Abbate Giorgi de Berlòla in Oberwinter
VON HERMANN BAUER
Das waren mal wieder Stunden, die das Leben so köstlich und lebenswert machen. Ich saß im Kreise meiner Freunde, als plötzlich der Name Bertölas die Geister bewegte und die Zunge löste. Mit diesem Namen war ein neuer Freund in unseren Kreis getreten, der mir bis zu diesem Augenblick völlig unbekannt gewesen war. Wo lag die Ursache, daß Bertöla auf einmal bei uns auftauchte?
Zwei Dinge — Zufall oder Fügung — lagen zeitlich so fühlbar nahe, und wie beim Blitz löste sich auch hier die Spannung.
Der Kreisarchivar Rektor i. R. J. Rausch stieß bei seinen heimatkundlichen Studien im „Rheinischer Antiquarius 1862, Coblenz“ auf S. 391—394 auf einen italienischen Text, der mit folgendem deutschen Satz eingeleitet wird: „Bertöla spricht mit Entzücken von Oberwinter, ihm zufolge der schönste Punkt am Rhein.“
Zwei Tage lag nun jenes Buch bei mir, stumm, wie alle Bücher, die von den Menschen nicht angesprochen werden. Dann trat es in unseren Kreis. Und mit ihm der Name Bertöla. Über diesen „feinsinnigen Deuter der Rheinlandschaft“ erschien in den „Rheinischen Vierteljahresblättern“ 14. Jahrg. 1949 S. 190 ff. ein Aufsatz: Der ,Viaggio sul Reno‘ des Abbate de Giorgi de Bertòla (1787). Ein Beitrag zur rheinischen Kulturgeschichte des ausgehenden 18. Jahrhunderts von Bernhard Josef Kreuzberg, Oberstudiendirektor in Mayen.
Nun war der Verfasser dieses Aufsatzes gerade mein Gast, wir sprachen das Buch an und beschworen den Geist Bertölas, der an diesem großartigen Tag die Runde der Freunde beherrschte.
Was am Schluß dieser Arbeit über den Menschen Bertòla und sein Schaffen gesagt wird, verdanke ich ausnahmslos der Abhandlung von B. J. Kreuzberg. Ich spare mir dabei, jedesmal auf die Quelle besonders hinzuweisen. Übersetzungshilfe fand ich in der deutschen Übertragung eines anonymen Verfassers aus dem Jahre 1796 mit dem Titel: „Malerische Rheinreise von Speyer bis Düsseldorf aus dem Italienischen des Abbate de Bertòla“. Die Übersetzung hat viele Einzelheiten ausgelassen, doch manche Stellen habe ich dort gefunden, die mir im Text nicht vorlagen. Diese sind innerhalb der eigenen Übersetzung mit besonderer Kennzeichnung aufgeführt. Besonderen Dank schulde ich meinem Freunde Josef Savelsberg, Pfarrer in Heimersheim an der Ahr, der nach der Übersetzung die ganze Arbeit besonders daraufhin prüfte, ob auch unverfälscht die Meinung des italienischen Schriftstellers zum Ausdruck komme, so daß die Übersetzung in zeltgemäßem Deutsch nicht auf Kosten des Originaltextes geht. Bei dieser Gelegenheit fand eine besonders schwierige Stelle erst Form und Gestalt.
Das dem Archiv von Lorenz Arenz, Oberwinter, entnommene Bild zeigt jene Landschaft, die von den Augen des Italieners geschaut und die in einem besonderen Brief seines Rheinbuches eine so einzigartige Deutung fand.
Oberwinter
(Aus dem Italienischen übertragen)
Schön liegt Oberwinter, wenn man den Ort vom Rheine aus sieht. Entzückend jedoch ist das Bild, das sich dem Wanderer bietet, der es vom Ufer aus betrachtet. Der Ort gehört zum Herzogtum Jülich und ist von Katholiken und Calvinisten bewohnt. In wenigen Ländern habe ich eine so ausgesuchte Höflichkeit und so freundliche Menschen angetroffen wie hier. Der Ort wird von Fremden häufig aufgesucht und Menschen jeglichen Standes pflegen hier zu verweilen. Der Unkelstein lockt (montagna de‘ basalti) wie auch die höheren Berge des gegenüberliegenden Ufers. Diese gefälligen und aufgeschlossenen Menschen scheinen weder Habsucht noch Betrug zu kennen. Sie fühlen sich verwachsen mit dem Fluß, den Bergen und Hügeln.
