Danzig und sein herrliches Vorland

VON H. O. OLBRICH

In jenen Zeiten, da unsere Vorfahren am Rhein regen Anteil nahmen an den Früchten des zu höchster Blüte emporgestiegenen Kaisertums in Deutschland, lag über dem ganzen Osten unseres Vaterlandes noch ein fast undurchdringliches Dunkel. Nach der Jahrtausendwende, als das Abendland also seine erste Blütezeit erlebte, begehrten die slawischen Nachbarvölker des Ostens teilzuhaben an den kulturellen und wirtschaftlichen Errungenschaften des Westens. Slawische Fürsten wandten sich an die deutschen Nachbarstämme und beriefen Bauern und Bürger in ihre Länder. Die ersten und bedeutendsten Kulturpioniere Schlesiens, Pommerns und Westpreußens waren die Zisterziensermönche. Als ersten kulturellen Mittelpunkt legten sie im ehemaligen Pommerellen (Ostpommern) 1178 das Kloster Oliva an (anschließend 1258 das Kloster Pelplin und das Kloster Krone an der Brahe). Die Zisterzienser machten die pommerschen eingeborenen Bauern mit den Methoden der Dreifelderwirtschaft bekannt und lehrten sie, Ödland und Moore in fruchtbares Ackerland umzuwandeln. Die christliche Kultur des Abendlandes ist es gewesen, welche den unwirtlichen Räumen des Weichsellandes ihr heutiges Gesicht gab. Die Mönche im grauen Kleid und später folgend die Ritter vom Deutschen Orden waren die Sendboten dieser Kulturepoche.

Danzig
St. Marien

Die Begründung der Hansestadt Lübeck 1143 durch den Grafen Adolf von Holstein war eine Tat von größter weltgeschichtlicher Bedeutung, denn Lübeck wurde das Ausfalltor für deutschen Wagemut, für den deutschen Handel fern im Osten Europas.

Auf diesen Reisen nach Rußland an der Küste der Ostsee entlang benötigten die deutschen Kaufleute Stützpunkte für ihre Schiffe. Eine der bedeutendsten Flottenstationen wurde damals unweit der Mündung der Weichsel die spätere Stadt Danzig, die Ende des 12. Jahrhunderts die Stadtrechte erhielt. Die deutschen Kaufleute, die zumeist aus dem Raum Lübeck und aus dem damals deutschen Holland kamen, schlossen sich hier zu einer deutschen Stadtgemeinde zusammen. Die Mönche des benachbarten Klosters Oliva und der Deutsche Orden von Kulm aus reichten dieser jungen deutschen Stadt hilfreich die Hände. Mit dem Streben nach immer größer werdender Selbständigkeit und wirtschaftlicher Bedeutung gestalteten sich die Handelsbeziehungen von Danzig zum benachbarten Polen von Jahr zu Jahr reger und enger.

Ende des 14. Jahrhunderts begründeten Danziger Kaufleute die Handelsniederlassung in Kauen (Kowno) in Litauen. Diese Gründung ermöglichte es den Danzigern, den gesamten Aus= und Einfuhrhandel mit Litauen und Polen zu beherrschen. Danziger Handelsschiffe brachten Getreide, Holz, Honig, Wachs und Pelzwerk über die Ost= und Nordsee nach den westlichen Ländern Europas und führten Güter des Westens in die Ostländer ein. So entwickelte sich Danzig rasch trotz vielfacher Störungen durch kriegerische Handlungen mit den Nachbarn zur Königin der Ostsee. Es gab einmal eine Zeit in Danzig, da konnten die schwerreichen Kaufherren das Gold mit Scheffeln messen. Die Lagerräume auf der Speicherinsel waren bis unter den First mit schweren Kornsäcken gefüllt, und in den weiten Hausfluren der prächtigen, hohen Giebelhäuser lagerte wertvolle Ware in Mengen. In der Zeit des großen Wohlstandes wurde der Bau der gewaltigen Marienkirche und des herrlichen Rathauses begonnen. Gleichsam als Sinnbild des Reichtums und der Macht wurde 1444 das Krantor gebaut, das seine ursprünglichste Gestalt bis in die letzten Tage bewahrt hat und zum eigentlichen Wahrzeichen der Hansestadt geworden ist. Zahlreiche Dichter haben im Verlauf der Zeiten die überaus großen Schönheiten Danzigs besungen und sie als eine der schönsten Städte gepriesen. Ein Gang durch die herrlichen Straßen und Gassen der Stadt offenbarte den Atem seiner stolzen Vergangenheit mit dem Lebensgefühl der Gegenwart. Das Antlitz Danzigs trug tiefe Furchen harten Erlebens, aus denen man seine bewegte Geschichte abzulesen vermochte. Davon wußten die vielen Bauten zu künden, die als beredte Zeugen der Vergangenheit in die Gegenwart hineinragten. Die schwersten Wunden erlitt jedoch Danzig im letzten Kriege. Der ganze Zauber einer vergangenen Zeit klingt wieder auf, wenn wir unseren Schlesier Josef Frhr. von Eichendorff über Danzig hören:

Dunkle Giebel, hohe Fenster,
Türme tief aus Nebeln sehn.
Bleiche Statuen wie Gespenster
lautlos an den Türen stehn.

Ringsher durch das tiefe Lauschen
über alle Häuser weit,
nur des Meeres fernes Rauschen —
wunderbare Einsamkeit.

Träumerisch der Mond drauf scheint,
dem die Stadt gar wohl gefällt,
als lag‘ zauberhaft versteinert
drunten eine Märchenwelt.

Und der Türmer wie vor 1000 Jahren
singet ein uraltes Lied.
Wolle Gott den Schiffer wahren,
der bei Nacht vorüberzieht!

Der Umfang dieser Schilderung gestattet es leider nicht, aus der Fülle und Vielheit der großen und schmucken Bauwerke eine größere Anzahl zu betrachten. So wenden wir uns nur einigen wenigen Baudenkmälern zu und stehen zunächst vor der gewaltigen St. Marienkirche, der fünftgrößten Kirche der Welt mit dem berühmten Gemälde von Hans Memling „Jüngstes Gericht“.

Neptunbrunnen vor dem Artushof

„Es steht eine Kirche im Osten am
Weichselstrom, Wie eine Gottesburg wächst der rote,
ragende Dom Aus dem steinernen Zwang der
schmalen Gassen empor; Gottes Unendlichkeit, steingewordenes
Tor.“

Der Bau des herrlichen Rathauses mit dem hohen, schlanken Turm wurde 1378 begonnen. Er war die Beratungs= und Repräsentationsstätte des Rates der reichen Stadt Danzig.

Benachbart stehen die schönsten und prunkvollsten Danziger Bürgerhäuser mit goldgezierten Fassaden und figurenbesetzten Ziergiebeln.

Hier steht auch der Artushof mit der reichgeschmückten Halle, in der die Artusbruderschaften und später die Zünfte und die Kaufmannschaft seit Jahrhunderten tagten. Und davor liegt der zierliche Neptunsbrunnen mit dem Dreizack, der von vielen Sagen umwoben ist.

Danziger Rathaus

Wenn man die Gassen entlang wanderte, mußte man immer wieder staunend verharren, denn man war versucht, hinter die blinkenden Scheiben der prächtigen Häuser zu schauen, in die Kontore zu blicken, in denen die Danziger Kaufherren die Fäden ihrer weitausgespannten Handelsbeziehungen zusammenknüpften. So führt uns unser Gang durch die Stadt an zahlreichen geschichtlichen Bauten vorbei, und sie künden in ihrer Sprache von dem Geist, der Danzig einst groß und mächtig gemacht hat. Doch, wer diese herrliche Stadt über alle Einzelheiten hinweg in ihrer Ganzheit und Schönheit fassen wollte, der mußte von der Plattform der Marienkirche hinab und rundum das Gewirr der Türme vind Giebel und Gassen schauen, wie sich die einzelnen Stadtteile organisch zusammenfügten zu einem spürbaren Kraftzentrum deutscher Kultur, trotzig in der Wucht seiner Bauten. Aber unsere Blicke schweifen weiter. Da liegen am Rande der Stadt die Werften mit ihren massigen Docks und Kränen, dahinter die Hafenanlagen und Kais, die Silos und Speicher und die Schiffe vieler Nationen.

