, steigt empor. Uns vieren, zusammen mit den Frauen zurückbleibend, erscheint der Keller als mächtige Schutzburg, Da eilt der Bauer atemlos herbei, keuchend stößt er hervor: »Einjeschlagen, am Pastues Bunget. le bleiv hee.« Und später, viel später sehen wir den riesigen Bombenkrater. Er hat einen Teil der mächtigen Mauer hinweggerissen. Die Bombe hat zwei Frauen und ein Kind zerfetzt. Scheu blicken wir nach oben, den Fingerzeigen der Erwachsenen folgend. In den mächtigen Ästen der Rotbuche schimmern bunte Kleiderfetzen. Aus der Rotbuche ist eine Blutbuche geworden.
Hochwürden hatte in manche Familie die schmerzliche Botschart des Todes von Männern, Ehemännern, Vätern und Söhnen gebracht, aber im Dort vertraute Mitmenschen, Frauen und Kinder, unmittelbar dem Tod ausgeliefert zu erfahren, welch ein Schlag hatte unseren Hirten getroffen. Man sah, Hochwürden Karl unter seiner Rotbuche, der Blutbuche, zum Gebet niedergekniet, um ihn die Dorfbewohner, einige Frontsoldaten auf kurzem Heimaturlaub.
Und doch, neben seinem unerschütterlichen Gottvertrauen und dem Sichfügen in Gottes unergründliches Wirken, war es die heilende Wirkung der allgewaltigen Mutter Zeit, die ihm gnädig, spät, aber nicht zu spät, ein erstes scheues Lächeln über sein Gesicht zauberte.
Und dann war plötzlich der Krieg zu Ende. Amerikanische Frontsoldaten waren mit einer Vielzahl mächtiger Fahrzeuge, mit Panzern, Lastwagen, Jeeps, ins Dort eingerückt. Uns vier »Böckelche« trieb es in die Nähe der »Eroberer«, wobei es uns besonders die baumlangen »Neger« angetan hatten. Vertraut schienen sie uns schon in ihrer Dunkelhäutigkeit durch den Mohren unter den heiligen Drei Königen in unserer Krippe. Aber daß sie so riesig waren, baumlang und ihr Augenrollen! Manchmal schienen sie uns schon ein wenig, ein klein wenig, ein klitzeklein wenig unheimlich. Aber sie konnten herrlich lachen und dann gab es bei ihnen ungeahnte Schätze, wie bei dem Mohren in der Krippe. Doch wie sollten wir unsere Bitte vortragen? Kaubewegungen, Mundöffnen, Augenverdrehen, Bauchstreicheln, nichts brachte uns den Erfolg. Eher fühlten wir uns als Darsteller einheimischer Rindviecher. Also mußten wir ihre Sprache nutzen. Jüppche horchte dorthin, Kläusche schnappte etwas auf, Bernhardche brachte einige Brokken und ich schlug ein muttersprachliches, aber beileibe nicht von Muttern gebilligtes »Muckefucke Seh . . .« als Schlußsatz vor.
Gesagt, getan. Unser in Eigenarbeit mühsam erstellter Bittgesang glich zwar nicht Hochwürdens wohlklingendem Kirchenlatein, doch unser Anliegen zielte ja auch eher auf Küche statt auf Kirche.
Nun standen wir auf dem Hof von Ohm Pitt-Jupp, jeder im Dorf nannte ihn so. Hier kampierten unsere Amerikaner. Da stand ihr Jeep, dort standen die Mohren. Ein behutsames Winken von uns, ein herzliches Lächeln von ihnen. Langsam bewegten wir uns aufeinander zu;
unsere Reihe war strikt militärisch, trotz des Kriegsendes, geordnet, der längste, »dat Jüppche«, voran. Und dann ertönte eher laut als schön unser Bittgesang: »Kadähm, Sallemah-bitsch, Muckefucke Seh …«.
Wir hatten noch nicht geendet, als die baumlangen Kerle sich uns entgegenwarfen; wir schrien, wollten fliehen, doch schnell hatten sie uns gepackt. Sie rollten gewaltig mit den Augen, kein Lächeln spielte mehr um ihre Lippen. Sie waren böse, gewaltig böse. Nur warum? Wegen unserer Bettelei? Ehe wir weiter nachdenken konnten, drängten sie uns in ihren
Jeep, starteten den Motor und los ging die wilde Jagd durch die Straßen des Dorfes. Wir alle fühlten dasselbe; jeder dachte an etwas anderers, aber furchtbar war es allemal.
