Aus dem Leben eines Wershofener Eierkrämers
Peter Weber
Um neunzehnhundertdreißig brachte ich allwöchentlich unsere Überschüsse an Butter und Eier zu einem sogenannten Eierkrämer im Dorf. Es gab mehrere dieser Zunft in Wersho-fen. Ihre Tätigkeit bestand darin, im Laufe der Woche im Dorf und in Nachbargemeinden Butter, Eier, Geflügel oder Schinken aufzukaufen und diese Erzeugnisse vom Lande am Wochenende an städtische Haushalte zu verkaufen. Alle Eierkrämer betrieben diesen Handel nebenberuflich, denn sie waren Landwirte, Waldarbeiter, Arbeiter oder (in einem Falle) Schumacher.
Die Wershofener Eierkrämer waren Jakob Hilger, kurz »Hillije« genannt, Franz Weber mit dem Beinamen »Eierfränzche«, Wilhelm Weingarz, »Köetz Weilern« und Jakob Nett, »Heijne Jakob« mit Namen.
Im benachbarten Ohlenhard hieß der Eierkrämer Josef Schmitz, er hatte den Spitznamen »Landsmann« und stammte aus Wershofen. Der Eierkrämer unserer Familie war Wilhelm Weingarz, »Köetz Weilern« oder »Wengett« genannt. Von ihm habe ich in den letzten Jahren Einzelheiten über die früheren Verhältnisse erfahren. Seine Angaben liegen diesem Rückblick im wesentlichen zugrunde. Wilhelm Weingarz entstammte einer kinderreichen Familie. Sein Vater war Zimmermann und bewirtschaftete einen landwirtschaftlichen Betrieb. Die Kinder mußten schön in jungen Jahren mit anfassen und in Haus und Hof, auf dem Felde und im Walde bei der Arbeit helfen. Der junge Weingarz unterstützte den Vater beim Behauen der Baumstämme, die zu Balken für die Errichtung von Fachwerk verarbeitet wurden. Mit einer Axt flachte er eine Seite eines Baumstammes ab. Sein Vater ging dann mit dem Zimmermannsbeil hinterher und vergrößerte die abgeflachte Seite. Nach und nach wurden so alle Seiten des Stammes abgekandet, sodaß ein behauener Balken entstand. Die Balken wurden in der Nähe einer Baustelle von dem Zimmermann Weingarz, seinem Vater, zu Fachwerk verarbeitet. Wenn dicke Balken geteilt werden sollten, bediente man sich dazu eines Gerüstes und spezieller Handsägen. Nachdem der Balken auf das Gerüst gelegt worden war, sägte man ihn in der Mitte durch. Bei dieser Arbeit standen Säger auf und unter dem Gerüst. Es war eine mühselige und langwierige Arbeit, bei der sich die Säger abwechselten. (In Rußland wurde diese Sägemethode noch im zweiten Weltkrieg angewandt). Wilhelm Weingarz kann sich noch gut daran erinnern, daß er in seiner Jugend mit anderen Wershofenern bis nach Falkenberg zur Waldarbeit gegangen ist. Der Hin- und Rückweg beanspruchte zwei Stunden. Die Arbeitszeit betrug zehn Stunden. Hinzu kamen zwei Pausen von je einer halben Stunde und eine Mittagspause von einer Stunde. Die jungen Leute waren täglich vierzehn Stunden unterwegs. Für diesen Zeit- und Arbeitsaufwand zahlte man damals je Arbeitsstunde 18 Pfennige. Das ergab einen Tageslohn von einer Mark und 80 Pfennig. Vergleicht man diesen Tagesverdienst mit dem damaligen Butterpreis, der 1 Mark bzw. 90 Pfennig betrug, mußte man für etwa zwei Pfund Butter 14 Stunden unterwegs sein bzw. arbeiten. Der größte Teil der Bevölkerung konnte jedoch nicht daran denken Butter zu kaufen, im Gegenteil, die im kleinbäuerlichen Betrieb erzeugte Butter wurde verkauft. Stattdessen strich man Margarine, Schmalz oder Marmelade aufs Brot. So wurde mir aus anderer Quelle berichtet, daß manche Frau vormittags noch nicht wußte, woher sie die Pfennige nehmen sollte, um das Salz zu bezahlen, das sie zum Salzen der Kartoffeln brauchte. In diesen Fällen wurde eilends ein Hühnerei aus dem Nest geholt und beim Krämer gegen Salz eingetauscht. Zeitweise war Wilhelm Weingarz auch in den Braunkohlengruben in der Nähe von Köln beschäftigt, auf der »Klüttekuhl«, wie man das auf dem Dorfe nannte. Er half auch beim Bau von Überlandleitungen für die Stromversorgung. Nach dem ersten Weltkrieg mußten sich die Menschen auch in der Eifel den neuen Verhältnissen anpassen. Es gab kaum Arbeit, und die Inflation zehrte die geringen Einnahmen fast auf. Mancher arbeitete für die Kost und ein Taschengeld. In dieser Situation bot sich der Schmuggel aus dem benachbarten Ausland als eine Einnahmequelle an. Gegen Tabak, Zigaretten, Kaffee und andere Waren, an denen damals großer Mangel herrschte, konnte man Nahrungsmittel eintauschen und dafür wiederum andere begehrte Waren einhandeln oder sie teuer verkaufen.