Ich kenne die gepflegte Heiterkeit von Bingen, ich weiß um den süßen Schmerz (giocondo patetico) von St. Goar, ich war ergriffen von der vielgestaltigen romantischen Landschaft um Linz, |edoch, ich würde mich für Oberwinter entscheiden, wenn ich mir einen Ort am Rheine aussuchen sollte, um dort den Rest meiner Tage zu verbringen. Hier hat sich die Blüte jener drei Reize zu einer einzigartigen harmonischen Schönheit vereinigt. O könnte ich doch diese Hügel, diese Berge und diesen Strom malen und verstünde ich, diesem Bilde etwas einzuhauchen von dem Leben und dem anmutigen Geist, um zu offenbaren, was ich damals empfand, als ich diese Luft atmete. Nur einen Schmerz, einen grausamen fühlte ich hier mehr als anderswo, daß ich inmitten der Hochstimmung mich keinem meiner Gefährten offenbaren konnte: Bewundere Freund, fühle mit mir und genieße! Wenn eine Landschaft melancholische Züge hat, ist das Bedürfnis groß, allein zu sein. Denn die Empfindungen, welche von ihr ausgehen, drängen unsere Ideen nach innen, bereichern unsre Gestaltungskraft und machen unser Herz ruhig, stille und mild.
Aber in einer so lachenden Gegend wie hier schlägt unser Herz schneller, werden alle Lebensgeister wach, drängen unsere Ideen ungeduldig nach außen, brechen unsre Wünsche mit ungestümer Gewalt hervor, und eine unwiderstehliche Sehnsucht erfaßt uns, mit Macht Gemeinschaft zu suchen, um eine Brücke zu bauen von unseren eigenen Empfindungen zu denen der ändern.
Im Großen geschaut ist dieser Horizont unvergleichlich. Auf dem anderen Ufer erhebt sich ein malerisches Vorgebirge von sieben Bergen. Vor diesen liegen, dem Auge näher gerückt, Erhebungen, die dichtbewaldet sind, aber doch genügend Kahlstellen zeigen, um helles Licht einfließen zu lassen. Dann wieder zeigen sich Gipfel, die wie gedrehte Spiralen sich winden, und wie Säulen einer eignen Kunstrichtung erscheinen (un nuovo genere di volute). Ich habe auch Berge dort gesehen, die mit dichten Tannen bewachsen sind und aussehen, als ob sie einen Helm trügen, der mit kriegerischem Federbusch geschmückt ist. Und dann der Fluß! In unvergleichlicher Haltung durchschneidet er diese Landschaft, der er Vollendung und Glanz verleiht als Dank für die Schönheit, die er selbst von ihr empfängt. Die entfernt gelegenen Gipfel sind von ersonnenem Reiz. In näherer Sicht bewegen sich die Erhebungen wellenförmig, liegen verstreut in geheimnisvoller Färbung und verlieren sich dann im matten Dunst. Und wo die Bilder am stärksten auf uns einstürmen, da schweigt das Wort. Immer harmonischer schließt sich der Kreis der Berge und des dichten Gehölzes, schließlich steht man mitten im Kreis der Hügel voll zarter und leuchtender Farben, hier wohnen die Menschen in den sonnigsten Gegenden, hier sind sie ganz eins mit dem Strom.
Foto : L. Lorenz, Archiv
Was nun die Landschaft von Oberwinter angeht, so zeigt sich hier der Rhein wie ein leuchtender See, dessen Ufer ganz bewachsen erscheinen. Es steigt in anmutiger Weise empor, schützt das Tal vor heftigen und kalten Winden und wendet sich gegen die Reihe von Hügeln, die sich mit solcher Lieblichkeit aneinanderschmiegen, daß man meinen könnte, einmal einen einzigen, dann wieder viele zu sehen. So mag es erscheinen, daß wie aus der Gegensätzlichkeit die Spitze des einen doch im Einklang mit dem Kamm des ersten steht. So ist man versucht zu glauben, daß beide Gipfel in einem wahren Wetteifer sich jener ganzen Hügelkette zuwenden, der eine mit dem Gesicht zu den großen Bergen, der andere hin zum Strom. Wahrhaftig, das Bild eines tiefbewegten Lebens. In reicher Verschwendung liegen an den Hängen die Weingärten, gleich als ob sie einen Ort sich gesucht hätten, um scherzhaft die mannigfaltige Grünfärbung zu betonen, die sie in Gemeinschaft mit den verschiedenen Blättern der Bäume hervorrufen. In den Tälern herrscht eine Zartheit, eine Milde und eine frische
Fröhlichkeit, die sich wie Balsam in die Seele schleicht, Fruchtbäume, die in kleineren und größeren Gruppen die Landschaft beleben, kleiden sich in wogendem Gefalle mit satten Farben. In den weiten Tälern wechseln Wiesen und Felder mit jener glücklichen Lust an der Planlosigkeit, die ihre Wurzel in der Ordnung hat. So fruchtbar ist diese Gegend, daß auch der ihre segensreiche Wirkung verspürt, der mit dem Landleben innerlich weniger verwachsen ist. Es war gerade jene Zeit der Traubenreife, die wie ein Jungbrunnen die Menschen dieses Ortes zu beleben verstand. Verliebt ist man in diese Gegend durch die reichhaltige Mannigfaltigkeit, die gleichzeitig wie eine Einheit wirkt. Bis zum Glückserleben steigert sich unsere Seele, wenn in der Schönheit, die augenscheinlich hier herrscht, auch das Nützliche mit eingeschlossen ist. Es gibt Gegenden, die zum Beschauen und zum Verweilen reizen. Hier ist eine solche.
