Das Naturempfinden des Rheinschiffers
Dr. Heinz Weber
Gewiß, der jeweilige Fortschritt der Technik hat auch der Flußschiffahrt Erleichterungen und Verbesserungen gebracht. Das Dampfschiff löste vor 150 Jahren das schwerfällige Treidel- und Segelschiff ab und ermöglichte eine Transport- und Verkehrsleistung auf dem Rhein, die niemand für möglich gehalten hatte. Die Nachfolge des Dampfbootes hat in unserer Zeit das Motorschiff angetreten, das mit seinen enormen PS-Zahlen und mit seinen hochentwickelten Nebenaggregaten sowie nautischen Hilfsmitteln (Radar, Echolot u. a.) dem Rheinschiffer die Fahrt erleichtert. Aber Schiff bleibt Schiff. Das bedeutet, daß der Rheinschiffer als Mittler zwischen dem natürlichen Element des Flusses und seinem Fahrzeug eine entscheidende Funktion ausübt. Das Schiff ist kein Sessellift, den man irgendwo in Gang setzen und den man irgendwo wieder abstoppen kann. Das Schiff bedarf der Seele, die es mit leben erfüllt, die es dirigiert und weist. Im Gegensatz zu den Kanälen ist der Rhein eine natürliche Wasserstraße voll geologischen Lebens und Veränderungen im Strombett, im Wasserlauf und in der Uferformung. Dieses organische Leben des Flusses erfordert vom Rheinschiffer eine wache Anpassungsfähigkeit. Der Rheinschiffer ist mit seinem Empfinden und Gefühl völlig mit der wortwörtlichen Fluktuation des Stromes verwachsen und verbunden, ja, er lebt nicht nur auf ihm, sondern auch in ihm und mit ihm. Wenige Berufe sind so naturverbunden wie der des Schiffers, vielleicht noch der des Landwirts, des Försters oder des Fischers.
In vielen äußeren Erscheinungen kommt die Naturverbundenheit des Rheinschiffers sinnfällig zum Ausdruck. So wie der Bauer im täglichen Sprachgebrauch seine Äcker nicht katastermäßig nach Flur B, Parzelle 42 bezeichnet, sondern sie bei oftmals jahrhundertealten und heute vielfach nicht mehr zu deutenden Namen nennt, z. B. auf dem Grind, vorm Pesch, hinterm Meer, unterm Schleif, so fährt auch der Rheinschiffer nicht nach Kilometern — obwohl schon länger als 100 Jahre in großen Ziffern an den Rheinufern Kilometerzahlen zu lesen sind, z. B. in Rolandseck 640, in Remagen 634, in Brohl 620, sondern er spricht vom Goldkopf, vom General, vom Luftball, vom Schreckling, vom Jungferngrund, vom Bopparder Hamm, vom Schnepfenörtchen, vom Gänsepförtchen, von der Pfaffenmütze, vom Wallerort, vom Guten Mann usw. Die technisch orientierte Kilometerangabe ist dem zünftigen Schiffer nicht geläufig, sie ist für ihn keine Lokalisierung; er verwendet sie bestenfalls in Havarieberichten. Unter Kilometern kann er sich nichts vorstellen. Er lebt in der Flußlandschaft des Rheins. Denn die Flußfahrt ist für den Rheinschiffer nicht so sehr eine Angelegenheit der Technik oder Metrik, sondern ein ständiger und oftmals harter Kampf gegen das Element der Strömung, also gegen die natürlichen Eigenschaften und Eigenheiten des Rheins.