Mit dem Ende der Inflation änderte sich die Lage auf dem schwarzen Markt. Die Zeit des Tauschhandels war vorbei. Aus diesem Grunde suchte und fand man neue Möglichkeiten, landwirtschaftliche Produkte abzusetzen. Auf dem Lande selbst bestand keine Nachfrage danach. Deshalb versuchten einige ihr Glück in der Stadt. Die Wershofener bevorzugten die Stadt Bonn. Kleinere Städte waren von Händlern aus dem Umland überschwemmt, und es bestand ein gewisser Umfang von Selbstversorgung.
Jeder, der das Geschäft betrieb, wurde bald Eierkrämer genannt. Er suchte sich städtische Kundschaft, die frische Ware vom Lande einkaufen wollte. Es gab Kunden, denen man es nie recht machen konnte. Sie hatten häufig an der Ware etwas auszusetzen, und die Eierkrämer mußten sich wohl oder übel auf dieses Verhalten einstellen. Die Butter wurde nachgeknetet, denn nicht jede Anlieferung entsprach den Anforderungen kritischer Käufer. Das Nachkneten verursachte zusätzliche Arbeit und brachte Gewichtsverluste. Im Sommer bereitete die Kühlung der Butter Schwierigkeiten. Die angelieferte Butter war in dieser Jahreszeit durch die Fütterung und die hohen Temperaturen sehr weich. Deshalb wurde sie nach dem Herrichten im Keller auf den Steinfußboden gelegt, damit sie fest wurde. Durch die erwähnten Umstände bedingt, waren die Vorgenannten zu Eierkrämern geworden und hatten ihr Gewerbe bei der Behörde angemeldet. Dennoch wurde die städtische Konkurrenz bald bei der Polizei vorstellig und meldete, daß die Eierkrämer ungestempelte und nicht klassifizierte Eier verkauften. Diese Angaben entsprachen den Tatsachen, denn bis zu diesem Zeitpunkt waren alle Eier unsortiert zum gleichen Preis verkauft worden. Eine Sortieranlage wurde erst später angeschafft. Die Eierkrämer wurden festgenommen und kamen in Einzelhaft. Zur Begründung hieß es, sie hätten keine Bestandsliste geführt und könnten deshalb nicht überprüft werden. Nach eingehender Belehrung und Ermahnung wurden sie dann entlassen.
Umgehend beschafften sich die Ermahnten dann Notizbücher, um den Vorschriften entsprechend Buch zu führen. Die Eierkrämer kauften die landwirtschaftlichen Produkte nicht nur in Wershofen und Ohlen-hard. Zum Einkaufsbereich gehörten auch Dörfer aus dem »Jülsch«, Lindweiler und Lommersdorf, aber auch Winnerath und andere Orte des Umlandes.
Bei den Einkaufsfahrten hatten die Eierkrämer eine Butterkiste auf dem Rücken und darauf einen Eierkorb. Die Butterkiste faßte etwa einen Zentner Butter. In den Eierkorb gingen 500 bis 600 Eier. Manchmal waren 1 1/2 Zentner an Butter bzw. Eiern oder Geflügel zu transportieren. Sie wurden, wo es möglich war, mit dem Fahrrad, sonst zu Fuß bis nach Wershofen gebracht. Dort begann dann mit Hilfe der Frau des Händlers das Sortieren der Eier, das Nachkneten der Butter und das Verpacken der Ware. Das dauerte bis spät in die Nacht. Bevor die Eierkrämer mit einem Lastkraftwagen, einem Brennabor, den der Gastwirt Adolf Pfahl kaufte, nach Bonn fuhren, wurde die Reise dorthin mit der Bahn unternommen. Zur Bahnstation in Fuchshofen waren sechs Kilometer zurückzulegen. Wenn in der Frühe kein Zug von Fuchshofen fuhr, marschierte man mit den Lasten sogar bis zum Bahnhof in Dümpel-feld. Mit Hilfe von Traghölzern trugen die Männer die Lebensmittel über den Distrikt Kotten-born nach Schuld und von dort zum Bahnhof Dümpelfeld.
