Beerensammeln im Kempenicher Ländchen
Manfred Becker
Arm waren die Menschen in vergangener Zeit im Bereich der Hocheifel und auch im Kempenicher Ländchen. Die Kleinbauern und Tagelöhner waren oft auf das Sammeln von Beeren und Pilzen angewiesen, damit das tägliche Brot garantiert war. Nach dem 2. Weltkrieg habe auch ich eine Zeit erlebt, in welcher die Beerenernte sehr wichtig war.
Während des Krieges war der Bereich des ehemaligen Luftwaffenübungsplatzes Ahrbrück für Zivilisten gesperrt. Mit einem Beerensuchschein war man berechtigt, für Stunden in den Randgebieten des militärisch genutzten Bereiches Beeren zu suchen. Hiervon wurde jedoch kaum Gebrauch gemacht, weil die Gefahr durch Tiefflieger, vor allem im letzten Kriegsjahr, äußerst groß war.
Als jedoch der furchtbare Krieg vorbei war und die Menschen sich wieder frei bewegen konnten, waren zur Beerenzeit die Wälder voller Menschen, die die kostbaren Beeren sammelten. Schon im Frühling gingen wir mit den Eltern, oder mit dem Lehrer, in den Wald und zur Heide, um den Blütenstand der Beeren zu erkunden, besonders in den Tagen zwischen dem 11. und 15. Mai. In diesen Tagen treten in den Mittelgebirgen häufig Kälterückfälle auf.
Wie durch ein Wunder blieben in den Jahren 1945 bis etwa 1950 die sogenannten Eisheiligen aus. Marmertus, Pankratius, Servatius, Bonifatius sowie die »kalte Sophie« verschonten uns in diesen Jahren, was uns oft den notwendigsten Lebensunterhalt sicherte.
In den ersten warmen Maitagen blühten an den Wiesen- und Feldrainen die wilden Erdbeeren. Vorsichtig wurde das Unkraut um die zahlreichen Rosengewächse entfernt, damit die Bienen die kleinen, weißen Blüten befruchten konnten. Wir wollten in unserer kindlichen Gedankenwelt der Natur helfen, damit diese uns in Form ihrer Früchte die Hilfe belohnen solle.
In der Heuernte waren dann die Erdbeeren reif. Während die Eltern im Heu arbeiteten, gingen wir Kinder daran, die köstlichen, roten Beerchen zu sammeln. Nur für uns Kinder waren die Beeren interessant, denn ihr Vorkommen war nur begrenzt.
Anders wurde es allerdings um „Weiberner Kirmes“. Spätestens nach dem Feste der Weiberner Schutzheiligen Peter und Paul zogen ganze Familien morgens in aller Frühe mit Eimern und Körben zum Dorf hinaus. Jetzt waren die Wald- oder Heidelbeeren reif, die vor der Währungsreform ein begehrtes Tauschobjekt darstellten und später, nach der Währungsreform, gutes Geld einbrachten. In den Bereichen um unser Dort. auf der »Wolfskaul«. oder in der »Erbheck« suchten die älteren Menschen mit Kleinkindern nach Beeren. Diese Plätze waren immer überlaufen, so daß hier keine reiche Beerenernte zu erwarten war. Die übrigen Bürger, einschließlich der Jugendlichen, zogen weit hinaus in die Wälder und auf die Heideflächen im Bereich des ehemaligen Luftwaffenübungsplatzes. Die Wanderung bis zum Ernteplatz dauerte meist um die 2 Stunden. Daher ging man morgens schon zwischen vier und fünf Uhr los, um möglichst der Erste im Gebiet zu sein. Meist war es in der Frühe noch recht kühl und neblig.
Ich erinnere mich noch recht gut an einen Sommertag im Jahre 1947. Die Sonne drang gerade durch den Nebel, als unten im Tale Ruinen auftauchten, vom frühen Licht in einem geheimnisvollen rotbraun leuchtend. Es waren die Ruinen der ehemaligen Gemeinde Cassel, deren Einwohner im Jahre 1939 evakuiert wurden, genau wie die Bevölkerung von 11 weiteren Ortschaften. Bald hatten wir den 610 m hohen »Hühnerberg« erreicht und wir waren umgeben von Heidelbeersträuchern, soweit man sehen konnte nur Heide. Die dunkelgrünen Sträucher hingen voll von schwarzblauen Beeren. Nun begann die mühselige Ernte. Hatte man ein Gebiet erreicht, das noch nicht von Beerensuchern heimgesucht war. konnte man in der Stunde etwa ein Pfund Waldbeeren ernten. Oft reichte es jedoch an einem langen Tag, von morgens bis zum Spätnachmittag, nur zu einem Körbchen mit 6 – 7 Pfund Beeren. Mittags brannte die Sonne erbarmungslos vom wolkenlosen Himmel. Der Durst wurde unerträglich. Mit Erlaubnis der Älteren suchte man dann nach einer Quelle, die tief unten im Tal lag. Steil gings den Berghang hinunter und das kühle Quellwasser schmeckte vorzüglich. War man jedoch den Steilhang wieder hochgestiegen, stellte sich prompt der alte Durst wieder ein. Mitunter tobten schwerste Gewitter und man suchte im nahen Wald Schutz. Trotzdem war man durchnäßt bis auf die Haut. Wurde es dann wieder warm. waren jedoch die Kleider schnell wieder trocken. Wenn allerdings nach einem Gewitter das Wetter umschlug und eine
Schlechtwetterperiode folgte, dann konnte man den Heimweg antreten und alle Mühe war umsonst.