Im kühnen Bogen stößt die Küstenlinie der Danziger Bucht zum Horizont; ein Kranz von Seebädern und Fischerdörfern säumt die blaue See. Man kann die Halbinsel Hela, die Küste bei Zoppot, Weichselmünde, Heubude und die Frische Nehrung sehen. Auch die Brücke von Dirschau war gut zu erkennen. In dieser Richtung tastet sich der Blick über die Weite des Niederungsgeländes, über das fruchtbare Werder und hin zu den Kuppen der Danziger Höhe. So liegen Stadt und Land, Wald und See vor uns ausgebreitet und vereinigen sich zu einem landschaftlichen Bild von ganz besonderem Reiz.

Die Perle im Kranze der Ostseebäder ist Zoppot. Dieser Badeort mit seinem einmaligen Seesteg und dem prachtvollen Kurhaus (mit Spielbank, die bekanntlich von Zoppot nach Bad Neuenahr verlegt worden ist), war von lieblichen Dünenwäldem mit gepflegten Geh= und Reitwegen, mit reizvollen Ausflugszielen umgeben. Weltbekannt war hier die Waldbühne, eine Naturbühne, die ein zweites Bayreuth darstellte und fast ausschließlich Wagner=Opern auf ihrem Programm hatte. Die bedeutendsten Wagner=Sänger und =Sängerinnen der größten deutschen Bühnen gaben sich hier alljährlich Anfang August ein Stelldichein. Diese einmaligen großartigen Aufführungen waren regelmäßig von Zehntausenden des In= und Auslandes besucht.

Das bäuerliche Vorland Danzigs war das Große Werder, das den Raum zwischen Weichsel, der Nehrung und der Nogat ausfüllte. Große Bauerndörfer zogen sich im Schutz der Deiche und an vielen Kanälen und Gräben entlang, die einst von Wasserschöpfwerken und Windmühlen begleitet waren. Fruchtbare Weizen= und Rübenfelder, saftige Koppeln mit hochgezüchteten Pferden und Weiden mit Schwarzbuntvieh erfüllten die Landschaft. Hier fand man noch zahlreiche Bauernhäuser der alten Bauart mit den „Vorlauben“. Beschließen wir nun unsere Betrachtung mit dem eingangs genannten Kloster Oliva, der ältesten Städte deutscher Kultur im Weichselland. Die altehrwürdige Klosterkirche war seit den Anfängen des 12. Jahrhunderts der Mittelpunkt der Christianisierung Pommerellens. Als 1926 ein katholisches Bistum in Danzig gegründet wurde, stand die Klosterkirche von Oliva nunmehr als Kathedrale erneut im Mittelpunkt der Kirchengeschichte Danzigs. Danzig wurde mit vollem Recht das nordische Venedig genannt. „Wer das alte Danzig und Deutschlands mittelalterliche Städte kannte, wird aus voller Überzeugung bekunden können, daß es von der Reinheit jener unnachahmlich schönen deutschen Bauart mit den vielkantigen und ausgezackten Türmen, den mit Spitzbogen verzierten Fenstern, den hochemporragenden Zinnen erfüllt war.“. Die Kriegsfurie raste über Danzig und sein herrliches Vorland dahin. Wieviel von der Herrlichkeit, dem Wohlstand und deutschem Schaffen ist ihr zum Opfer gefallen! Ohne zu verzweifeln oder uns in das „Unvermeidliche“ fügen zu wollen, behalten und bewahren wir allen Gewalten zum Trotz jenen Geist, der so Großes schuf in jenen Landen. Möge er weiter leben und einst nach göttlichem Gesetz auch dort wieder wirksam werden können!

„Heimat ist nicht Hülle und Gewandung, die man wechselt, die ein Sturm zerstört. Heimat ist ein Schicksal, Grund und Landung, was uns tiefst und ohne Tod gehört.“

(Gertrud vun der Brinken)