Neben seiner privaten Abnehmerschaft kam Wilhelm Weingarz auch mit einem Kloster ins Geschäft, und das kam so zustande. Zusammen mit Pater Marianus Müller, Professor und Doktor der Theologie, nach dem eine Straße in Wershofen benannt ist, war er in seiner Jugend Meßdiener gewesen. Dieser Pater war anwesend, als er in einem Kloster Abnehmer für Ware suchte und auf dessen Vermittlung hin war die Oberin bereit, Eier zu kaufen. So bahnte sich eine Geschäftsverbindung an, die viele Jahre bestand.
Eine Kehrseite des Geschäftes waren die Überstände, die nicht verkaufte Ware. Man wollte und konnte sie nicht wieder nach Hause bringen. Dort gab es keine Käufer dafür. Deshalb ging man wohl oder übel zur Konkurrenz, um die Restbestände zu verkaufen. Die Ladenbesitzer bezahlten nur den Einkaufspreis und manchmal weniger dafür. Besonders in der Zeit vor Weihnachten waren die Käufer in der Stadt zurückhaltend beim Kauf von Lebensmitteln. Das Haushaltsgeld wurde für den Einkauf von Geschenken benötigt. War der Verkauf beendet, wurden die Aufträge der Dorfbevölkerung erledigt. Die bestellten Kleinigkeiten wurden eingekauft, und dann ging es nach einem langen, anstrengenden Tag zurück ins Heimatdorf. Im Leben des Eierkrämers Wilhelm Weingarz spielten aber auch noch andere Dinge eine Rolle, auf die er immer wieder bei seiner Rückschau zu sprechen kam. Besonders angetan hatte es ihm der Fahrradclub, der nach dem ersten Weltkrieg gegründet wurde. Weil es überall an Geld fehlte, mußten gewöhnliche Fahrräder angeschafft werden, mit denen die Wershofener Radfahrer dann ins Rennen gingen. Ehrgeiz und persönlicher Einsatz bis zur Erschöpfung mußten daher häufig wettmachen, was den Rädern an Qualität und Finessen fehlte. Trotz allem traten die Rennfahrer mit großem Erfolg auch gegen städtische Radfahrer an.
Die Veranstalter von Straßenrennen waren damals verpflichtet, vor den Radfahrern einen Personenkraftwagen fahren zu lassen. Da den Wershofenern das Geld dafür fehlte, fanden sie in dem damaligen Jagdpächter Oppenheimer einen großzügigen Sponsor. Oppenheimer beauftragte seinen Chauffeur mit seinem »May-bach« die Aufgabe des Vorreiters zu übernehmen. Außerdem stiftete er Preise für die Sieger. Ein Foto zeigt einige Beteiligte an dem Straßenrennen Ahrweiler-Blankenheim-Ahrweiler, das von Josef Mechlinksi aus Antweiler gewonnen wurde. Rechts neben dem Sieger Wilhelm Weingarz und Josef Hilger aus Wershofen.
Wilhelm Weingarz als Radrennfahrer: Bei der Siegerehrung (3. v. r.) nach dem Rennen Ahrweiler-Blankenheim-Ahrweiler
Die Wershofener Laienspieler auf der Bühne (1914)
Neben der Begeisterung für das Radfahren war der Eierkrämer ein Anhänger des damaligen Theatervereins, dessen Tradition bis heute mit großem Erfolg fortgeführt wird. Im Saale Pfahl war die Theaterbühne eingerichtet. Das Repertoir umfaßte in der Regel ein ernstes Theaterstück und einen Schwank. Als Generalprobe diente die Kindervorstellung am Nachmittag des zweiten Weihnachtstages, dem sogenannten Stefanstag. Am Abend des gleichen Tages war die Vorstellung für die Erwachsenen. Viele Zuschauer kamen auch aus den Nachbardörfern, und in einigen Fällen gab man in Nachbardörfern eine Gastvorstellung.
Wie sich W. Weingarz erinnert, war »Der Fremdenlegionär« das eindrucksvollste Theaterstück, das in Wershofen aufgeführt wurde. Die Zuschauer wurden bei der Aufführung zu Tränen gerührt.
Mit der Milcherfassung durch Molkereien, der Bewirtschaftung der Lebensmittel in den dreißiger Jahren, endete die Tätigkeit der Eierkrämer.
Nach dem zweiten Weltkrieg gab es Parallelen zur Entwicklung des Tauschhandels in den zwanziger Jahren und der ein oder andere hat daraus ein ambulantes Gewerbe entwickelt.