Wäre der Rhein eine schnurgerade Wasserstraße mit stets gleichbleibender Wasserführung, dann wäre der Kampf ziemlich harmlos. Aber der Rhein hat nicht nur von Basel bis zur Mündung ein Gefalle von 246 m, sondern auch verschieden starke Strömungen durch Krümmungen, Felsen, Schwellen, Bänke, Gründe, Hoch- oder Niedrigwasser und zeigt Widerwärtigkeiten durch Nebel, Nehre und Wirbel. Abgesehen von einigen Teilstrecken des Rheins, wo es heißt: Rechts fahren, orientiert sich der Schiffer oder Kapitän oder Steuermann nach der Natur, d. h. in der Bergfahrt nach dem Gesetz des geringsten Widerstandes (geringste Strömung) und in der Talfahrt nach dem Prinzip der großen Bögen (stärkste Strömung). Diese beiden Gebote zwingen den Rheinschiffer, die Voraussetzungen des bestmöglichen Effektes der Natur des Flusses abzulesen und abzuringen. Hinter einem Grund ist die Strömung geringer als in der Mitte des Flusses; wie weit aber der Schiffer dem Grund sich nähern darf, ohne festzufahren, das sieht der Schiffer der Wasseroberfläche ab. Kräuselndes Wasser läßt auf Untiefen schließen, wobei wieder unterschieden werden muß, ob das Kräuseln vom Wind herrührt oder von der Sohle. Das sieht der Laie nicht, das sieht nur das durch jahrelanges Beobachten geübte Auge des Fahrensmannes. Man kann dieses Naturgefühl des Flußschiffers in etwa vergleichen mit dem Segelflieger, der ebenfalls ein Gespür haben muß für Winde, die ihm schaden, und solche, die ihm nützen.
Wer vom Rheinufer in Remagen aus die Rheinschiffahrt beobachtet, wird bestätigt finden, daß die Schiffe, die bergwärts von Unkel kommen, etwa in Höhe der Apollinariskirche von der rechten zur linken Rheinseite wechseln, um die geringere Strömung unmittelbar am Remagener Ufer auszunutzen, während die Talfahrer in der Mitte des Flusses die stärkste Strömung sich zunutzemachen. Von Kripp aus kann man beobachten, wie die Bergfahrer das rechte Ufer anhalten, um von der geringeren Strömung hinter dem Ahrgrund zu profitieren. Der Rheinschiffer sieht der Trübung des Wassers an, ob es fällt oder steigt. Als pünktliche Hochwasserzeiten sind ihm die »Adventsflut« Anfang Dezember und die Frühjahrsschmelze von März bis Mai feste Begriffe. Wenn nach einem starken und langanhaltenden Hochwasser die Fahrt wieder aufgenommen wird, erkennt der Schiffer sehr schnell, wo Geröllverschiebungen die Fahrrinne verändert haben. Er merkt auch sofort, wenn Hafen-, Brücken- oder Uferbauten die natürliche Wasserführung beeinträchtigt und Verlagerungen des Wasserlaufs herbeigeführt haben. Er weiß auch, daß bei Nebel das Wasser fällt. »Der Nebel frißt das Wasser auf«, sagt er. Er kennt auch die Stellen im Rhein genau, wo sich bevorzugt Nebel bildet und hartnäckig hält. So im sogenannten Andernacher Loch, bei Mondorf an der Siegmündung, an der Wuppermündung, im Boppar-der Hamm und an vielen anderen Plätzen. Wenn bei Mittel- bis Hochwasser die Kribben und Buhnen überspült sind, erscheint dem Unerfahrenen die Wasseroberfläche von Ufer zu Ufer einheitlich; der Schiffer aber sieht dem Verhalten des Wassers über diesen Bauwerken an, daß unter Wasser Hindernisse sind. Zwar gibt es Markierungen mit Bojen, Baken, Tonnen oder Tafeln, diese Hilfsmittel sind jedoch nicht überall angebracht und werden oft von der Strömung über Nacht weggerissen. In ganz besonderem Maße ist der Rheinschiffer in der Dunkelheit auf sein Naturempfinden angewiesen. Rein gefühlsmäßig spürt er den Abstand seines Schiffes vom Ufer, ja, er hört am Rauschen des Wassers, das sein Schiff teilt, ob er genügend Wasser unterm Schiffsboden hat oder ob es zu knapp geworden ist. Das Horchen in die Natur des Rheins ist nicht aus Büchern zu lernen oder in Lehrsälen zu hören, es muß erlebt, es muß »erfahren« werden. Seit Generationen steckt die Flußverbundenheit im Fleisch und Blut der Rheinschiffer, ein wertvolles Kapital, das weder durch Automation noch durch Perfektion, noch durch Computer ersetzt werden kann.