Christfest 1945
Letzte Kriegsweihnacht – erste Friedensweihnacht?
P. Dr. Emmanuel v. Severus OSB
Im Gespräch mit Menschen jüngerer Generationen wurde ich in den letzten Jahren manchmal gefragt: Und was war 1945 das schwerste für Sie? Die fragenden jungen Menschen sind in ihrem Interesse meist sehr verschieden motiviert. Meist wissen sie nicht, daß unter der Diktatur des Dritten Reiches auch Priester und Ordensleute zur Wehrmacht eingezogen wurden und man sich diesem Zwang nicht entziehen konnte. Wehrdienstverweigerung hätte nicht nur das Konzentrationslager bedeutet. sondern unter Umständen den Tod. Im Falle eines Ordensangehörigen hätte es oft neben der Sippenhaft der persönlichen Familienangehörigen auch wenigstens die der Obern bedeutet. War dies zu verantworten? Durfte man ältere und alte Mitbrüder solchen Gefährdungen, Härten und Grausamkeiten aussetzen. von denen man in letzter Klarheit nur mehr ahnte als wußte? Das waren gewiß schwerere Konflikte und Entscheidungen als die Härten des Rückzugs und der Gefangenschaft: aber niemand konnte ahnen, daß es auch nach dem Schweigen der Waffen, nach der Heimkehr Erlebnisse geben würde, die sich als ungeahnte Last auf Gemüt und Herz legten. Dazu gehört für den Schreiber dieser Zeilen das erste Weihnachtsfest nach Kriegsende – eine Situation, deren Folgen wir heute noch zu tragen haben und die auch in ihrer örtlichen Begrenztheit nicht vergessen werden sollte.
Es war etwa Mitte November 1945. Der Prior der Abtei Maria Laach, damals P. Theodor Bogler, ließ mich rufen und sagte mir in der für ihn charakteristischen väterlichen Güte. aber auch in der soldatischen knappen Klarheit des alten Offiziers: »Ich habe einen schweren, aber schönen Auftrag für Sie: Sie sollen für die deutschen Kriegsgefangenen in unserem Hause die Weihnachtsfeier einschließlich eines Gottesdienstes veranstalten.« „Deutsche Kriegsgefangene in unserem Hause« – das waren jene etwa dreißig Soldaten der ehemaligen Wehrmacht, die auf der Basis der französischen Luftwaffe in Mendig die verschiedensten Arbeiten leisten mußten, ihre Unterkunft aber in Maria Laach gefunden hatten, wo ja auch der französische Stab Quartier bezogen hatte. Die Besatzungsmacht hatte für sie das Untergeschoß der Klosterschreinerei beschlagnahmt. Aber ein Kontakt mit ihnen war ausgeschlossen; denn der Stacheldraht war ebensowenig vergessen wie die französische Bewachungsmannschaft vor dem Hause und auf der Fahrt auf dem Lkw zum Flugplatz Mendig. P. Th. Bogler aber hatte das richtige Empfinden: Im eigenen Vaterlande Gefangener zu sein war ein härteres Schicksal als in fremden Ländern im Lager zu sein. Aber noch andere Überlegungen kamen hinzu: Konnte die klösterliche Gemeinschaft zum ersten Male nach fünf Jahren Weihnachten im alten Lichterglanz, mit vollem Glockengeläut und der liturgischen Prachtentfaltung der Friedensjahre feiern und nicht an diese dreißig Landser denken? Sie an der Feier der Mönche und Gläubigen teilnehmen zu lassen war ausgeschlossen. So verhandelte der Prior des Klosters im Auftrag des schon kranken Abtes lldefons Herwegen (+ 1946) mit den verantwortlichen Instanzen der Besatzungsmacht. Und diese zeigten sich entgegenkommend. Zwei Abendstunden des 24. Dezember durften für die Weihnachtsfeier der Gefangenen reserviert werden.