1„Es gibt ländliche Gemälde von der Hand der Maler und Dichter, die uns einen Augenblick bezaubern, aber nicht alles, was der Einbildungskraft schmeichelt, ist für das Leben genug.
1) Wörtliche Stelle — Anfang und Ende des unbekannten Übersetzers. Im Originaltext des rheinischen Antiquarius nicht aufgeführt.
Um zufrieden zu sein, bedarf es noch mehr als kühle Schatten und frische Quellen. So möchte manchem das interessante Gemälde Virgils mehr zu versprechen scheinen, wiewohl es doch etwas mehr verspricht:
Hier sind kühle Gewässer, und weiche
Wiesen Likons,
Hier ein Gebüsch, hier macht ich mit
dir mein Leben beschließen.
Oder an einer anderen Stelle:
Hier hat der glänzende Frühling,
Hier hat die gütige Erde,
Bunte Blumen gestreut, die schimmernde
Pappel beschattet,
Hier die Grotte, hier bilden die Reben
ein schattiges Obdach. —
Aber dieser Wald gewährt mehr als Schatten, und der Sammet dieser Wiesen ladet nicht nur zur Ruhe ein, sondern nährt zahlreiche Herden, und verschafft dem Landmann durch sie einen bequemen Unterhalt. So erwecken auch diese Weinberge, außer dem unfruchtbaren Genuß der Beschauung, noch andere Ideen. Das sind die Bilder, die in der Natur und in der Darstellung das Gemüt am längsten beschäftigen, und zu den reizendsten Planen eines dauerhaften Glückes führen, während so viele andere Bilder der Anmut nur die Oberfläche des Herzens zu streifen scheinen. Vielleicht sollten die Maler und Dichter etwas mehr hierauf merken. Wir brachten den größten Teil des Tages mit Spazierengehen zu und verweilten oft in den lichtesten und heitersten Gegenden. Den Besuch bei den Basaltbergen schoben wir bis zum folgenden Morgen auf.“1)
Daß man bis jetzt so wenig von Oberwinter hörte kann man nur dann verstehen, wenn man annimmt, daß sich die Reisenden nicht lange genug hier aufgehalten haiben. Vielleicht sind sie auch dem Ort bei ungünstigem Licht begegnet. Wir hatten jedenfalls hier einen der leuchtendsten, schönsten und gefälligsten Tage des italienischen Herbstes. Niemals hätte mich bei dem Erlebnis einer solchen Jahreszeit jemand überreden können, daß den Vorfahren, die unter dem gleichen Himmel geboren sind, sogar der Name dieser Jahreszeit unbekannt gewesen wäre2).
*
Soweit das Loblied Bertölas auf Oberwinter. Wer war nun der Sänger unserer Heimat?
Aurelio de Giorgi Bertöla, Mönch, Soldat, galanter Abbe, Gelehrter, Schriftsteller, Dichter und reiselustiger Forscher wurde 1753 in Rimini an der Adria geboren, wo er auch 1798 starb. Er war eine reizvolle Persönlichkeit des europäisch-italienischen Geisteslebens, und seine vielseitigen Interessen erstreckten sich auf Philosophie und Dichtung, Geologie und Geographie, Geschichte, Volkswirtschaft und Völkerkunde. Er schrieb eine Reihe von Büchern, die entscheidend für die Aufnahme und Verbreitung deutscher Dichtung in Italien wirkten. 1783 erhielt er einen Lehrstuhl in Pavia. 1787 machte Bertöla seine Rheinfahrt, bei der er wahrscheinlich von geistesverwandten Freunden begleitet war. Die Briefe, die er teilweise während der Fahrt an einen Freund schrieb, sind nach ihrer Veröffentlichung der Marchesa Orin-tina Sacrati gewidmet. 1942, mitten im 2. Weltkriege, erschien eine Neuauflage des Rheinbuches in Florenz. Mögen wir alle mit den Augen Bertölas schauend, auch die Liebe zu unserer Heimat in uns trinken!
2)Vergl. Tazltus: Germania: Autumni nomen ac bona ignorantur. Name und Früchte des Herbstes waren ihnen unbekannt.