Ruckartig hielt der Jeep. Das Gebäude, vor dem wir standen, war uns wohlbekannt. Die Haustür öffnete sich und wie eine gute Fee erschien die kleine, rundliche Pauline. Sollte Hochwürden Karl uns letzten Beistand leisten? John und Bill, so hießen unsere Mohren, griffen sich uns und führten uns ins Studierzimmer von Hochwürden. Überrascht, erstaunt, verwundert hörte er sich einen langen Schwall ihrer herausgeschleuderten sprachlichen Erregtheiten, grausam unverständlich für uns, an und dann Hochwürdens Kommando an uns: »Ab en die Küch!« Pauline nahm uns strahlend in Empfang, schon zauberte sie, fast wie selbstverständlich für eine gute Fee, belegte Brote, Kuchen, Obst und Kakao auf den Tisch. Wir langten zu, doch so recht wollte es uns nicht schmecken. War es unsere Henkersmahlzeit? Hunger und die Furcht betreffend unsere Zukunft kämpften auf einmal seltsamen Zweikampf. Dann, die Tür geht auf, es wird still, Hochwürden winkt uns in sein Zimmer. Wir drängen uns aneinander auf zwei Stühlen; aus den frechen Böckchen sind sanfte Lämmer geworden. Dann setzt Hochwürdens Predigt ein. Was wir uns denn gedacht hätten. Des Englischen aus Schulzeit hinreichend mächtig, hatte er mit John und Bill gesprochen, und schnell hatten sie in christlicher Glaubensüberzeugung eine gemeinsame Gesprächsgrundlage gefunden. John war von Beruf Gärtner und Bill arbeitete als Lehrer an einer Schule. Hochwürden erinnerte uns an seinen Sakristeisatz »Gott liebt alle Menschen«, das sei schon an der Hautfarbe des anbetenden dunkelhäutigen Königs an der Krippe deutlich. Und dann brach es über uns herein, unser weltlicher, nicht Bitt-, nein Bettelgesang zerbrach elendiglich unter seinen gewaltigen Worten:
Das hieße, bitteschön:
»Kahdähm – God Damned – Gott verdammt Sallemahbitsch – Son of a bitch – Sohn einer Hündin/einer schlechten, schlimmen Frau und … nur Muckefucke Seh … ist ja wohl verständlich!«
Hochwürden stand im Zimmer wie ein strenger, aber gütiger Richter. Unsere Gegenpartei ermahnte er, die Schimpfwörter zu unterlassen, das gehöre sich nicht. Der Vorwurf an uns beinhaltete den Tatbestand der Eselei, wobei wir glaubten, ein leises, nachgeschobenes, eher vor sich hingeknurrtes »Rindviecher« noch vernommen zu haben. Laut aber diktierte er uns die Buße:
»Jüppche, Kläusche, Bernhardche – zwei Vaterunser und zweimal >Maria, breit den Mantel aus«; und du«, dabei bohrte sich sein Zeigefinger zielgerichtet auf meinen halbleeren Magen, »vier Vaterunser und viermal >Maria, breit den Mantel aus<. Das letzte Wort kostet soviel mehr.«
Nachdenklich überlegte ich, ob es nicht doch besser gewesen wäre, Englisch zu sprechen, aber was nicht war, ließ sich ja nachholen. John und Bill lachten uns schon wieder an;
Kaugummi, Schokolade, Traubenzucker und Karfeepulver – wie von Zauberhand lagen Schätze vor uns auf dem feinen Studiertisch. Ein tiefer Diener und ein artiger Händedruck für »unsere Mohren« und unseren »Pastue«. Schon ertönte der für uns liebste Befehl: »Un ab en die Küch!«. Und hier besiegte der Hunger in wahrhaftem Kampf die Furcht, die keine mehr war.
Später schrieb Hochwürden seinen vier getreuen Meßdienern in ein kleines Meßbüchlein die Widmung: »Mit herzlichem Dank für treue Dienste in schwerer Zeit!«
Und jeder von uns erinnert sich tiefbewegt an Hochwürden, der, solange er wirkte, versuchte, den Dreiklang von Kirche, Dorfgemeinschaft und Außenwelt in Krieg und Frieden, in Tyrannei und Freiheit, zwischen Feind und Freund frei von Disharmonie, zumindest tiefgreifender, zu halten. Dabei half ihm unsere in sich festgefügte, wertgeordnete und -orientierte Dorfgemeinschaft, auch in schwerer Zeit, und sein tiefes unerschütterliches Gottvertrauen, das fundamentalen Ausdruck fand in »seinem«, in »unserem« Sakristeisatz: »Gott schuf sie alle. Gott liebt alle, auch die Irrenden.«