Ich gestehe, daß ich den Auftrag gerne annahm, mich dabei aber auch Illusionen hingab, von denen wohl P. Bogler auch nicht frei war. Gottesdienste, die ich in Rußland im Kirchlein an der Rollbahn Brjansk – Orel gefeiert hatte, konnten nicht Beispiel sein: denn dort kamen nur katholische Landser der Armee-Einheiten hin, die einem bald bekannt und vertraut waren. Und die Domobranen und italienischen Hilfswilligen, die im bosnischen Bihac meine letzte Weihnachtsmesse 1944 mitgefeiert hatten. kamen aus Regionen, in denen die katholische Kirche noch Volkskirche war. Aber diese dreißig Landser? Waren sie katholisch? Waren sie evangelisch? Waren sie „bekennende«. waren sie „Deutsche Christen“? Waren sie Rheinländer. Bayern. Sachsen? Dies alles war vorerst nicht herauszufinden. Aber ich hoffte eines: Sie würden alle kommen – aus der mir wohlvertrauten Gemütsstimmung und Verhaltensweise der Kriegsgefangenen: Wir machen alles mit, was die Öde des Gefangenenalltags unterbricht und was die wehmütigen Gedanken an die Heimat wenigstens für kurze Zeit verdrängt. Aber spätestens beim geplanten Gottesdienst oder danach würde ich es erfahren. Die Weihnachtsmesse war nun gewiß der leichtere Teil meiner Aufgabe – aus ein paar alten Feldgesangbüchern konnte man den Liedrahmen so herstellen, daß alle mitmachen konnten. Und aus den Erfahrungen meiner Rollbahnmessen in Rußland wußte ich auch. was deutsch möglich, was lateinisch möglich war (wir lebten ja in der Zeit vor der Liturgie-Erneuerung!). Und die Predigt? Wie schon in der Verwundetenauffangstelle auf dem Bahnhof Brjansk-Ost oder in der dachlosen Turnhalle in Bihac, von deren Mauerresten herabhängende Eiszapfen den „Kirchenschmuck« bildeten, war es nicht allzuschwer, den Kameraden zu sagen: »Hier ist unser Bethlehem, hier ist unser Haus des Brotes, auch in diese Armut und in solches Elend kommt der Retter, um unser Elendsschicksal zu teilen.« Wie aber war es mit dem menschlich-kameradschaftlichen Wort hinter dem Stacheldraht, hinter den der französische Wachposten uns zurückführte? Einer meiner Mitbrüder hatte für jeden der dreißig Kameraden ein neues Hemd »organisiert« und ein paar Tropensocken aus altem Wehrmachtsbestand. Ich hatte herausgefunden, daß man auch den Laacher Apfelwein, Viz im Volksmund genannt, mit etwas Zucker und Muskatrinde zu einem »Glühwein“ aufbessern konnte. Aber an Worten blieb mir nicht viel als die kleinen, tastenden Fragen nach dem Woher? Und das war das eigentlich Schwere und Lastende dieses ersten Weihnachtsabends in der Waffenruhe: Die meisten meiner Kameraden kamen aus der »Zone«. Monatelang waren sie ohne Nachricht von ihren Angehörigen; niemand wußte, was an Wahrheit hinter allen Gerüchten über die Schrecken in der russischen Besatzungszone stand, deren Name das einzig Wirkliche für die Thüringer und Sachsen für die Heimat war, zu der es keine Verbindung gab. Weil die Zukunft so ungewiß und dunkel war, konnte und wollte niemand von der Gegenwart sprechen, und die Landservergangenheit war in der abgrundtiefen Enttäuschung des gnadenlosen Zusammenbruchs des bisherigen Lebens versunken. Gewiß hatte unser gemeinsamer Weihnachtsgottesdienst einen winzigen Funken von Hoffnung entzündet. Offenbar gab es Werte und Einrichtungen, die dauerhafter waren als die trügerische Verheißung eines „lOOOjährigen Reiches. Aber nur wenige ahnten etwas von der Möglichkeit, dazu Zugang zu gewinnen. Kirche und erst recht »katholische Kirche« war in dieser abendlichen Runde sehr fremd. Ich kam mir sehr hilflos und ohnmächtig vor. War dies die erste Friedensweihnacht? Wo blieb das naive Vertrauen auf meine Fähigkeiten und mein menschliches Können und Leistungsvermögen? Ich hatte es in den Kriegsjahren schon oft erfahren: Darauf darfst du nie vertrauen. Aber diese Erfahrung war selten so schmerzlich und niederdrückend.
Der französische Wachposten sagte den Zapfenstreich an, bevor alle möglichen Erinnerungen ausgetauscht und alle Fragen ausgesprochen werden konnten, von möglichen Antworten gar nicht zu reden. Erste Weihnacht mit Gefangenen im eigenen Vaterland – ich hatte noch die Möglichkeit, zur Festfeier der Mitbrüder ins Laacher Münster zu gehen. Die alten Prophetenworte von der Vergänglichkeit des Lebens im Bild des welkenden Grases klangen diesmal noch geheimnisvoller als sonst. Aber ich wußte: In der Erfahrung der Trostlosigkeit im Gefangensein, in der Ungewißheit über Menschen und Orte war mir eine wichtige Erfahrung geschenkt worden: Nicht das eigene Können zählt, sondern was Gott gewährt und schenkt. Von den Kameraden habe ich nur in zwei Fällen wieder etwas gehört, Abgesehen davon, daß Kontakte nicht möglich waren – die französischen Besatzungskontingente wechselten häufig und rasch ihren Standort. Die Sorge um das tägliche Brot und die Arbeit, um die Heimkehr und die Familien ließen wohl auch die kurze Begegnung mit einem Mönch im Rheinland vergessen, der auch ein Lernender war.