Auch im Bereich des »Bockshahn«, oberhalb von Spessart, nördlich der »Kohlstraße«, suchten wir nach Heidelbeeren, oder auf dem »Düsselsberg« bei Blasweiler. Das klassische Waldbeergebiet war jedoch um und auf dem 668 m hohen »Schöneberg«. Hier lagen oft hunderte Menschen, um die kostbaren Beeren zu sammeln. Viele kamen aus der Mayener Gegend, aus dem Brohltal, ja sogar vom Rhein, um die Beeren zu pflücken. Es war die reinste Völkerwanderung.
Nach der Währungsreform kamen die Beerenkäufer mit ihren Fahrzeugen bis zur Heide und kauften die Beeren auf. In dieser Zeit blieben wir im Erntegebiet. Hatten wir einen Korb voll, wurde der Inhalt für gutes Geld verkauft und mit dem Pflücken von neuem begonnen.
Im Dorf wurden die Beeren an Sammelstellen aufgekauft. Man achtete genau darauf, wo man einen Pfennig mehr für das Pfund »Worpele« bekam. Der gesamte Erlös machte ohnehin nur einige Mark aus. Das größte Gewicht brachten die Beeren zwar, wenn sie naß waren. Aber sofort gab es beim Aufkäufer Abzüge. Wir lieferten die Beeren meist beim »Köbes« in Kempenich ab. Jakob Schmilz hatte große Fässer in seinem Obst- und Gemüseladen stehen, voll mit köstlichen Früchten. Hatte er seine Gefäße voll, die er morgens nach Bonn auf den Markt mitnahm, dann mußte man sehen, wo man seine Beeren los wurde. Aber auch die Raiffeisenbank oder »Schneidemattes Will« hatten Ankaufplätze für Beeren eingerichtet. Wurde man die Beeren nicht los, wurden sie für den Eigenbedarf eingemacht. Abends gab es meist den geschmackvollen, würzigen Waldbeerkuchen, eine Köstlichkeit in diesen armen Tagen. In die Zeit der Waldbeerenernte fiel auch die Zeit der Pilze. Der Pfifferling, dieser goldgelbe, würzig schmeckende Blätterpilz, stand in den Laubwäldern oft zwischen den Waldbeersträu-chern und wurde dann natürlich mitgenommen. In früheren Jahren gab es noch viele eßbare Speisepilze in unseren Wäldern. Diese Zeiten sind längst vorbei, obwohl heute nicht mehr so viele Menschen die Wälder bevölkern, wie in jenen Jahren. Ob auch der Rückgang der Pilze auf die Umweltschäden zurückzuführen ist? Schlimm an der Beeren- und Pilzsuche war das Schleppen auf dem Heimweg, denn das »Gut« mußte unversehrt nach Hause gebracht werden. Sehr müde war man nach einem solchen Arbeitstag. Doch brachte der nächste Tag schönes Wetter, ging es wieder hinaus in die Natur. Erholsam und gesundheitsfördernd waren die Tage auf der Heide allemal.
Ein süßwürziges Beerenobst ist die Himbeere. Kaum war die Heidelbeerernte abgeschlossen, waren die Himbeeren reif. Jetzt waren die Wege nicht mehr so weit, um die Beeren zu finden. Riesige Waldlichtungen in Dorfnähe standen voller Sträucher, so im »Scheidgen«, im »Bruch« oder auf dem »Hilsberg«. Auch die Ernte war lohnender, denn die Früchte waren größer und besser zu pflücken. Schneller hatte man seinen Eimer voller Beeren. Oft ging man morgens und gegen Abend zum Beerensammeln und man mußte nicht in der größten Mittagshitze draußen sein. Der Saft dieser Himbeeren war besonders schmackhaft und wurde von uns Kindern gerne, mit Zucker gesüßt, getrunken. Auch die Himbeeren wurden an den Sammelstellen aufgekauft und in großen Fässern zum Verkauf auf die Märkte der Städte transportiert. Meist kam die naturgesüßte Ware in die Marmeladenfabriken oder wurde zu Fruchtsaft verarbeitet.
Im Spätsommer kam dann die Ernte der Brombeeren. Die schwarzen Beeren schmeckten ganz vortrefflich und man hatte schnell einen Eimer voll. Ein 10-Liter-Eimer war meist an wenigen Hecken in ca. 3 Stunden voll. Oft mußte man die Hecken suchen, da diese vereinzelt in der Gegend standen. Viele Brombeerhecken gab es in der »Springhardt« und im Kempenicher Bachtal, oder auf »Wollrathskopf«. Der Saft oder das Gelee der Brombeere, waren und sind ein großes Heilmittel bei Erkältungskrankheiten und daher beim Volk sehr beliebt. Hatte man einen Bereich mit jungen Hecken gefunden und die Sommertrockenheit war nicht zu groß gewesen, so waren die Beeren vielzählig und dick und erbrachten eine reichhaltige Ernte. In einem Jahr gelang es mir, zwei Zentner Brombeeren zu ernten.